Stuttgarter Mengenlehre

Deutschlands Rektoren und Wissenschaftsminister diskutieren über die folgen des Baden-Württemberg-Urteils zur Professorenmehrheit. müssen auch anderswo die Hochschulgesetze umgeschrieben werden?

Foto: JJ Thompson
Foto: JJ Thompson

„Uni Aufstand in Nordrhein-Westfalen“, titelte die Wirtschaftswoche vor drei Jahren: Das neue „Hochschulzukunftsgesetz“ von Wissenschaftsministerin Svenja Schulze (SPD) habe „eine Protestwelle von beispielloser Geschlossenheit verursacht.“ In der ZEIT hatte ich schon 2011 gefragt: „Was will Svenja Schulze?“ und einen Teil der Antwort gegeben: die Hochschulräte, die externen Kontrollgremien, der Hochschulen, schwächen. Schulze selbst sagte einmal in einem Interview, die Hochschulräte seien „bisher niemandem gegenüber Rechenschaft pflichtig“, das müsse sich ändern.

Warum ich das hier so ausführlich rekapituliere? Weil ich mir vorstelle, wie Svenja Schulze in diesen Wochen ganz zufrieden mit sich ist. Das Urteil des baden-württembergischen Verfassungsgerichtshofs vor drei Wochen hat Wissenschaftspolitiker in allen Parteien auf dem falschen Fuß erwischt, Schulze nicht. Die Verfassungsrichter entschieden: Der Hochschulrat ist (zumindest im südwestlichsten Bundesland) zu mächtig. Durch die gegenwärtige Gewaltenteilung würden die Professoren in ihrer Wissenschaftsfreiheit eingeschränkt. Schulze wolle die Hochschulen wieder an die Kandare nehmen, schimpften die NRW-Rektoren bei Verabschiedung des Gesetzes vor zwei Jahren und priesen ihre vermeintlich bedrohte Autonomie. Nein, antwortete Schulze damals: Darum gehe es gar nicht, es gehe um mehr Transparenz und um Rückbindung der Rektorate in die Hochschulen hinein. Man kann wissenschaftspolitisch davon halten, was man will: Juristisch gesehen hatte die Ministerin einen guten Riecher.

 

Seit dem Urteil von Stuttgart diskutieren Rektoren und Wissenschaftsminister bundesweit, welche Auswirkungen der Richterspruch über die Grenzen Baden-Württembergs hinaus haben wird, und die ersten Bestandsaufnahmen fallen ziemlich einhellig aus: große. Sind die starken Rektorate am Ende? Und sind die Hochschulräte künftig bessere Kaffeekränzchen? 

 

„Am überraschendsten an dem Urteil war eigentlich die Überraschung, mit der es aufgenommen wurde“, sagt der Organisationssoziologe Marcel Schütz von der Universität Oldenburg. Schon 1973 hatte das Bundesverfassungsgericht (BVG) geurteilt, dass bei „Entscheidungen, die unmittelbar Fragen der Forschung oder die Berufung der Hochschullehrer betreffen“, mindestens 51 Prozent der Stimmen im Senat von Professoren stammen müssen, bei Fragen der Lehre 50 Prozent. Doch, so Schütz, über Jahrzehnte hinweg habe die Wissenschaftspolitik Stück für Stück die Governance der Hochschulen verändert, die Rektorate mit immer mehr Kompetenzen ausgestattet und damit faktisch das 1973er Urteil ignoriert. „Und jetzt ist die Verwunderung groß, dass die Richter sagen: Liebe Leute, das gilt schon noch, was das Verfassungsgericht damals entschieden hat.“

 

Tatsächlich ist das der Knackpunkt: Die Hochschulpolitik hat in allen Bundesländern auf unterschiedliche Weise die Illusion geschaffen, die 1973 festgelegte Professorenmehrheit lasse sich irgendwie umgehen – durch personelle Kreativität bei der Besetzung der Senate etwa oder noch häufiger, indem Entscheidungskompetenzen einfach aus den Senaten ausgelagert wurden. Ein aktuelles Beispiel: Vergangene Woche mussten die Universitäten bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) ihre Bewerbungsskizzen für die Exzellencluster anmelden. Während an vielen Universitäten die Senate mitentschieden haben, welche Projekte möglicherweise ins Rennen geschickt werden sollen, gab es anderswo Rektorate und Präsidien, die ihre Wissenschaftler zum Schaulaufen bestellten – um dann die Daumen zu heben oder zu senken. Eigentlich ein klarer Verstoß gegen die BVG-Logik.

 

Es sei denn, und das betonten auch die Stuttgarter Richter, die Kompetenzverschiebung wird flankiert von mehr Einflussmöglichkeiten der Professorenmehrheit bei der Wahl der Rektorate, denen so viel Macht zugestanden wurde. Sprich: Dann müssen die Professoren im Senat in der Lage sein, jede Wahl, die ihnen nicht passt, zu blockieren, und eigenmächtig auch die Abwahl von Rektoratsmitgliedern in Gang zu bringen.

