Der folgende Artikel über Sinn und Unsinn einer Anwesenheitspflicht im Studium ist auch in der heutigen Ausgabe der ZEIT erschienen. Hier ergänzt um eine Bemerkung am Ende.
Svenja Schulze schwärmte von einem »Meilenstein«. Das neue Hochschulgesetz der rot-grünen Landesregierung bringe an den Hochschulen endlich wieder Freiheit und Verantwortung ins Gleichgewicht, sagte die nordrhein-westfälische Wissenschaftsministerin im Herbst 2014. Den Rektoren war weniger zum Feiern zumute: Sie fühlten sich in ihrer Freiheit beschränkt. Ganz im Gegensatz zu den Studenten: Ihnen brachte das Gesetz eine Unabhängigkeit, die sich Kommilitonen anderswo nur wünschen können. Bis auf wenige Ausnahmen keine Anwesenheitskontrolle mehr in den Vorlesungen und Seminaren, jeder kann so oft fehlen, wie er will. Die Begründung der Ministerin: »Die Studierenden sind Erwachsene. Die können selbst entscheiden, was gut für sie ist.«
Tatsächlich? Rolf Schulmeister, Hochschulforscher an der Universität Hamburg, war von Anfang an skeptisch, als er vom Ende der Anwesenheitspflicht hörte. NRW ist nicht das einzige Bundesland, das die Studenten in die Freiheit entlassen hat. Wohl aber dasjenige, so Schulmeister, das eine »denkwürdig merkwürdige« Kombination zweier Vorschriften im neuen Hochschulgesetz verankert habe. Vorschrift eins: »Die Hochschulen sind dem Studienerfolg verpflichtet.« Vorschrift zwei: besagtes Verbot von »Anwesenheitsobliegenheiten«.
»Wie soll denn das beides zusammengehen?«, fragte sich Schulmeister. »Wie kann man jemandem den Studienerfolg garantieren, der nicht das Studienangebot wahrnimmt?« Der Ehrgeiz des Forschers war geweckt. Jetzt hat Schulmeister eine Metastudie vorgelegt, die 298 Studien zur studentischen Anwesenheit auswertet, aus 25 Ländern und sieben Jahrzehnten. Das Ergebnis: Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen der Anwesenheit der Studenten in den Lehrveranstaltungen und ihrem Studienerfolg. Konkret: Je nach Studie reichen schon drei verpasste Termine, um signifikant schlechter in Prüfungen abzuschneiden. Laut mehreren Autoren liegt die Schwelle, ab der die Leistung merklich sinkt, bei vier Abwesenheiten. Werte, die weitgehend unabhängig vom Entstehungsort oder Zeitpunkt der Studie sind.
So weit, so trivial? Die NRW-Ministerin Schulze sagt: »Erst wenn eine Studie zeigen würde, dass man Prüfungen besser bewältigt, wenn man nicht anwesend ist, würde ich ernsthaft anfangen, mir Sorgen um die Hochschulen zu machen.« Ben Seel, Vorstandsmitglied beim Studierendenverband fzs, sagt: »Ist doch klar: Wenn ich mich für den Stoff interessiere und mir ein Seminar gefällt, gehe ich hin. Und dann engagiere ich mich und bekomme gute Noten.«
Stimmt – sagt auch Hochschulforscher Schulmeister. Aber eben nicht nur: Natürlich sei die persönliche Motivation entscheidend sowohl für die Anwesenheit im Seminar als auch für das Selbststudium zu Hause und damit für den persönlichen Studienerfolg. Das zeigten fast alle einschlägigen Studien. Doch sei es ein gravierender Irrtum, daraus zu folgern, eine Erhöhung der Anwesenheitsquote mithilfe besonderer Belohnungen oder Strafen bringe nichts, weil die Motivation zur Anwesenheit ja dann nicht aus den Studenten selbst heraus komme. Schulmeister spricht von einer »besseren Lehrorganisation«. Man könnte es auch Kontrolle und Zwang nennen. »Das trägt zusätzlich zum Lernerfolg bei.«
