Der Erziehungswissenschaftler Jan-Hendrik Olbertz, bis Mai Präsident der Berliner Humboldt-Universität, und der Deutschlandchef von Wikimedia, Christian Rickerts, haben sich
zum Streitgespräch getroffen über traditionelle Lexika, das kollektive Sammeln von Fakten und den modernen Wissenschaftsbetrieb. Die beiden waren sich schnell einig: Wikipedia hat die Art
verändert, wie wir Wissen teilen. Die Frage, über die Olbertz und Rickerts diskutierten: Was haben wir dadurch gewonnen? Eine leicht gekürzte Version dieses Streitgesprächs erschien in
der Juli-Ausgabe von "brand eins".
Herr Olbertz, wann haben Sie zum letzten Mal Wikipedia genutzt?
Olbertz: Heute Morgen. Ich habe mich wieder eingelesen in das Wirken von Alkuin. Das war, könnte man sagen, der Humboldt Karls des Großen.
Vertrauen Sie dem, was Sie da gelesen haben?
Olbertz: Ich vertraue Wikipedia, wenn es um einfache Tatsachen oder Fakten geht.
Herr Rickerts, warum braucht die Welt Wikipedia?
Rickerts: Um das Wissen der Welt für alle frei verfügbar zu machen. Die Idee bei der Gründung vor 15 Jahren war dieselbe wie heute: Wir nutzen die Möglichkeiten des Internets und kombinieren sie
mit dem Gedanken einer neuen Offenheit. Es geht um ein Zusatznutzen gegenüber Print-Lexika, bei denen ich das Faktenwissen präsentiert bekomme, aber nicht, wie es zusammengetragen worden ist.
Wikipedia macht transparent, wer wann was eingefügt oder entfernt hat, wie bestimmte Argumente verändert wurden. Es geht darum, den ganzen Diskurs abzubilden, und das Internet hat die Kraft,
sowas zu ermöglichen.
Olbertz: Sie haben Recht: Ich fürchte nie, dass Wikipedia veraltet ist, ich habe nur die Sorge, dass das Wissen, das ich dort finde, nicht zutrifft.
Bei traditionellen Lexika hätten Sie diese Sorge nicht?
Olbertz: Für die habe ich selbst mehrfach Stichwortaufsätze geschrieben, darum weiß ich, welche Tiefe und Gründlichkeit sie verlangen. Da setzen sich ausgewiesene Fachleute an ihren Schreibtisch
und arbeiten manchmal über Wochen an einem Stichwort. Bei Wikipedia kann im Grunde jeder schreiben, Sie müssen nicht zwingend Experte sein auf dem Gebiet, über das Sie schreiben, und Sie müssen
relativ schnell sein, wenn Sie der erste sein wollen. Wo bleibt da die Frage nach der Idee des Universellen in unserem Wissenssystem, was die Enzyklopädisten schon durch den Namen Enzyklopädie,
„Kreis der Bildung“, als Ausdruck des Zusammenhangs allen Wissens, im Sinn hatten?
Rickerts: Ich wäre mit dem Begriff „Experte“ vorsichtiger. Die Grundphilosophie von Wikipedia ist ja gerade, dass jeder Experte sein kann und das Wissen, das er hat, teilen kann.
Ist Wikipedia in dem Sinne eine Kritik an den Formen der Wissensgenerierung, wie wir sie vorher hatten?
Rickerts: Zumindest liefert Wikipedia einen unglaublichen Mehrwert – gerade weil die Grenze zwischen vermeintlichen Experten und Nicht-Experten hinterfragt wird. Ich glaube, dadurch ist es
überhaupt erst möglich, an bestimmte Wissensbereiche heranzukommen. Traditionelle Lexika gaukeln uns vor, in ihnen stecke Wahrheit. Dabei muss ich mir immer selbst einen Reim auf das machen, was
andere Wahrheit nennen, und auf der Grundlage meine Meinung bilden. Und in der Wikipedia kann ich das – indem ich die Diskurse über bestimmte Begriffe nachvollziehe.
