Nach dem gestrigen Urteil des baden-württembergischen Verfassungsgerichtshof zum Landeshochschulgesetz ist eine Debatte entbrannt. Was genau haben die Richter denn nun beschlossen? Wie steht es
um die Übertragbarkeit auf andere Bundesländer? Wie spektakulär ist das Urteil wirklich? Und weißt eigentlich "spektakulär"?
Aus dem Wissenschaftsministerium von Theresia Bauer (Grüne) heißt es, man prüfe Wortlaut und Auswirkungen des Urteils. Gestern hatte Bauer zu Protokoll gegeben, das Urteil "atmet den Geist der
60er Jahre" und gehe über die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVG) deutlich hinaus. Mit der bisherigen Rechtsprechung ist vor allem das legendäre BVG-Urteil von 1973 zur
Professorenmehrheit gemeint. Ein zentraler Satz daraus: Bei Entscheidungen, die unmittelbar Fragen der Forschung oder die Berufung der Hochschullehrer betreffen, muss der Gruppe der
Hochschullehrer ein weitergehender, ausschlaggebender Einfluss vorbehalten bleiben, also mindestens 51 Prozent der Stimmen.
Wie 1973 beriefen sich die Richter an Baden-Württembergs Verfassungsgerichtshof auch gestern auf die im Grundgesetz-Artikel 5 garantierte Wissenschaftsfreiheit und befanden, die im Landeshochschulgesetz festgeschriebenen Regelungen zu Wahl und Abwahl von Rektoratsmitgliedern seien nicht mit der Verfassung vereinbar. Derzeit wählen Senat und Hochschulrat die hauptamtlichen Rektoratsmitglieder in gemeinsamer Sitzung, die Abwahl geht nur im Zusammenspiel von Senat, Hochschulrat und Ministerium. Ähnliche Regelungen gelten in vielen Bundesländern. Die Richter befanden nun: Die aktuelle Governance unterlaufe faktisch das Urteil von 1973, weil viele der Entscheidungen, die früher im Senat getroffen wurden, nun auf Rektorate oder den Hochschulrat ausgelagert worden seien – in denen naturgemäß die gewählten Professorenvertreter keine Stimmen hätten. Wenn dies aber nun so sei (und die Richter fordern es gar nicht zwangsläufig anders), müsse der Mehrheitseinfluss der Professoren auf die "wissenschaftsrelevanten Geschicke" der Hochschulen (und das umfasse auch organisatorische Rahmenbedingungen) zumindest auf anderer Ebene umfassend gesichert werden: bei der Wahl und Abwahl der Rektorate selbst. Und zwar indem der Senat insgesamt eine zentrale Rolle spiele und in beiden Fällen eine Vetorecht habe und außerdem die Abberufung von Rektoratsmitgliedern sogar allein und im Extremfall gegen Hochschulrat und Ministerium betreiben könne.
Bis zu diesem Punkt gilt also: Die Stuttgarter Richter haben das Urteil von 1973 gestern trotz veränderter Bedingungen an den Hochschulen eindrucksvoll bestätigt. Also "nichts Neues", wie einige Kommentaren sagen? Ich
bin da anderer Auffassung: Die Konsequenz, in der die Richter das tun, indem sie die 1973-Logik in die heutige Zeit übersetzen, ist erstaunlich und folgenreich. Sie bedeutet, dass
auch die Wissenschaftsministerien in anderen Ländern jetzt dringend nachschauen sollten, ob a) das Zusammenspiel von Senat und Hochschulrat bei der Wahl tatsächlich gleichberechtigt ist und
ob b) der Senat allein Rektorate abberufen kann.