Schulmeister hat noch mehr herausgefunden: Ältere Studenten kommen regelmäßiger in die Veranstaltungen, und je schwieriger die Kurse werden, desto wichtiger ist die Anwesenheit für die Note. Desto häufiger fehlen allerdings auch die leistungsschwächeren Studenten. »Der Umkehrschluss ist eindeutig«, sagt Schulmeister. »Es sind gerade die leistungsschwächeren und die jüngeren Studenten, denen eine Teilnahmepflicht hilft. Und die durch den Rost fallen, wenn man die Pflicht aufhebt.«
Svenja Schulze sieht dennoch keinen Grund, noch mal an das Gesetz zu gehen. »Eine Anwesenheitspflicht mag in Zeiten von Hochschulen 1.0 Sinn ergeben haben, in Zeiten von Hochschulen 4.0 und großer Vielfalt unter den Studierenden aber nicht mehr«, sagt die Ministerin. »Die Studierenden sind Digital Natives, die kein Problem damit haben, sich ihre Vorlesung auch mal aus dem Netz zu ziehen.« Da noch über eine Anwesenheitspflicht zu diskutieren, das werde der heutigen Lernpraxis nicht mehr gerecht. Außerdem sei die Aussagekraft der Metastudie doch anzuzweifeln: »Der Autor zieht 298 Studien heran und sagt dann selbst, dass für Deutschland nur eine einzige einschlägig ist.« Ben Seel vom fzs geht in seiner Kritik an Schulmeister noch weiter: »Unterstützung als Zwang? Motivation durch Konditionierung und Belohnung? Da scheint eine Sichtweise von Bildung durch, die ich nicht teile.«
Unterstützung bekommt Schulmeister von dem angesehenen Osnabrücker Persönlichkeitspsychologen Julius Kuhl. Die Metastudie sei sorgfältig zusammengestellt, die Belege sprächen für sich. »Das, was in Nordrhein-Westfalen und anderswo geschieht, beruht auf einem völligen Missverständnis von Selbstbestimmung und überfordert 90 Prozent der Studenten.« Ein freies, urteilsstarkes Selbst habe man nicht einfach, das könne sich nur entwickeln, wenn man auf dem Weg dahin eine angemessene Förderung und Struktur bekomme.
Die Wissenschaftspolitik in NRW ist derweil auf anderen Baustellen unterwegs. In den ersten Monaten nach der Gesetzesänderung haben sich Studenten von Köln bis Münster über Tricksereien ihrer Dozenten beschwert. So gebe es weiterhin Strichlisten, Vorlesungen würden zu praktischen Übungen und Seminare zu Sprachkursen umdeklariert, weil bei denen die Anwesenheit weiter kontrolliert werden darf. An der Ruhr-Uni Bochum kann man auf einer Website des Asta angeben, wenn ein Professor doch die Anwesenheit fordert. Ministerin Schulze verspricht, genau hinzuschauen. »Und wenn da was fadenscheinig ist, dann akzeptieren wir das nicht.«
Nachtrag:
Schulze und Seel wenden sich gegen eine Wiedereinführung der Anwesenheitspflicht als Konsequenz aus Schulmeisters Meta-Studie. Dabei sagt der Forscher selbst in seiner Arbeit, eine Pflicht sei möglicherweise gar nicht nötig, um Abhilfe zu schaffen. Zitat:
"Da die meisten Studien einen negativen Zusammenhang von Abwesenheit und schlechten Leistungen belegen, könnte man auf die Idee kommen, das Verbot der Anwesenheitspflicht wieder aufzuheben. Dazu muss es aber gar nicht kommen, denn besonders interessant sind in dieser Frage einige Studien, die nachweisen können, dass bereits die Thematisierung der Anwesenheitsproblematik zu Beginn einer Veranstaltung zu einer Verbesserung der Anwesenheit beiträgt und dass Anwesenheitskontrollen ohne Sanktionen, ein Monitoring, zu einem deutlichem Anstieg der Anwesenheitsquote führt, so dass evtl. eine verpflichtende Anwesenheitspolitik nicht notwendig ist."
