Mit dem Lesen von Beschlüssen der Kultusministerkonferenz (KMK) ist es so ähnlich wie mit dem Auslegen biblischer Texte. Ständig fragt man sich, was die Verfasser wohl gemeint haben mögen. Doch während sich die Exegese von Altem und Neuem Testament über die Jahrtausende professionalisiert hat, steht die Wissenschaft bei der Auswertung von Ministertexten ganz am Anfang. Immerhin haben die KMK-Exegeten einen Vorteil: Sie können die Autoren noch selbst fragen.
Neulich haben Kultusminister und Hochschulrektoren ihr lange erwartetes Bologna-Papier veröffentlicht, offizieller Titel: "Europäische Studienreform: Gemeinsame Erklärung von Kultusministerkonferenz und Hochschulrektorenkonferenz". Über das Hin und Her im Vorfeld habe ich berichtet. Das Hin und Her nach der Veröffentlichung war nicht weniger bemerkenswert. Die FAZ berichtete, die taz, und im Deutschlandfunk verkündete der Bielefelder Organisationssoziologe Stefan Kühl, KMK und HRK hätten sich "vom ECTS-System verabschiedet". Auf meiner Website legte er später nach: Die Hochschulen könnten dank der Erklärung künftig selbst entscheiden, "ob sie ECTS zur Studiengangsgestaltung nutzen wollen oder nicht – eine Forderung die gerade von prominenten Vertretern der Hochschulrektorenkonferenz immer wieder erhoben wurde." Soweit die Beschluss-Exegese von Kühl. Sollte sie stimmen, es wäre in der Tat eine Revolution, ein Erdbeben, ein Donnerschlag – je nachdem, welches Sprachbild Ihnen am meisten zusagt. Ich jedoch war der Meinung, Herr Kühl habe da was missverstanden – womöglich sogar strategisch nach dem Motto: Wenn nur genug Leute den Beschluss so verstehen, dann wird die Interpretation von selbst Realität.
Da ich mich immer über eine gute Debatte mit dem klugen Herrn Kühl freue, haben wir die Argumente ein wenig hin- und herfliegen lassen, und irgendwann schlug er mir in einer Mail vor: Vielleicht sollten wir die KMK mal selbst fragen? Gesagt, getan, gewartet. Exakt drei Wochen nach meiner Anfrage meldete die KMK-Geschäftsstelle vergangenen Mittwoch Vollzug: Die Antworten sind da.
Eigentlich hatte ich die Amtschefs Michael Voges aus Hamburg und Peter Müller Bayern um ein Gespräch zu dritt gebeten, und zwar in ihrer Funktion als Koordinatoren der SPD- (Voges) bzw. Unionsländer (Müller) in der KMK. Auch um zu sehen, wie stark das Verständnis von Bologna heute noch vom Parteibuch abhängt. Die beiden zogen jedoch ein schriftliches Interview vor, was wir Journalisten ehrlich gesagt nicht so gern mögen, und die Antworten, die sie mir am Mittwoch schickten, waren denn auch formal gesehen etwas speziell: Statt einzeln auf meine Fragen zu antworten, stand vor jeder Antwort "Müller/Voges". In albernen Momenten stelle mir vor, wie die Staatssekretäre sie im Chor sprechen. Inhaltlich jedoch hat die Form durchaus einen Vorteil: Die Antworten können nun wirklich als DIE Position der KMK gelten, Exegese des Bologna-Papiers: künftig überflüssig.
Doch was haben die Amtschefs denn nun gesagt? Kurz gefasst: Kühl hat nicht Recht. Aber ich auch nicht.
Kühl sagt: Die Hochschulen können künftig frei entscheiden, ob sie ECTS nutzen oder nicht. Die KMK erwidert: Stimmt nicht. Bachelor- und Master-Studiengänge müssen weiter verbindlich mit ECTS strukturiert werden. Die Kreditpunkte, schreiben Voges und Müller, "sind ein quantitativer Maßstab für die studentische Arbeitsbelastung (Workload) und damit eine wichtige Plangröße für diejenigen, die an den Hochschulen Curricula gestalten". Ganz sicher sei die jüngste Erklärung kein weiterer Schritt auf dem Weg hin zur Abschaffung der ECTS-Kreditpunkte, im Gegenteil: Auch bei den noch nicht umgestellten Studiengängen betone die KMK in ihrer aktuellen Erklärung mehrfach ausdrücklich "die Funktion von ECTS als Transparenzinstrument". Sprich: Langfristig kommen auch Juristen oder Mediziner nicht um die Kreditpunkte herum.
Revolution, Erdbeben und Donnerschlag fallen also aus. Die KMK will sich nicht strategisch missverstehen lassen und spricht endlich Klartext. Also alles beim Alten? Nicht ganz. Und hier habe ich Unrecht. Ich hatte mich nach der Veröffentlichung an einer Übersetzung der Erklärung versucht und in Bezug auf die Anerkennung von Studienleistungen folgende Lesart favorisiert: "Natürlich müssen die ECTS-Punkte stimmen, grundsätzlich aber erwartet Lissabon von euch, dass ihr anderswo erbrachte Studienleistungen im Zweifel anerkennt. Seid ihr unsicher, schaut euch an, was die Studenten können, also was sie gelernt haben, und wenn diese Kompetenzen da sind, dann hebt den Daumen."