 

Beides zumindest, sagen die Richter, geht nicht: Den Rektoraten einen maßgeblichen Einfluss auf die „wissenschaftsrelevanten Geschicke“ zu geben, und dann ihre Wahl ebenfalls aus der Hand der Professorenmehrheit nehmen. Und genau darum ist das baden-württembergische Urteil so weitreichend: weil die Rektorate fast überall im Land den besagten maßgeblichen Einfluss besitzen, die Professorenmehrheit im Senat aber (soweit ich sehe) nirgendwo bei Wahl und Abwahl eine derart zentrale Rolle erhalten hat.  

Hochschulpolitisch ein Erdbeben, juristisch aber alles erwartbar bei Kenntnis des 1973er Urteils?

 

Nicht ganz, sagt das Ministerium von Baden-Württembergs Wissenschaftsministerin Theresia Bauer (Grüne). Denn es sieht sogar noch eine Verschärfung gegenüber der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in mindestens zwei Punkten. Erstens hätten die Richter zusätzlich die Macht von Dekanen und Rektoratsmitgliedern im Senat beschnitten, sie zählen nicht mehr mit, um die vom BVG verlangte „Professorenmehrheit“ zu erfüllen. Anders formuliert: Professoren im Sinne der Professorenmehrheit sind nur die eigens in den Senat gewählte Hochschullehrer. Eine enorme Stärkung der Professoren-„Basis“, wobei zur Wahrheit gehört, dass die Rektoratsmitglieder und Dekane in vielen Bundesländern schon länger „stimmlos“ sind in den Senaten. Zweitens, sagt Bauers Ministerium, hätten die Stuttgarter Richter den Katalog der Entscheidungen, die unmittelbar die Wissenschaftsfreiheit betreffen, erweitert, so dass jetzt auch kleinteiligere haushaltsrechtliche und Budgetentscheidungen gehörten: „Grundlegende ökomische Entscheidungen der Hochschule sind nicht wissenschaftsfern“, befanden die Richter wörtlich.

 

Warum aber ist all das für Hochschulen in anderen Bundesländern wichtig? Natürlich, sagt Marcel Schütz, könnten sich die Wissenschaftsministerien anderswo auf den Standpunkt stellen, das Urteil des Verfassungsgerichtshofs gelte nur für Baden-Württemberg – und nichts tun. „Das kann auch eine Weile klappen, denn wo kein Kläger, da kein Richter.“ Nur: Wenn jemand klagt gegen ein Landeshochschulgesetz mit zweifelhaften Regelungen, ist ziemlich sicher, wie die darauffolgende Gerichtsverhandlung ausgehen wird.

 

Fest steht: Die Abwahl der Rektorate allein durch die Professorenmehrheit scheint ein Alptraum zu sein, der Wissenschaftspolitiker aller Parteien eint. In Thüringen zum Beispiel arbeitet die rot-rot-grüne Koalition gerade an einem neuen Hochschulgesetz, das unter anderem die Viertelparität bringen soll, also die gleiche Stimmenzahl im Senat für Professoren, Studenten, wissenschaftliche und sonstige Mitarbeiter. Bei Entscheidungen, die der Professorenmehrheit vorbehalten sind, müsste dann die Gruppe der Professoren jeweils Verstärkung erhalten – durch mehrfaches Stimmrecht oder indem man zusätzliche Professoren in einem erweiterten Senat abstimmen lässt. Die Präsidiumsmitglieder und Dekane werden übrigens künftig kein Stimmenrecht im Senat haben.

 

Thüringens Wissenschaftsminister Wolfgang Tiefensee (SPD) sagt, nach der baden-württembergischen Entscheidung werde der Entwurf voraussichtlich nicht noch einmal angefasst. „Unsere Juristen müssten schon gravierende Gründe anführen, bevor wir die die Eckpunkte verändern, und die kann ich derzeit nicht erkennen.“  Auch in Thüringen soll die Macht der Hochschulräte zurückgeschnitten werden – allerdings in Grenzen. „Ich halte es für keine gute Idee, wenn allein die Professorenmehrheit im Senat Präsidiumsmitglieder abwählen könnte.“ Das sei genauso falsch wie die bisherige Regelung, dass der Hochschulrat ohne Zustimmung des Senats zum Beispiel den Kanzler bestimmen konnte. „Darum schaffen wir das mit dem neuen Hochschulgesetz ab.“

 

Auch im Saarland berät das Parlament über ein neues Hochschulgesetz. Die Staatskanzlei der für die Hochschulen zuständigen Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) teilt mit, „wirkmächtige“ Professoren seien kein Novum in der Hochschulselbstverwaltung. Zugleich verweist Kramp-Karrenbauers Sprecherin darauf, dass auch das baden-württembergische Urteil eben „keine bestimmte Hochschulorganisation“ vorschreibe. Hauptsache sei, dass die gewählte Organisation „die Entfaltung der Wissenschaft gewährleistet.“ Sprich: Solange die Rektorate nicht zu allmächtig sind, braucht es die besonderen (Ab-)Wahlmöglichkeiten nicht. Überhaupt ist das ein interessanter Nebeneffekt des Stuttgarter Urteils. Überall betonen die Ministerien jetzt gebetsmühlenartig, die Rektorate seien gar nicht so einflussreich, weshalb auch die Abwahlregelungen nicht so streng sein müssten.