Nachtrag II:
Nach meinem Artikel über die Studie zur Anwesenheitspflicht erhielt ich eine Mail von Ondrej Knoblau, der den Forscher Rolf Schulmeister, aber auch mich als Autor des Artikels sehr engagiert kritisierte. Ich dokumentiere mit der Zustimmung von Herrn Knoblau den folgenden Mailwechsel, weil ich Feedback jeder Form, gerade wenn es so gut formuliert ist, schätze und als Bereicherung empfinde...
Mail von Ondrej Koblau am 29.11.2015:
Sehr geehrter Herr Wiarda,
ich schreibe Ihnen, weil ich mit Ihrem Artikel nicht einverstanden bin und ihn nicht so stehen lassen will. Deshalb werde ich versuchen, Sie zum Nachdenken anzuregen. Ich lehne mich gleich aus dem Fenster und behaupte, dass Sie Korrelation mit Kausalität verwechselt haben; die angestellten Schlussfolgerungen sind wissenschaftlich unzulässig. Hier meine Argumente.
Rolf Schulmeisters Studienergebnis beschreibt zunächst einen Zusammenhang zwischen Anwesenheit und Noten – wenig überraschend, wie Sie selbst formulieren („So weit, so trivial?“). Bis hierhin kann Ihnen jeder folgen, aber danach wird es (wissenschaftlich) unseriös. Denn das die Ergebnisse durch eine Anwesenheitspflicht verbessert werden könnten ist reine Spekulation – als Hypothese natürlich zulässig, aber mehr eben auch nicht. Die Studie jedenfalls gibt das so nicht her. So etwas nennt man wohl wissenschaftlich verbrämte Meinungsmache. Und Sie fahren fort.
„Das, was in Nordrhein-Westfalen und anderswo geschieht, beruht auf einem völligen Missverständnis von Selbstbestimmung und überfordert 90 Prozent der Studenten.", lassen Sie den Persönlichkeitspsychologen Julius Kuhl unkommentiert behaupten. Ja, woher kommt denn diese Behauptung? Auf welche Studie(n), bitteschön, beruft sich hier der ‚angesehene‘ Herr Psychologe denn? Auch das klingt verdächtig nach Meinungsmache. Eine Plausibilitätsprüfung: wenn 90% der Studenten mit der fehlenden Anwesenheitspflicht dermaßen überfordert sein sollten, müsste das irgendjemanden, wegen der dann ja katastrophalen Lernergebnisse, schon irgendwo einmal aufgefallen sein – teilen Sie Ihr diesbezügliches Wissen bitte umgehend mit mir.
Ich möchte Ihnen eine kurze Geschichte erzählen. Von einem Professor. Der hat eine Idee, der er wissenschaftlich nachgehen will und fängt an zu forschen. Soweit so gut, das ist sein Job. Er prüft und analysiert (über Jahre?) die Datenlage und kommt zu einem wenig spektakulären Ergebnis: wer seltener zum Seminar geht, bekommt schlechtere Noten. Schnell wird ihm klar, dass er damit Niemanden hinter dem Ofen hervorlocken wird. Aber er hat ja ne Menge Arbeit (und Steuergelder) investiert, vielleicht hat er auch eine andere Erwartungshaltung gehabt (Sie haben die Vorgeschichte lobenswerterweise skizziert). Plötzlich sieht er die Studie mit neuen Augen: steht da nicht drin, was er schon von Anfang an vermutet hatte? Und sollte man mit diesen neuen Erkenntnissen nicht auch gleich – ganz uneigennützig wissenschaftlich – die Öffentlichkeit informieren? Der Rest ist Geschichte und die neuen Forschungsgelder sind auch schon da.
Und jetzt mal Hand aufs Herz: auf diese Möglichkeit sind Sie tatsächlich nicht selbst gekommen? Als Politologe und renommierter Journalist? Wie konnte Ihnen das passieren?
Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: ich will Ihnen nichts Böses, ich will mich mit Ihnen streiten. Wir brauchen politische Journalisten (und Wissenschaftler), Sie haben eine wichtige Aufgabe. Aber der Kern von gutem Journalismus ist: gutes Argumentieren. Das erwarte ich von Ihnen und ich denke, das darf ich als Leser auch von Ihnen verlangen.
Mit freundlichen Grüßen
Ondrej Knoblau
Meine Antwort am 30.11.2015:
Sehr geehrter Herr Knoblau,
ich möchte Ihnen sehr herzlich für Ihre Nachricht danken. Ich habe selten - vielleicht noch nie - eine so engagierte und zugleich so sachliche und gut formulierte Kritik meiner Arbeit erhalten. Auch wenn Sie nicht mit mir übereinstimmen, fühle ich mich geehrt durch die Zeit und die Aufmerksamkeit, die Sie auf die Auseinandersetzung mit meinen Artikel verwenden. Mit Ihrem Einverständnis würde ich Ihre Nachricht gern als Kommentar zu dem Artikel auf meiner Website hinzufügen.
Zu Ihrer Kritik: Ich verstehe Ihren Punkt, glaube jedoch, dass es sich etwas anders verhält. Ich habe Schulmeister explizit auf die Existenz einer Korrelation angesprochen, er hat geäußert, dass er eine solche Korrelation für sehr wahrscheinlich hält. Da es sich bei Schulmeister um einen renommierten Hochschulforscher handelt, halte ich es für angemessen, dies dann auch so zu schreiben.
Die Gegenpositionen sind ja durch zwei Personen ebenfalls sehr prononciert und deutlich vertreten worden, insofern halte ich den Artikel für insgesamt ausgewogen. Die sehr deutliche Überschrift und Unterzeile stammen, wie Sie vielleicht wissen, normalerweise und auch in diesem Fall vom Redakteur, nicht vom Autor. Ich habe sie vorher gar nicht gesehen.
Zu Ihrer Geschichte über einen Professor: Ich denke, Herr Schulmeister mit seinen fast 80 Jahren hat Forschungsgelder nicht mehr nötig, er ist längst emeritiert und arbeitet einfach aus Engagement und Begeisterung weiter. Insofern hat er auch keine Steuergelder investiert, da er keine Drittmittel für das Projekt bekommen hat.
Insgesamt also komme ich zu der Abwägung, dass ich den Artikel wieder so schreiben würde - auch weil dadurch eine engagierte und wichtige Debatte in der Öffentlichkeit gefördert wird. Auf Zeit Online genauso wie auf meiner Website - und nicht zuletzt durch eine so engagiert vorgetragene Kritik wie die Ihre.
Mit nochmals herzlichem Dank und den besten Wünschen
Ihr Jan-Martin Wiarda
Mail von Ondrej Knoblau am 05.12.2015:
Sehr geehrte Herr Wiarda,
vorweg eine Entschuldigung: ich bin erst heute dazu gekommen, Ihre Email zu lesen; es war vorher einfach nicht möglich. Als Nächstes möchte auch ich mich herzlich für Ihre wertschätzende Antwort bedanken. Sie haben auch mein Einverständnis, meine Emails als Kommentar auf Ihrer Homepage zu veröffentlichen.
Ich möchte aber darüber hinaus auch inhaltlich auf Ihr Schreiben eingehen, denn Sie – Sie ahnen es – haben mich im Kern noch nicht überzeugen können. Dabei gebe ich offen zu: bei den vermuteten Motiven von Herrn Schulmeister war mein Verdacht offensichtlich falsch – Geld spielte da keine Rolle.
Doch im zentralen Kritikpunkt bleibe ich vorerst hart: „Korrelation“ ist definitionsgemäß eben ein bloßer Zusammenhang – mag er noch so hoch sein. Und ich unterstelle, das weiß Professor Schulmeister (uns Sie) auch. Somit steht und fällt seine Argumentation an diesem Punkt und seine Vorgehensweise wird unlauter: er versucht, seine persönliche Meinung als wissenschaftlich zwingend darzustellen. Suggestion ist das harmloseste Wort, was mir dazu einfällt, denn:
Ich finde, das geht nun wirklich nicht.