Fast richtig, so die Antwort der KMK, aber die Punkte müssten eben nicht zwangsläufig stimmen: Ihre Zahl sei lediglich als "quantitativer Faktor ein wichtiges Indiz". Weil das für mich immer noch etwas neblig klang, fragte ich nach: Heißt das, wenn ich zum Beispiel an einer Uni in Spanien vier Kreditpunkte für ein Modul erwerbe, das entsprechende Modul in Deutschland aber sechs hat, dass ich dann auch sechs angerechnet bekomme? Voges und Müller antworten mit Ausrufezeichen: "Das ist so richtig!" Aber dann und nur dann, "wenn keine wesentlichen Unterschiede zwischen den erworbenen und den nachzuweisenden Kompetenzen bestehen".
Ich fasse zusammen: Die ECTS-Punkte bleiben verpflichtend für die Studienplanung, insofern ändert sich nichts. Bei der Anerkennung von anderswo erworbenen Studienleistungen dagegen sind sie im Zweifel nicht ausschlaggebend. Nicht oder nicht mehr? Die Amtschefs antworten: Waren sie noch nie, "die KMK stellt diesen Punkt in der Gemeinsamen Erklärung lediglich besonders heraus." Aber sie geben auch zu: "Wie die aktuellen Reaktionen zeigen, hat es hier in der praktischen Umsetzung offenbar in der Tat Missverständnisse gegeben." Direkter formuliert: Die Hochschulen haben es bislang nur nicht kapiert. Ich auf jeden Fall jetzt schon.
Den Kommentar von Stefan Kühl kann ich mir an dieser Stelle nicht nur denken. Er hat ihn auf meiner Website vor drei Wochen schon vorweggenommen. Ich zitiere: "Es wäre auf alle Fälle eine hochinteressante Wendung in der Debatte, wenn die Kultusministerkonferenz und die Hochschulrektorenkonferenz jetzt erklären würden, dass die ECTS-Punkte zwar nicht mehr als Basis für die Anrechnung von Studienleistungen genutzt werden soll, man aber trotzdem am European Credit Transfer (!) System verpflichtend festhalten möchte. So frei nach dem Motto: Die Funktion für die wir die ECTS-Punkte eingeführt haben, wird nicht erfüllt, im Gegenteil sie haben sogar kontroproduktive Wirkungen. Wir denken uns jetzt aber mal ein paar neue Funktionen aus, mit denen wir das Festhalten am ECTS rechtfertigen können."
Ganz so ist es zwar nicht, die Kreditpunkte bleiben ja die Basis der Anerkennung, aber eben nur im Sinne eines unverbindlichen Maßstabes. Und "ein paar neue Funktionen" sind es auch nicht, wenn die ECTS weiter vorgeschrieben bleiben bei der Studiengangsplanung. Denn hier ändert sich, wie ich vor drei Wochen ausführte, eben gar nichts. Aber Unrecht hat Stefan Kühl eben auch nicht, wenn er dem ECTS in seiner ursprünglichsten Funktion, als Anerkennungssystem von Studienleistungen, ein Scheitern attestiert. Und auch ich werde den Verdacht nicht los, dass sich die Amtschefs mit ihrer Behauptung, eigentlich sei das schon immer so gewesen und die Hochschulen hätten es nur nicht richtig verstanden, ein bisschen um ihre eigene Verantwortung herumschummeln.
Sei's drum. Die Kreditpunkte als Kerninstrument der Studienreform bleiben, das ist aus meiner Sicht entscheidend. Und mehr Großzügigkeit in den Hochschulen bei der Anerkennung anderswo erbrachter Studienleistungen ist seit langem vonnöten und wird regelmäßig angemahnt. Vielleicht klappt's ja diesmal. Insofern: Gut, dass wir das mal geklärt haben.
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Josef König (Montag, 15 August 2016 12:42)
Lieber Jan-Martin,
interessant! Wenn man sich neue Funktionen für die ECTS-Punkte überlegt, hätte ich einen konstruktiven Vorschlag: Für die Fähigkeit, Vorlesungsverzeichnisse zu lesen!
Nach vielen Jahren im Job dachte ich, es wäre mal Zeit, wieder den Kopf für was anderes zu nutzen und habe angefangen, nach für mich interessante Professoren in Bochum umzuschauen, welche Vorlesungen zur welchen Themen sie wann anbieten? Ich bin (fast) verzweifelt. Da ich viele Professoren kenne, habe ich mir dann doch die Abkürzung erlaubt, sie direkt anzuschreiben.
Wer sich aber durchs Vorlesungsverzeichnis durchwühlt, sollte zumindest fünf Punkte bekommen.
Herzlich
Josef
Jakob Schmidt-Hieber (Mittwoch, 26 Oktober 2016 09:26)
Die neuen Funktionen von ECTS sind auch die Alten! Sie sind als Planungs- und Mobilitätshilfe konzipiert worden. Daneben stehen die speziellen Anerkennungsregelungen, die beim Hochschulwechsel nichtwesentliche Unterschiede zulassen, was eben auch nichtwesentliche Unterschiede bei den ECTS-Punkten einschließt. Andernfalls wäre Mobilität ja nur dann möglich, wenn zwei autonome Hochschulen zufällig für einen bestimmten Bereich einen identischen Workload vorsehen. Eigentlich verbietet sich bei genauem Nachdenken daher jede andere Interpretation.
GoaCDtTd (Montag, 26 September 2022 05:59)
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