 

Konkret: Dem Gesetzentwurf zufolge soll künftig eine Zwei-Drittelmehrheit im Senat in der Lage sein, den Präsidenten abzuwählen, bei der Wahl soll es eine brisante Regelung geben: Sowohl Senat wie Hochschulrat müssen sich mehrheitlich für einen Kandidaten aussprechen. Gelingt das nicht innerhalb von zwei Wahlgängen, entscheidet das Wissenschaftsministerium. Brisant ist die Regelung deshalb, weil sich an der Universität des Saarlands Senat und Hochschulrat seit Monaten gegenseitig bei der Neuwahl des Präsidenten blockieren und nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten verständigen konnten. Der Amtsinhaber Volker Linneweber geht im Februar in den Ruhestand, dann müsste sein Vize kommissarisch übernehmen – der ausgerechnet einer der zwischen den Gremien umstrittenen Kandidaten ist (laut Saarländischem Rundfunk zeichnet sich übrigens möglicherweise eine Lösung ab). Kommt das neue Gesetz so durch, würde man eine ähnliche Situation künftig vermeiden – womöglich aber auf Kosten einer neuen Klage von Professorenvertreter, die ihre Stimmenmehrheit nicht genügend gewürdigt sehen.

Zwei Beispiele unter vielen. An den Hochschulen zählen sie derweil schon mal die Sitzverteilung in den Senaten durch und studieren das Kleingedruckte in den Satzungen. Wo müssen mehr Professoren rein? Und wer darf bei welchen Fragen mit wie vielen Stimmen entscheiden? Wobei Organisationssoziologe Schütz glaubt, bei allen jetzt anstehenden Veränderungen seien die praktischen Auswirkungen des Urteils am Ende womöglich doch begrenzt. Denn ganz gleich, welche Kompetenzen Rektorat, Hochschulrat und Senat auf dem Papier hätten: „Die Praxis zeigt, auf Dauer wird eine Hochschule ohnehin nicht gegen den Senat zu führen sein.“   

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Kommentare: 1
  • #1

    Prof. Klaus Hekking (Montag, 05 Dezember 2016 18:20)

    Es steht ausser Frage, dass die Professoren an einer Gruppenuniversität in allen Fragen, die unmittelbar Lehr- und Forschungstätigkeiten der Professoren betreffen die Mehrheit haben müssen. Auf der anderen Seite müssen die Universitäten und Hochschulen strategiefähig bleiben, dh in Angelegenheiten, die nicht unmittelbar die Wissenschaftsfreiheit betreffen, zügig und jenseits von Partikularinteressen einzelner Professoren zu entscheiden. Anderenfalls werden sie es in einem immer globaler werdenden Wettbewerb sehr schwer haben.

    Die Kunst einer gesetzlichen Neuregelung in Baden-Württemberg wird sein, eine Lösung zu finden, die Strategiefähigkeit der Hochschule und Wissenschaftsfreiheit der Professoren vernünftig miteinander verbindet.

    Dabei sollten alle Beteiligten mit Augenmaß handeln, auch die Standesvertreter der Professoren, denn das Urteil des VerfG Baden-Württembergbezieht sich nur auf die sog. "Gruppenuniversität". Das ist aber nur eins von anderen denkbaren Modellen.Das BVerfG hat in seinem Hochschulurteil von 1973 ausdrücklich festgehalten:

    "Die Garantie der Wissenschaftsfreiheit hat weder das überlieferte Strukturmodell der deutschen Universität zur Grundlage,
    noch schreibt sie überhaupt eine bestimmte Organisationsform des Wissenschaftsbetriebs an den Hochschulen vor. Das organisatorische System der "Gruppenuniversität" ist als solches mit Art. 5 Abs. 3 GG vereinbar." (also nicht vorgeschrieben!, Anm. des Verf)
    Ob damit die zweckmäßigste Form der Hochschulorganisation gefunden ist, hat das BVerfG nicht zu entscheiden"

    In einer weiteren Entscheidung aus dem Jahre 2004 (Brandenburg-Urteil) hat das BVerfG weiter entschieden, dass sogar "die gesetzliche Zuweisung von Entscheidungen an monokratische Leitungsorgane von Hochschulen mit Art.5 Abs.3 GG vereinbar ist, sofern die Kompetenzen sachlich begrenzt sind und zugleich organisatorisch hinreichend gewährleistet ist, dass von ihrer Wahrnehmung keine strukturelle Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit ausgeht.

    Mit anderen Worten: Der baden-württembergische Gesetzgeber hat durchaus einen beachtlichen Ermessensspielraum, um die University Governance so zu regeln, dass Wissenschaftsfreiheit der Professoren und Strategiefähigkeit und Zukunftsfähigkeit der Universität so unter einen Hut gebracht werden, und ich bin sicher, er wird das so weitsichtig tun, dass nicht wie in den 70er Jahren wieder Studenten mit dem Slogan demonstrieren müssen: "Unter den Talaren, der Mief von 1000 Jahren".