Müsste die Wissenschaft das Engagement von Laien nicht viel mehr zu schätzen wissen?
Olbertz: Zunächst müssen wir hier den Unterschied zwischen Wissen und Bildung deutlich machen. Sie können beeindruckende Mengen an Wissen zusammentragen, Sie können, wobei das für mich ein
pathologischer Befund wäre, einen ganzen Fahrplan auswendig wissen, und ich glaube, dass sich die Wissenschaft solcher Quellen sogar bedienen kann. Aber ich möchte denjenigen Laien sehen, der
auch die Zusammenhänge zwischen den Wissensideen angehäuft hat, also Deutungen zu geben imstande ist nur auf der Grundlage des zusammengetragenen Faktenwissens.
Seien Sie ehrlich: Mögen viele Wissenschaftler Wikipedia deshalb nicht, weil Wikipedia Wissen demokratischer macht?
Olbertz: Für mich ist es nicht zwingend demokratischer, wenn jemand behauptet, diese Kaffeetasse hier auf dem Tisch sei ein Bürolocher.
Rickerts: Wenn das jemand in einem traditionellen Lexikon behauptet, dann steht das da. Bei Wikipedia würden sofort 20 andere Leute kommen und sagen, nein, das ist...
Olbertz: … ein Bleistift.
Rickerts: Ich bin sicher, dass in dem Diskurs mindestens zwei Leute mit entsprechenden Belegen daherkommen, dass das eine Kaffeetasse ist. Was eben in einem Artikel so stand, kann im nächsten
Augenblick schon geändert worden sein.
Olbertz: Okay, akzeptiert. Bleiben wir mal bei dieser Permanenz der Revision, die Sie beschreiben. Sie sieht aus wie ein Vorteil, aber ist sie es wirklich? Ich lese das jetzt, und in zehn Minuten steht wieder etwas anderes da. Muss ständig alles zur Disposition gestellt, relativiert werden? Ich frage mich: Trägt die Art, wie Wikipedia Wissen präsentiert und zugänglich macht, nicht genau zu dieser Beliebigkeit bei?
Rickerts: Gegenfrage: Suggeriert mir nicht die Permanenz eines Lexikons eine wenig komplexe Welt, eine Sicherheit, die es nicht gibt? Und wenn Sie bei Wikipedia nachschauen, können Sie sicher
sein, dass sich bei den Gesetzen der Thermodynamik weniger ändert als bei Artikeln zum Zweiten Weltkrieg, zum Auseinanderbrechen Jugoslawiens, oder auch zur Homöopathie. Bei diesen Artikeln sind
die Diskussionen oft tagesaktuell, ähnlich wie die Diskurse in den Zeitungen.
Olbertz: Wissenschaftlich ist das nicht.
Ist Wikipedia eher ein Forum für die Gesellschaft, sich ihrer selbst zu vergewissern, Sichtweisen auszuhandeln und sich dabei fortwährend selbst weiterzuentwickeln?
Rickerts: Wikipedia ist ein Abbild der Gesellschaft. Durch ihre Offenheit – jeder kann mitmachen – habe ich die Pluralität, die unsere Gesellschaft ausmacht, abgebildet.
Olbertz: Ist Wikipedia dann nicht vor allem ein Jahrmarkt der vielfältigsten Interessen? Der Eitelkeiten? Der Selbstbespiegelung? Was es natürlich nicht wertlos macht. Interessen von Leuten und
Gruppen haben eine hohe Faktizität; darüber Bescheid zu wissen, kann schon bedeutsam sein.
Konkret: Ein Eintrag in einem klassischen Lexikon über Angela Merkel ist nicht von Angela Merkel geschrieben. Der Wikipedia-Artikel dagegen wird garantiert
regelmäßig von ihren Presseleuten bearbeitet.