Und es geht noch weiter: Die Richter sprechen immerzu von den "gewählten Vertretern der Hochschullehrer". Sprich: Professor ist nicht gleich Professor. Den Senat etwa mit Funktionsträgern qua Amt
(Dekane etc.) zu besetzen und damit eine Professorenmehrheit herstellen zu wollen, gilt nicht: Für die Mehrheit zählen nur die direkt für diese Funktion in den Senat gewählten Professoren bzw.
deren Stimmrechte (die auch überproportional sein können). Und hier kommt es zum spektakulären Machtgewinn für nur eine unter den Statusgruppen: Allein die Stimmen der gewählten
Professorenvertreter im Senat reichen für die Abwahl von Rektoratsmitgliedern. Nehmen wir eine typische Universität im Südwesten die, wenn ich auf ihrer Website richtig zähle, 38
grundsätzlich stimmberechtigte Senatsmitglieder hat. Davon allein 18 qua Amt als Rektoratsmitglieder oder Dekane etwa, zudem gewählte Studierenden- und Mitarbeitervertreter. Und lediglich
acht gewählte Hochschullehrer. Künftig werden die Stimmen dieser acht ausreichen, um einen Rektor oder eine Rektorin abzuberufen.
Auch da kann man sagen: Ist doch logisch, ist doch alles Folge des 1973er Urteils und der eben dargestellten Auslegung. Ich aber halte das in seiner Folge für spektakulär, weil es das alltägliche
Machtgefüge an den Hochschulen empfindlich verändern wird. Wie ich schon gestern schrieb:
Rektorate, die nicht amtsmüde sind, werden zwangsläufig darauf schielen müssen, die gewählten Professorenvertreter nicht zu sehr zu ärgern. Bei Hochschullehrern unpopuläre Entscheidungen, wer
soll sie jetzt noch durchziehen? Die Rektorate kaum, wenn auch das Ministerium, der Hochschulrat oder auch die übrigen Senatsmitglieder ihnen keine Rückendeckung mehr geben können. Und ist es
wirklich noch zeitgemäß, die Profs auf Kosten der anderen wissenschaftlichen Mitarbeiter so einseitig zu bevorzugen, wenn doch gerade die von allen geforderte Neuausrichtung der
Personalstrukturen an den Hochschulen zu Interessenkonflikten der Professoren mit allen anderen Statusgruppen führen könnte?
Um bei dem Beispiel-Senat zu bleiben: Die neue (und ja, mit Blick auf 1973 ganz alte) Machtelite an den Hochschulen im Südwesten (und bald auch anderswo?) sind nicht die sechs
Rektoratsmitglieder, nicht die elf Dekane. Nicht die acht Mitarbeitervertreter, nicht die vier Studierendenvertreter. Es sind die acht Hochschullehrer.
Eine Frage noch zum Schluss. Die Richter schreiben in ihrem gestrigen Urteil: "Hinsichtlich der Wahl der Mitglieder eines Leitungsorgans ist ein hinreichendes Mitwirkungsniveau gewährleistet,
wenn ein Selbstverwaltungsgremium mit der Stimmenmehrheit der gewählten Vertreter der Hochschullehrer die Wahl eines Mitglieds, das das Vertrauen dieser Gruppe nicht genießt, verhindern kann."
Heißt das, dass a) die gewählten Professoren als Ganzes in der Stimmenmehrheit sein müssen, um die Wahl zu verhindern? Oder muss b) sogar unter den gewählten Professoren, die die Stimmenmehrheit
im Senat haben, nur noch deren Mehrheit gegen die Wahl (oder umgekehrt für die Abwahl) votieren? Hier sind wir im Bereich der juristischen Feinschmeckerei angelangt. Die Mehrheit der
Kommentatoren gestern und heute ist der Auffassung, dass a) richtig ist, weil es im Sinne von 1973 wäre. Ich bin mir nicht sicher. Das Stuttgarter Wissenschaftsministerium hat mir versprochen,
die Frage zu prüfen und mir schnellstmöglich eine Rückmeldung zu geben. Theresia Bauers Mitarbeiter müssen es auch erstmal genau verstehen, dieses Juristendeutsch.
