Bleiben die digitalen Lehrplattformen von Januar an leer? Müssen die Studenten zurück an die Kopierer? Petra Hätscher von der Universität Konstanz über die bizarren Folgen eines Urheberrechtsstreits
Frau Hätscher, blättern Sie schon in Katalogen für neue Kopierer?
In der Hinsicht sind wir gut ausgestattet in Konstanz. Unsere Drucker können nämlich alle auch kopieren.
Wobei die Druckfunktion von Januar an kaum noch genutzt werden dürfte: Das Einstellen von Buchauszügen und Zeitungsartikeln auf digitalen Lern-Plattformen ist dann nicht mehr erlaubt ...
... und jeder muss wieder jeden Artikel und jede Buchseite einzeln per Hand kopieren. Was im 21. Jahrhundert natürlich irrsinnig ist. Aber Sie haben Recht: Genau das droht uns, wenn Kultusminister- (KMK) und Hochschulrektorenkonferenz (HRK) sich nicht einigen mit der Verwertungsgesellschaftsgesellschaft Wort (VG Wort), die die Urheberrechter der Autoren vertritt.
Der Streit, der sich da in den vergangenen Wochen zugespitzt hat, ist für Außenstehende ziemlich komplex. Entwirren Sie bitte die Fäden für uns. Eigentlich hatten sich KMK, HRK und VG Wort schon geeinigt, und plötzlich dann doch nicht?
Das Problem war, dass es eine Einigung unter Druck war. Der Bundesgerichtshof hat 2013 entschieden, dass die VG Wort das Recht hat, von den Hochschulen die Abrechnung jedes einzelnen Textes zu verlangen, der digital genutzt wird. Die KMK konnte also gar nicht anders, als einen entsprechenden Rahmenvertrag mit der VG Wort abzuschließen. Und die Hochschulen konnten gar nicht, als daraufhin auf die Barrikaden zu gehen.
Ist aber doch in Ordnung, dass die Autoren für ihr Urheberrecht vergütet werden.
Das bestreitet auch keiner. Darum gab es vorher eine pauschale Abrechnung. Das heißt, die VG Wort wurde anhand regelmäßig erhobener Durchschnittswerte pauschal vergütet – was der Bundesgerichtshof verworfen hat. Wogegen wir Hochschulen uns wehren, ist der absurde organisatorische Aufwand, der bei der Einzelabrechnung entsteht: Für jeden Text sollen die Zahl der hochgeladenen Seiten und die ISBN gemeldet werden. Ein Pilotversuch an der Universität Osnabrück hat ergeben, dass die Bürokratiekosten für die korrekten Einzelmeldungen teurer sind als die daraufhin fälligen Autorenvergütungen. Dem konnten wir nicht zustimmen.
Und deshalb muss von Januar an wieder per Hand kopiert werden?
Genau. Die bisherige Regelung, wie sie im Urheberrechtsgesetz festgelegt war, läuft laut dem Urteil des Bundesgerichtshofs am 31. Dezember 2016 ab.
Die KMK handelt zum Ersatz einen Vertrag für die Hochschulen aus, und die Hochschulen wollen nicht mitmachen: Hätten die Minister das nicht schlauer anstellen können?
Kaum. Die VG Wort hatte ja alle rechtlichen Trümpfe in der Hand. Die einzige Alternative für die KMK wäre gewesen, keine Neuregelung herauszuhandeln. Das ging natürlich nicht. Und aus Sicht der
KMK war ja nicht absehbar, dass die Hochschulen sich so geschlossen weigern, dem Rahmenvertrag zuzustimmen.
In der Tat: Selten treten die Hochschulen so einig auf wie in diesem Fall. Es scheint fast so, als wäre die Eskalation heilsam gewesen.
Das kann man so sehen. Offenbar brauchte die VG Wort die öffentliche Aufmerksamkeit, um einzulenken. So interpretiere ich ihre Ankündigung vom vergangenen Freitag, gemeinsam mit KMK und HRK bis Jahresende „einvernehmlich eine Lösung vorzulegen“. Und bis September 2017 dann soll unter Berücksichtigung des Gerichtsurteils „eine praktikable Lösung“ implementiert werden.
