Vor Jahren haben sie in Hamburg die Primarschule gestoppt. Die damalige schwarz-grüne Koalition in der Hansestadt hatte 2010 die Grundschule für alle auf sechs Schuljahre erweitern wollen,
verbunden mit kleineren Klassen besonders in sozial schwächeren Stadtteilen – und einer Abschaffung des Elternwahlrechts. Das gefiel den Eltern besonders in den besser gestellten Stadtteilen
nicht. Die Initiative "Wir wollen lernen" mit dem Rechtsanwalt Walter Scheuerl an der Spitze war so erfolgreich im Unterschriftensammeln, dass sie einen Volksentscheid erzwang, der dann
im Juli 2010 die Reform zu Fall brachte. "Die Schüler, Eltern und Lehrer, die erfolgreich gegen die Primarschule gekämpft haben, sind jetzt in der Pflicht", kommentierte mein Kollege
Thomas Kerstan in der ZEIT. "Den Vorwurf, dass sie nur die Interessen der Privilegierten verteidigen, müssen sie entkräften."
Die Bildungspolitiker aller Parteien haben eine andere Schlussfolgerung aus dem Hamburger Debakel von damals gezogen: Gegen die Gymnasien lässt sich in der Bundesrepublik keine Politik
machen. Denn natürlich lag der Kern der damaligen Auseinandersetzungen in dem Versuch der Hamburger Senats, Hand an der Deutschen liebste Schulform zu legen. Durch eine Verkürzung um zwei
Jahre. Durch neue Zugangsregeln. Dafür gab es was auf die Finger; für wenige Themen lassen sich Menschen so schnell aktivieren, wie wenn es um das vermeintliche oder tatsächliche Wohl ihres
Nachwuchses geht. Der Volksentscheid um die Hamburger Schulreform steht seither den Kultusministern als Mahnung vor Augen, wenn sie irgendwo elterliche Empörung aufkommen sehen.
Heute lautet das dazu gehörige Stichwort G8, also die Verkürzung der Gymnasialzeit um ein Jahr, die in vielen Bundesländern vor rund zehn Jahren auf den Weg gebracht wurde. Keiner weiß
wirklich zu sagen, wie die Mehrheit der Eltern im Land zu der Reform steht. Die hier und da von Elternverbänden und anderen Initiativen durchgeführten Umfragen sind meines Erachtens nicht
repräsentativ, da tendenziell eher diejenigen teilnehmen, die sich über G8 aufregen, als jene, die das Thema im Großen und Ganzen kalt lässt. Letzten Endes ist es aber auch egal: Die
von der Politik gefühlte – die lautstarke – Mehrheit ist ganz klar gegen die Reform gerichtet.
Und die Politik reagiert. Niedersachsen ist komplett zum Abitur nach neun Jahren, also G9, zurückgekehrt. In Hessen können die Schulen zwischen G8 und G9 wählen. In Bayern gibt es jetzt die
"Mittelstufe plus", ein fast schon absurd anmutender Versuch, die schleichende Abkehr von G8 nicht als Rolle rückwärts zu verkaufen. Nordrhein-Westfalens rot-grüne Regierung ist noch
standhaft, aber die Elternverbände erhöhen den Druck, wie die FAZ berichtet. So sind es
politikwissenschaftlich außerordentlich aufschlussreiche Studien, die sich über die dynamischen Verschränkungen zwischen Elternwillen und Politik-Zickzack durchführen lassen.
Die entscheidenden Fragen werden dadurch nicht beantwortet. Erstens: Was ist denn nun wirklich besser: G8 oder G9? Zweitens: Gegen was genau sind eigentlich die Gegner von G8 und warum? Und
drittens: Warum hat die Politik so wenig Rückgrat in der Verteidigung einer Reform, deren wissenschaftliche Grundlagen sich in den vergangenen zehn Jahren nicht geändert haben?
Zur ersten Frage: Die ist natürlich so plakativ gestellt nicht zu beantworten. Was ja den Widerstand der Elternvertreter und auch der Philologenverbände so wundersam macht. Klar ist ein G8 Murks,
bei dem einfach die Stundentafeln von G9 in acht Jahre gezwängt werden. Aber die Grundidee von G8 war ja mal, nicht nur die Schulzeit ans international übliche Niveau anzupassen, sondern
gleichzeitig die Lehrpläne zu entschlacken (und nebenbei zu modernisieren). Hier lag wahrscheinlich der erste Fehler der Politik: Sie hatte nicht den Mut, sich gegen die Lehrer- und Fachvertreter
durchzusetzen, die den Status quo als pädagogisch einzige vertretbare Möglichkeit verteidigt haben. Übrigens sind es oft genau die gleichen Lehrervertreter, die dann die Überfrachtung von G8
geißeln.
Zur zweiten Frage: Viele Gegner von G8 sind auch Gegner der zweiten großen Schulreform der vergangenen Jahre, der breiten Einführung der Ganztagsschule. Beide Reformen haben Bezugspunkte: G8, ob
entschlackt oder nicht, macht es nötig, mehr Schulstunden in den Nachmittag zu packen – was ebenfalls in vielen Ländern üblich ist. Und das geht leichter und schülerfreundlicher an einer darauf
ausgerichteten Ganztagsschule. Übrigens, das nur nebenher erwähnt, sagen viele Bildungsforscher, dass Ganztagsschule nur dann sinnvoll sei, wenn genau das passiert: dass auch regulärer Unterricht
am Nachmittag stattfindet. Und genau hier liegt wieder der Bezug zu der Hamburger Elterninitiative von 2010: Das Idealbild vieler bildungsnaher Eltern ist ein Halbtagsgymnasium, das ihnen die
Gelegenheit lässt, den Nachmittag ihrer Kinder mit eigenen Bildungs- und Freizeitangeboten zu planen. Meine These: Wenn es ein G8 gäbe, das dies ermöglichen würde, wäre der Widerstand vieler
Eltern dagegen augenblicklich weg. Sollen die Kleinen ruhig etwas mehr schuften. Aber bitte nur am Vormittag.