PS: Heute Morgen hat übrigens der Deutsche Hochschulverband (DHV) seine Mitglieder zur Wahl des "Präsidenten/Rektors des Jahres" aufgerufen. Aus dem Aufruf: "Verfügen die Rektoren oder
Präsidenten über Führungskompetenz? Wie ist es um ihre Kommunikationsfähigkeit bestellt?" Eines steht fest: Nach gestern werden sie beides dringender denn je brauchen, damit sie das, was der DHV
auch gern sehen möchte, nämlich "visionäre Kraft und Mut zu Entscheidungen", weiter leisten können.
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H. Gossen (Dienstag, 15 November 2016 20:29)
Nun sollte man vielleicht nicht verkennen, dass das Rektorat im Rahmen der W-Besoldung auch ganz wesentlichen Einfluss auf die Gehaltsentwicklung der Professoren hat. Wie frei können unter dieser Bedingung eigentlich noch die Diskussionen und (i.d.R. nichtgeheime) Abstimmungen im Senat sein? Man überlege einmal, was in unseren Parlamenten los wäre, wenn die Regierung das Gehalt aller Abgeordneten (inkl. Opposition) festlegen würde? Könnte recht schnell recht langweilig werden. Es liegt noch mehr im Argen, als mit diesem Urteil gerichtet wurde.
Verblüffend auch die Aggresivität mit der die Frau Hochschulministerin (Exekutive) das höchste Gericht (Judikative) angreift. Ein sehr merkwürdiges Verständnis von Gewaltenteilung. Liegt das am Zeitgeist?
Horst Henrici (Mittwoch, 16 November 2016 15:50)
"...wenn ein Selbstverwaltungsgremium mit der Stimmenmehrheit der gewählten Vertreter der Hochschullehrer die Wahl eines Mitglieds, das das Vertrauen dieser Gruppe nicht genießt, verhindern kann."
Das ist m.E. nicht auslegungsfähig, da eindeutig: Es ist die Rede von der Stimmenmehrheit der Gewählten, also derjenigen, die von ihrer Statusgruppe Hochschullehrer in das Gremium gewählt wurden. Einer Mehrheit der Hochschullehrer insgesamt an der Einrichtung bedarf es nicht. Es wird also davon ausgegangen, dass die gewählten Hochschullehrer im Gremium ihre Statusgruppe hinreichend vertreten - als verlängerter Arm - eine idealisierte Vorstellung.
Jan-Martin Wiarda (Donnerstag, 17 November 2016 10:03)
Herzlichen Dank für diese kompetente Antwort auf meine Abschlussfrage, Herr Henrici. So wird's dann wohl sein. Eine Antwort vom baden-württembergischen Wissenschaftsministerium habe ich noch nicht.
Beste Grüße, Ihr Jan-Martin Wiarda
Jens Halfwassen (Donnerstag, 17 November 2016 22:34)
Ich lese den Satz genau so wie Herr Henrici und halte ihn ebenfalls für eindeutig. Das Urteil finde ich auch spektakulär: es bedeutet das Ende der Campus-Autokratie und (endlich!) die Rückkehr zu konstitutionellen Verhältnissen. Es laufen übrigens noch zwei weitere Verfassungsklagen gegen das LHG. Und gegen einen Akkreditierungsstaatsvertrag wird natürlich auch geklagt, wenn es denn zu einem solchen kommen sollte. Es gibt noch Richter in Stuttgart!
Hinnerk Feldwisch-Drentrup (Freitag, 18 November 2016 22:47)
Besten Dank für die Artikel!
Sehr lesenswert ist in dem Zusammenhang auch das BVerfG-Urteil von 2014, das weder in den Medien noch wohl in den Ministerien groß rezipiert wurde:
https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2014/06/rs20140624_1bvr321707.html
Die Auswirkungen des Urteils könnten groß sein - vielerorts sieht die Lage ja deutlich anders aus, als sie das Urteil eigentlich vorschreibt.
GoaCDtTd (Montag, 26 September 2022 06:29)
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