Rickerts: Die Artikel können von jedem bearbeitet werden, der seine Informationen belegen kann und sich an die Regeln hält.Wir haben eine sehr aktive Community in Deutschland von ehrenamtlichen
Autoren, die arbeiten alle daran, Wikipedia besser zu machen.
Wie groß ist diese Community?
Rickerts: Das sind im Kern etwa 6000 Leute, die fünf Edits, also Bearbeitungen, im Monat machen, und 1000, die für mindestens 100 Edits im Monat verantwortlich sind. Vor 15 Jahren hat die
deutschsprachige Wikipedia mit dem ersten Artikel angefangen, jetzt sind wir bei 1,9 Millionen. Bei 200 Wörtern Lesegeschwindigkeit in der Minute bräuchten Sie dafür 11 Jahre.
Olbertz: Masse macht noch keine Qualität.
Sind die Hürden bei Wikipedia zum Mitmachen nicht trotzdem immer noch zu hoch?
Rickerts: Sie müssen sich nicht registrieren lassen. Sie können in der Wikipedia editieren, ohne angemeldet zu sein. Ich glaube, bei vielen Menschen ist noch gar nicht angekommen, dass Wikipedia
nicht nur konsumiert werden kann, sondern dass ich mich aktiv miteinbringen kann.
Trotzdem klagen Betroffene, es sei sehr schwer, falsche Informationen über sich selbst zu korrigieren, weil es bei Wikipedia keine klaren Ansprechpartner gebe.
Rickerts: Wenn Sie nach einem Ansprechpartner mit postalischer Adresse suchen, werden Sie in der Tat nicht fündig. Aber Sie können jederzeit die Autoren in der Community ansprechen: auf der
Diskussionsseite hinter jedem Artikel.
Und wenn ich selber einen Fehler korrigiere, kommt nicht irgend ein Ober-Wikipedianer und streicht raus, was ich geschrieben habe?
Rickerts: Solange Sie sich an das Regelwerk halten, nicht. Die deutsche Wikipedia-Community hat sich sehr detaillierte und auch im internationalen Vergleich elaborierte Regeln gegeben, um mit
solchen Fragen umzugehen. Etwa, dass ich Dinge belegen muss, und der Beleg kann nicht sein, dass ich mit irgendwem gestern drüber gesprochen habe.
Olbertz: Wenn ich zum Beispiel Tankwart wäre draußen bei Aral, könnte ich mir dann einen Eintrag verfassen, der mein Leben widerspiegelt, wie ich zu diesem Job gekommen bin? Einfach nur um
anschließend meiner Frau zu sagen: „Schau mal, ich bin bei Wikipedia!“ Wäre ja alles belegbar.
Rickerts: Das Verfassen eines solchen Artikels wäre möglich – er würde aber gelöscht werden Sie würden innerhalb der Community freundlich darauf aufmerksam gemacht werden, dass Ihr Artikel
bestimmten Relevanzkritierien nicht genügt.
Olbertz: Aber entschuldigen Sie, woher kommt da die Legitimation? Sie haben vorhin darüber gesprochen, wie demokratisch Wikipedia ist. Für den Tankwart und sein Netzwerk ist ein solcher Artikel
hochrelevant!
Relevanz ist eine Frage, mit der sich auch die Wissenschaft gerade vehement konfrontiert sieht.
Olbertz: In der Tat. Es gibt eine Flut an Veröffentlichungen, und alle fragen: Wer ist die Instanz, Qualität beurteilen zu können? Wo existiert ein Regelwerk dafür?
Rickerts: Zumindest haben wir ein Regelwerk anzubieten, das lebt und ständig weiter verhandelt wird, und zwar unter gleichberechtigter Beteiligung aller Wikipedianer.
Die 6000 Wikipedianer, wer sind die eigentlich? Arbeitslose Geisteswissenschaftler? Taxifahrer, die sich abends hinsetzen? Rentner? Professoren, die alles besser wissen?