Damit komme ich zur Ausgewogenheit. Sie haben korrekterweise zwei Gegenpositionen zu Wort kommen lassen – die eine war eine Landesministerin und die andere ein Vorstandsmitglied des fzs (ich wusste bis Freitag vergangener Woche gar nicht, dass es den gibt). Ich will an dieser Stelle ausdrücklich nicht den beliebten Vorwurf erheben, dass ein Journalist stets sämtliche existierenden Meinungen darstellen müsse – so etwas will hoffentlich niemand lesen und es gehört auch eher in den Bereich der Wissenschaft. Eine Aufgabe des Journalismus besteht ja gerade darin, die ‚Spreu vom Weizen zu trennen‘. Aber die beiden ausgewählten Personen konnten eben nicht als Wissenschaftler gegenhalten. Da erkenne ich schon ein Ungleichgewicht. Zumal Sie Professor Schulmeister mit Julius Kuhl, weitere wissenschaftliche Unterstützung, haben zukommen lassen.
Im Ergebnis sehe ich Professor Schulmeister weiterhin als überführt, der mit der Darstellung seiner Studie seinem Renommee als Wissenschaftler nach meiner Einschätzung geschadet hat.
Mit besten Grüßen
Ondrej Knoblau
Meine Antwort am 07.12.2015:
Lieber Herr Knoblau,
vielen Dank, ich stelle Ihre Mails, meine Antwort und Ihren erneuten Kommentar heute noch online.
Ich empfinde unseren Austausch als sehr angenehm, darum gleich noch eine unmittelbare Antwort. Ich stimme Ihnen nicht zu, dass es unlauter ist, wenn ein Wissenschaftler persönlich Schlussfolgerungen aus Beobachtungen zieht - solange diese nicht als wissenschaftlich unverrückbar da stehen. Und ich glaube, dieser Vorwurf lässt sich bei näherem Hinsehen der Arbeit von Herrn Schulmeister selbst nicht halten. Er sagt genau, bis wohin die Erkenntnisse gehen und wo die Interpretation beginnt. Und dass diese wiederum als Debattenbeitrag in die mediale Öffentlichkeit getragen wird, geht meines Erachtens auch in Ordnung.
Dass die Gegenpositionen von Nicht-Wissenschaftlern per se schwächer sind, glaube ich auch nicht wirklich. Und wenn ich einen anderen anerkannten Wissenschaftler nach seiner Einschätzung frage, muss es doch zulässig sein, dass er zu einem positiven und unterstützendem Urteil kommt. Was wiederum für mich als Journalist auch wichtig war, denn auch wenn ich Ahnung von Bildung und Bildungsforschung habe, bin ich doch längst nicht so versiert, alles hundertprozentig selbst einschätzen zu können.
Nochmals vielen Dank für diesen spannenden Austausch und beste Wünsche,
Ihr Jan-Martin Wiarda
Mail von Ondrej Knoblau am 07.12.2015
Lieber Herr Wiarda,
ich bin mir nicht sicher, ob wir vielleicht etwas aneinander vorbeireden? Ich versuche, auf den mir entscheidenden Punkt zu kommen (Achtung: gleich kommt ein schiefer Vergleich). Zunächst: ich gebe Ihnen in den meisten Punkten völlig recht. Selbstverständlich darf ein Wissenschaftler persönliche Schlussfolgerungen ziehen. Und ich bin sogar explizit der Meinung, dass ein Nicht-Wissenschaftler per se auf gleicher Ebene debattieren kann (und soll) - genau darauf möchte ich ja hinaus: es kommt einzig auf die Argumente an, nicht darauf, wer sie vorbringt. Aber wenn Sie schreiben:
"Er sagt genau, bis wohin die Erkenntnisse gehen und wo die Interpretation beginnt", dann sehe ich das genau anders (Exkurs: ich habe heute wieder mal zufällig etwas über 'radikalen Konstruktivismus' gelesen). So wie ich Ihren Artikel lese, möchten Sie eine Debatte über das für und wider einer Anwesenheitspflicht anstoßen. Und dazu kann die Studie, so finde ich, nichts schwerwiegends beitragen - sie vernebelt eher, als dass sie lichtet (ich habe die Studie übrigens noch gar nicht quergelesen, Ihr Artikel ist meine einzige Quelle). Denn sie bestätigt vor allem eines (und hier sehe ich sogar eine Kausalität) - dass man als Studierender gut daran tut, an möglichst vielen Seminaren teilzunehmen, da bereits wenige Fehlzeiten starke negative Folgen haben können. In dieser Hinsicht begrüße und unterstütze ich Professor Schulmeister audrücklich - das ist auch eine bereichernde und wichtige Erkenntnis. Aber das war es dann auch - mehr lässt sich da nicht rausholen.