Zur dritten Frage: Ja, hier wird es wirklich interessant. Es gibt den Spruch unter Politikern, mit Bildungsthemen würden keine Wahlen gewonnen, sondern immer nur Wahlen verloren. In den ersten
Jahren nach dem Pisa-Schock von 2001 tat sich ein in der Politik seltenes Zeitfenster auf, währenddessen die Verantwortlichen gesagt haben: Es nützt alles nichts, die Lage ist so ernst, wir
müssen wirklich ran an die Schulen. Es folgten Ganztagsschule, G8, Zentralabitur, frühere Einschulung, jahrgangsübergreifendes Lernen, Bildungsstandards, Vergleichsarbeiten. Das
Reform-Feuerwerk traf auf verdutzte (und sicher auch problembewusste) Schulen, die erstmal gar nicht reagierten. Je mehr Zeit jedoch verging, desto stärker formierte sich der Widerstand bei
Lehrern und Eltern, und auch die Politik begriff erst langsam, welch fast schon selbstmörderischen Mut sie da an den Tag gelegt hatte. Sie erinnerte sich an ihre alte Weisheit, dann kam Hamburg,
und ab da ging es nur noch rückwärts mit den Schulreformen.
Dabei könnten G8 und Ganztagsschule Bildungsverläufe nicht nur beschleunigen und damit einen früheren Einstieg in Studium oder Ausbildung ermöglichen, vielleicht auch Zeit freiräumen für ein
zusätzliches Jahr im Ausland. Nein, G8 könnte unter Umständen sogar Potenzial für mehr Chancengerechtigkeit bieten. Sagen zumindest wiederum viele Bildungsforscher. Die Erklärung dafür ist ein
bisschen kompliziert auf den ersten Blick. Das Abitur in 13 Jahren ist ja auch in Nordrhein-Westfalen noch möglich. Allerdings nicht an Gymnasien, sondern an Sekundarschulen,
Gesamtschulen und Berufskollegs. Ganz ähnlich ist das Schulsystem zum Beispiel in Berlin und in Hamburg organisiert: Die Gymnasien vergeben das Abi nach 12 Jahre, die Sekundarschulen (Berlin)
bzw. die Stadtteilschulen (Hamburg) in 13. Die Schnellen können also auf dem Gymnasium lernen; wer etwas mehr Zeit haben möchte, besucht die Alternative.
Das zusätzliche Jahr ist einer, vielleicht der entscheidende Attraktivitätsvorteil, den die zweite Schulform neben dem Gymnasien hat, um bildungsnahe Eltern und ihre Kinder anzuziehen. Erst recht
in Zeiten, in denen in immer mehr Bundesländern die Eltern über die Wahl der weiterführenden Schule entscheiden, im Zweifel auch gegen die Empfehlung der Grundschullehrer. Wobei die meisten
Akademikereltern unabhängig von der Leistung ihrer Kinder selbstverständlich das Gymnasium wählen, viele Nicht-Akademiker-Eltern aber andere Schulformen.
Die parallele Existenz von G8 an Gymnasien und G9 an Sekundarschulen könnte also letztere aufwerten, dem uneinholbaren Reputationsvorsprung der Gymnasien etwas Anderes entgegensetzen. So könnten
sich mehr Akademikereltern für Sekundarschulen entscheiden; ein Prozess, der vielerorts längst in Gange ist. Zu Ende gedacht würden sich Sekundarschulen, Stadtteilschulen etc. von ihrer
Reputation her den Gymnasien annähern. Ein Beitrag zu mehr Chancengerechtigkeit, da Bildungschancen natürlich auch über Reputationszuschreibungen verteilt werden. Doch, siehe oben, hier
ist er wieder, der gefühlte Angriff aufs Gymnasien. Und der muss – natürlich – abgewehrt werden.
Am Ende bleibt eine Feststellung, die zugleich eine weitere Frage ist. G9-Aktivisten gibt es ja nun wie beschrieben reichlich. Wo aber sind eigentlich die G8-Aktivisten, die die Reform
verteidigen, bevor sie von einer Koalition aus wütenden Eltern, am vermeintlich Bewährten festhaltenden Lehrern und ängstlichen Bildungspolitikern komplett geschleift wird? Wenn es sie gibt,
diese G8-Aktivisten, wenn sie vielleicht doch so etwas wie die schweigende Mehrheit sind, dann sollten sie aufstehen, und zwar nicht irgendwann, sondern jetzt.
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Christian Schüle (Dienstag, 06 März 2018 10:11)
Ich bin Befürworter des G8. Das "G" steht für Gymnasium, insofern ist "G9" an Sekundarschulen unsinnig. Eine Entschlackung und auch Komprimierung des Schultages wäre wünschenswert. Ich halte generell nichts von Ganztagsschulen. Kinder sollten m.E. nicht den ganzen Tag pädagogisch "betreut" sein, sondern auch Freizeit haben dürfen.
GoaCDtTd (Montag, 26 September 2022 05:36)
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