Rickerts: Das gesamte Spektrum. Es sind gefühlt mehr Männer als Frauen. Allerdings sammeln wir über unsere Nutzer keine Daten. Wir machen Umfragen. Da gibt es dann Menschen, die sich in einer
richtigen Chemieredaktion zusammen finden. Und es gibt den Augenarzt, der zusammen mit dem Optiker über eine Augenkrankheit schreibt, vielleicht unter Mitwirkung eines Users, der von ihr
betroffen war.
Olbertz: Warum aber schreibt überhaupt jemand einen Stichwortartikel für Wikipedia? Einen Artikel, der nichts mit einem selbst zu tun hat? Man wird als Autor nicht sichtbar, Meriten kann man also
nicht erwerben. Da muss eine Wissenskultur dahinterstecken, vor der ich unter Umständen sogar den Hut ziehen könnte.
Rickerts: Das ist das, was mich so fasziniert. Diese Motivation und dieses Herzblut. Und das ist ja ein Ehrenamt. Eine andere Form, als wir sie aus Sportvereinen kennen, aber nicht weniger
ehrenhaft.
Herr Olbertz, würden Sie akzeptieren, dass ihre Studenten aus Wikipedia zitieren?
Olbertz: Ich hätte da kein grundsätzliches Problem, solange sie korrekt zitieren und die jeweilige Stelle belegen.
Viele Ihrer Kollegen schon. Sie klagen, dass ihre Studenten immer häufiger einfach aus Wikipedia abschreiben.
Olbertz: Was heißt abschreiben? Wenn Sie ein wissenschaftliches Fachjournal zitieren, schreiben Sie auch irgendwie ab und nehmen Bezug. Ich finde das nicht dramatisch. Solange zu der Reproduktion
der Wikipedia-Lektüre eigene Gedankengänge kommen und der Autor auf Distanz bleibt, wäre es wissenschaftlich nicht zu vertreten, eine bestimmte Quellendisposition von vornherein
auszuschließen.
Alle ihre Kollegen liegen falsch?
Olbertz: Verstehen kann ich ihr Misstrauen schon. Es hängt mit der operationellen Schnelligkeit dieses Wissensspeichers zusammen, ohne lange denken oder fragen zu müssen, schon die Antwort parat
zu haben. Wir externalisieren Wissen über Wikipedia und Google, wir haben es in unserem Smartphone immer dabei, und in Situationen, die uns eine akute Reaktion abverlangen, sind wir womöglich
nicht handlungsfähig, weil wir auf nichts mehr zurückgreifen können, was in uns selbst verankert ist.
Rickerts: Was erwarten Sie? Wir reden hier über ein Lexikon, nicht über die Hilfsvorlesung einer Universität. Wikipedia produziert kein neues Wissen, Wikipedia bildet Wissen ab. Manchmal fühle
ich mich an Diskussionen erinnert, die wir vor 20 Jahren übers Fernsehen hatten. Schon da hieß es, dass Schule die dafür nötige Medienkompetenz vermitteln müsse. Nur leider ist Schule sehr
unflexibel in der Adaption bestimmter Neuerungen.
Was tut Wikipedia, um diese Haltung zu ändern?
Rickerts: Wir arbeiten mit Schulen und Hochschulen zusammen. Gerade haben wir eine Übersicht über das Thema freie Unterrichtsmaterialien veröffentlicht. Ich wünsche mir, dass Schulen und
Hochschulen sich mit Wikipedia auseinandersetzen, indem sie es ausprobieren als Lehr- und Lernmittel, anstatt es zu verteufeln.
Olbertz: Es müsste so etwas geben wie eine Wikipedia-Bildung. Die auch anerkennt, es ist eine Apparatur, es ist aber nicht die Bildung selbst.
Was kann die Wissenschaft von Wikipedia lernen?