Die Schlussfolgerung einer notwendigen Anwesenheitspflicht ist rein persönlicher Natur und wird meines Erachtens eben nicht als solche deutlich. Bei dieser Debatte spielen dann andere, z.B. juristische, aber auch ethische Betrachtungen und Abwägungen (Selbstbestimmunsrechte u.ä.) eine wesentlichere Rolle. Und an dieser Debatte nimmt Herr Schulmeister als (vollwertiger) Mitbürger und nicht als Fachwissenschaflter teil. Da hilft ihm auch kein Kollege, der 90 % der Studenten überfordert sieht (wobei eigentlich: beim Seminar aufzutauchen?).
Das Ungleichgewicht entsteht in dem Moment, wo dieser geballten 'Wissenschaftsmacht' jemand schwer Einschätzbares (Ben Seel) und eine Politikerin gegenüberstehen - die haben doch auf der 'Prestigeebene' (das ist der schiefe Verleich) gar keine Chance!
Da ich gerade in Fahrt bin, als provokativen Debattenbeitrag: wäre mit einer Anwesenheitspflicht tatsächlich etwas gewonnen? Mal angenommen, durch den Zwang verbesserten sich tatsächlich die Noten. Wäre das dann wirklich auf den Wissenszuwachs zurückzuführen oder bildete sich auf diese Weise nicht lediglich eine Anpassung ab: ich muss mich fügen und rede dem Dozenten deshalb besser nach dem Mund, um eine bessere Note zu erhalten? Mündigkeit ist nicht erwünscht, verhalte dich konform. Würde diese ohnehin bestehende Gefahr nicht verstärkt?
Schöne Grüße
Ondrej Knoblau
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Klaus Diepold (Donnerstag, 26 November 2015 12:50)
ich habe ab dem 2.Semester in meinem Studium praktisch keine Vorlesung oder Übung mehr besucht und mir den Stoff mit Hilfe von Büchern und Skripten selbst reingezogen. Ich bin da sicher keine Ausnahme - Anwesenheitspflicht hat für mich im akademischen Leben keinen Platz. Wie die Ministerin sagt, die Studierenden sind erwachsen und als solche sollte wir sie auch behandeln.
Klaus Diepold (Donnerstag, 26 November 2015 13:02)
... nicht zu vergessen die kreativen Profs. die wichtige Informationen exklusiv in der Vorlesung platzieren und keine entsprechenden Hinweise in den zur Verfügung gestellten Unterlagen verbreiten. Auf diese Weise werden die Studierenden, die nicht in der Vorlesung sind bei der Prüfung benachteiligt. Das sieht dann in der Studie so aus, dass eine entsprechende Korrelation gibt zwischen Anwesenheit und Studienerfolg. Merke: Korrelation sagt nichts über die kausale Beziehung von Sachverhalten aus!!