Rickerts: Neuerdings reden alle von Open Access und Open Science. Da ist Wikipedia für mich eine Blaupause. Wenn ich mir die Forschungsrealität von heute anschaue, sehe ich, dass vielerorts immer
noch jeder für sich arbeitet, Gruppe für Gruppe, Wissenschaftler für Wissenschaftler. Man behält seine Daten für sich, und wenn man sie doch mal freigibt, dann möglicherweise in einem langen PDF.
Sollte es nicht die Grundeinstellung in der Wissenschaft sein, solange nicht gute Argumente dagegen sprechen, alles öffentlich zu machen? Über die großen Forschungsförderer gäbe es sogar den
Hebel. Von außen aber sieht es so aus, als würden einige Programme zu Open Access & Co aufgelegt, doch die zugrunde liegende Kultur ändert sich nicht.
Was machen eigentlich all die Wissenschaftler, die früher für Lexika geschrieben haben?
Olbertz: Zum Teil sind die Wissenschaften ja sehr konservativ. Ich habe gerade wieder einen Auftrag bekommen, einen Artikel für ein rechtswissenschaftliches Lexikon zu schreiben.
Rickerts: Toll!
Olbertz: In den Sparten überlebt das Print-Lexikon also, im Gegensatz zur Enzyklopädie, weil das auch ein Stück Kultur ist, das man gern zur Hand nimmt.
Sie sagen „Toll!“, Herr Rickerts. Erst haben Sie die Enzyklopädien umgebracht, und jetzt trauern Sie ihnen hinterher?
Rickerts: Wikipedia hat ja nicht das Enzyklopädische umgebracht. Nur das Geschäftsmodell ist nicht mehr da.
Wir sprechen von Buchreihen von 200, 300 Jahren Tradition.
Rickerts: Wir sprechen von einem Geschäftsmodell!
Also „dem“ Brockhaus oder „der“ Encyclopedia Britannica trauern Sie nicht hinterher?
Rickerts: Ich trauere nicht diesem unflexiblen und teuren Prinzip der Wissensvermittlung nach. Da steckt viel Identität einer bildungsbürgerlichen Mittelschicht drin, mein Auto, mein Haus, mein
Brockhaus, ich kann es mir leisten... Dank Wikipedia ist der Zugang zu Bildung massiv verbreitert worden.
Olbertz: Der Zugang zu Wissen!
Rickerts: Beides hängt miteinander zusammen.
Olbertz: Ja, aber hier liegt der Unterschied. Wissen ist ein Rohstoff, der noch der Veredelung bedarf, wenn Bildung daraus werden soll. Wikipedia liefert die Bausteine dazu, nicht mehr. So wie Wikipedia den Zugang zu Wissen erleichtert, erschwert sie den Zugang zu Bildung, indem sie eine Illusion nährt.
Wie meinen Sie das?
Olbertz: Als ich 12 Jahre alt war, hat meine Oma gefragt: Hättest Du einen Wunsch frei, was würdest du dir wünschen? Ich antwortete: Ich hätte gern das gesamte Wissen in Meyers Neuen Lexikon, 18
oder 19 Bände, im Schreibtischregal meines Vaters, parat. Ich dachte, das wäre Bildung, ich wollte meine Lehrer damit aus der Fassung bringen, die mir immer vorhielten, dass ich nichts wüsste.
Bildung so zu verstehen war damals ein Irrtum, wie es heute einer ist: Wir haben durch die Menge von Wissen die Illusion von Bildung, in Wirklichkeit aber kann diese unsortierte und
unreflektierte Menge an Wissen Bildung sogar unterlaufen. Nehmen wir den Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi, über den ich in meinem Stichwort-Artikel schreiben soll. Zu dem gibt es natürlich
auch einen Wikipedia-Artikel.
Rickerts: Ein ellenlanger Text.
Olbertz: Ja, aber wird Pestalozzi eingeordnet in seine Zeit? Wird er verglichen mit anderen Pädagogen? Unter der Überschrift „Würdigung“ steht da, dass nach ihm ein Asteroid benannt wurde, dass
es einen Pestalozzi-Hof in Wien gibt und eine Haltestelle Pestalozzistraße der Wuppertaler Schwebebahn. Ganz im Ernst. Und genau an der Stelle kann ich Ihnen sagen, warum die Wissenschaft
Wikipedia gegenüber skeptisch ist. Sie finden dort eine Art von Vollständigkeit, die Bausteine von höchster Irrelevanz zusammenfügt.
Rickerts: Wobei das Ihre Begrifflichkeit von Würdigung und Relevanz ist.
Olbertz: Das ist ein wissenschaftliches Verständnis von Würdigung.
Werden Sie den Wikipedia-Artikel zu Pestalozzi korrigieren, wenn Sie Ihren Text fürs Lexikon fertig haben?
Olbertz: Wenn ich so gebaut wäre, dass ich als Oberlehrer andauernd durch Wikipedia grasen und ihre Autoren belehren wollte, würde ich sagen: Leute, schmeißt diesen Abschnitt lieber ganz raus.
Werde ich das machen? Ich glaube nicht.
Aber welchen Sinn hat es dann, die Schwachstellen in einem Wikipedia-Artikel zu identifizieren, ohne sie zu beseitigen?
Olbertz: Einfach um es besser zu machen.
Besser zu wissen oder es besser zu machen?
Olbertz: Zunächst es besser zu wissen, und dann es besser zu machen.
Rickerts: Das Schöne ist: Wenn Sie dann Ihren Artikel in dem Lexikon publiziert haben, gibt es eine gute Chance, dass er über diese Quelle wiederum in die Wikipedia kommt.
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Olaf Tausch (Mittwoch, 13 Juli 2016 13:52)
Wikipedia krankt an zwei Dingen, der fehlenden Redaktion und der fehlenden Transparenz. Ersterem wollte man in der Anfangszeit durch die Einführung von "geprüften Versionen" begegnen, doch daraus wurde nichts. Niemand steht mit seinem Namen für die Richtigkeit von Wikipedia-Artikeln ein. Ja, es ist nicht mal erkennbar, wer für bestimmte Versionen von Artikeln verantwortlich ist, da die verfassenden Accounts in der Regel anonym bleiben. Das führt zu unendlichen Bearbeitungskriegen (Editwars) zwischen Personen, die weder bekannt noch deren Motivation nachvollziehbar ist. Und werden bestimmte Accounts dann mal gesperrt, erscheinen sie sicher irgendwann mit neuem Benutzernamen, um ihre Deutungshoheit weiterhin in die Artikel zu drücken. Wenn sie nicht schon unter mehreren Accounts schreiben und auf den Diskussionsseiten präsent sind, um Mehrheiten für bestimmte Artikelfassungen vorzutäuschen. Dem normalen Nutzer der Wikipedia ist es einfach nicht zuzumuten, sich sämtliche Diskussionen zu bestimmten Lemmata durchzulesen, um sich über Artikelinhalte eine Meinung bilden zu können, wenn dieser normale Nutzer überhaupt auf die Diskussionsseite findet. Die von Herrn Rickerts angesprochene Nachvollziehbarkeit der Diskurse über bestimmte Begriffe ist damit eine Farce. In der Wikipedia herrscht Deutungshoheit vor Meinungsvielfalt, da Parteien- und Interessenaccounts nun mal mehr Zeit (und Geld?) haben, ihre Sicht der Dinge über die Plattform einer offenen Online-Enzyklopädie zu vermitteln. Es wird immer angemerkt, dass gerade die Offenheit der Vorteil ist, der die Wikipedia zum Erfolg führte: jeder kann mitmachen. Das kann man jedoch auch als IP, Acconts sollten sich registrieren lassen müssen, um nachvollziehen zu können, wer hinter den Einträgen steht. Eine redaktionelle Verantwortung bei einem Freiwilligenprojekt ist da schon schwieriger aufzubauen, wenn nicht gar illusorisch.
GoaCDtTd (Montag, 26 September 2022 05:48)
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