Michael Büker (Donnerstag, 26 November 2015 13:10)
Es mag der Fall sein, dass einer Anwesenheitspflicht der gute Wille zugrunde liegt, Studierenden eine Verhaltensweise auferlegen zu wollen, die dem Studienerfolg förderlich ist. In der Praxis zeigen sich aber Konflikte zwischen einem selbstbestimmten Leben und Lernen und einer solchen rigiden Vorschrift. Studierende müssen mit Dozenten und Übungsleitern privateste Angelegenheiten diskutieren – Krankheiten, Familienangelegenheiten, soziale Verpflichtungen, politisches Engagement. Ist einmaliges Fehlen noch akzeptabel? Oder zweimaliges, oder dreimaliges? Egal wie die Grenze gewählt wird, sie wird immer Fälle provozieren, zu denen Volljährige einem Rechtfertigungsdruck unterliegen, welcher der Entwicklung einer selbstständigen Lebensführung und Eigenverantwortung entgegen steht.
Aufzeichnungen von Vorlesungen im Internet zu verfolgen ist Gang und Gäbe. Lernstoff wird ohnehin in Lerngruppen abseits der offiziellen Veranstaltungen verarbeitet. Die Universität stellt völlig zurecht neue Ansprüche an ihre Lernenden, was die eigenständige Organisation des Lernens angeht – sie hebt sich damit (dankenswerterweise!) deutlich von der Schule ab. Eine Anwesenheitspflicht, genau wie vorgefertigte Studenpläne und einförmige Hausaufgaben, verkörpern meiner Auffassung nach das Gegenteil dessen, was die Universität vermitteln sollte, wenn es um selbstbestimmtes Lernen geht.
Die Bedingungen zur Erlangung des Abschlusses und der einzelnen Zwischenqualifikationen werden anfangs klar dargelegt, das Angebot an Lernveranstaltungen präsentiert und die gleichen Maßstäbe für den Erfolg streng für alle angelegt. Was dazwischen passiert, wie also gelernt wird, sollten die werdenden Erwachsenen selbst entscheiden können – auch auf die Gefahr hin, damit auf die Nase zu fallen.
Klaus Diepold (Samstag, 28 November 2015 09:29)
jetzt habe ich mir den Schulmeister-Bericht angesehen - nomen est omen - sehr schulmeisterlich. Ehrlich gesagt, schwillt mir bei dieser Diskussion der Hals. Ich finde die ganze Grundhaltung gegenüber Lernenden (aus dem Eltern-Ich heraus) vollkommen falsch und nicht mehr zeitgemäß. Nach den Worten Schulmeisters gehöre ich offensichtlich zu Klasse der ideologisch Argumentierenden - und dazu stehe ich - keinerlei Anwesenheitspflicht - ich will mein eigenes Scheitern selbst verantworten. Ich will mich nicht als Studierenden sehen, der anhand eines sozial-wissenschaftlich verschwurbelten Durchschnittsbild der Studierenden von Unis gegängelt und geschulmeistert wird. Dann mache ich lieber einige MOOCs in Kalifornien mit und sammle mir meine Zertifikate ohne Hochschule zusammen.
Jan-Martin Wiarda (Montag, 30 November 2015 10:09)
Lieber Herr Diepold, lieber Michael, vielen Dank für die engagierten und wichtigen Diskussionsbeiträge. Das Thema polarisiert, und das ist aus Sicht eines Journalisten natürlich immer besonders spannend. Letzten Endes liegt der Diskussion eine fast philosophische Fragestellung zugrunde: Was genau heißt (Wahl-)Freiheit aus Sicht von Studenten, und sind alle in der Lage, sie gleichermaßen zu nutzen? Ich stehe ja eher auf dem Standpunkt, dass es womöglich sinnvoll sein könnte, für bestimmte Veranstaltungen vor allem in den unteren Semestern eine Pflicht beizubehalten. Ausnahme: Die Universität stellt wirklich gute Online-Angebote zur Verfügung oder hilft den Studenten, sie anderswo zu finden. Dann würde ich allerdings irgendeine Form von Tutoring oder regelmäßige Beratungsgespräche in den unteren Semestern mit einem höheren Verpflichtungsgrad versehen. Wieder gilt: Bei den Jüngeren ja, bei den Älteren eher nein. Das Ziel muss auf jeden Fall immer die Freiheit sein.
Herzliche Grüße, Ihr/Dein Jan-Martin Wiarda
GoaCDtTd (Montag, 26 September 2022 05:18)
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