Was heißt denn das konkret?
Wenn ich das wüsste. Die Pressemitteilung lässt verschiedene Deutungen zu. Ich würde mich auf jeden Fall nicht darauf verlassen, dass bis 1. Januar alles klar ist.
Also doch alles per Hand kopieren.
Wir haben unseren Dozenten auf jeden Fall schon mal genaue Handreichungen zur Verfügung gestellt, wie sie im neuen Jahr Bücher, Zeitungsartikel und andere Quelle rechtssicher in ihren
Lehrveranstaltungen einsetzen können.
Mal ehrlich: Vor 20, 30 Jahren war das Kopieren von Büchern und Skripten der Normalfall, und die Studenten waren auch nicht dümmer als heute. Vielleicht ist es gar nicht schlecht, wenn sich die Leute mal wieder ein Buch per Hand raussuchen müssen.
Mit derselben Logik könnte ich von Ihnen verlangen, dass Sie Ihre Artikel ab morgen wieder mit der Schreibmaschine schreiben. Das ging früher ja auch. Aber die Welt ist heute eine andere, auch die Welt des digitalen Lernens. Wir laden den Studierenden die Literatur ja nicht auf die Lernplattform, weil sie zu faul oder zu dumm sind, sie sich selbst aus dem Regal zu holen. Über die Lernplattform haben sich ganz andere Formen des digitalen Zusammenarbeitens entwickeln, außerdem sind die Studierenden das Bearbeiten der Texte mithilfe digitaler Instrumente gewöhnt.
Ist das alles nur ein Thema für Studenten?
Nein, auch für die Forschung brauchen wir eine vernünftige Regelung. Stichwort Data Mining: Hier geht es darum, große Textmengen nach bestimmten Begriffen und Anhaltspunkten zu durchsuchen.
Nehmen wir alle Zeitungsartikel eines bestimmten Jahres. Natürlich müssen die Autoren dafür vergütet werden, also brauchen wir eine Lizenz. Doch in einem zweiten Schritt müssen Forscher dann die
digitalisierten Texte bearbeiten können, und das verhindern die Verlage oft mithilfe technischer Schranken. Es gibt noch weitere Baustellen, beim Zweitveröffentlichungsrecht zum Beispiel, das
heißt, dass wissenschaftliche Autoren ein Jahr, nachdem ihr Text in einem Verlag erschienen ist, ihn selbst nochmal woanders veröffentlichen dürfen.
Warum müssen HRK, KMK und VG Wort das überhaupt per Rahmenvertrag regeln? Warum macht die Bundesregierung nicht einfach ein neues Gesetz, das das Problem aus der Welt schafft?
Eine berechtigte Frage. Auf dieses Gesetz, genauer gesagt, auf den reformierten Paragraphen 52a des Urheberrechtsgesetzes warten wir alle ungeduldig, und das schon lange. Es gibt dazu mittlerweile einen Entwurf im Bundesjustizministerium, der aber noch nicht öffentlich ist. Ich würde mir wünschen, dass ein wissenschaftsfreundliches Urheberrechtsgesetz noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet wird.
Dem Vernehmen nach sollen sich KMK, HRK und VG Wort am Donnerstag auf ein Moratorium geeinigt haben. Demnach würde das bisherige Verfahren bis zum 30. September kommenden Jahres weiterlaufen
– und die Schlangen am Kopierer würden ausbleiben. Allerdings, so berichtet Anja Kühne im Tagesspiegel, hätten die Verhandler der VG Wort den Beschluss noch nicht mit
den Gremien der Gesellschaft abgestimmt. Armin Himmelrath zitiert auf Spiegel Online aus einem Brief des
NRW-Wissenschaftsstaatssekretärs Thomas Grünewald an die Hochschulen, der die Übergangslösung erläutert.
Für die Zeit nach September 2017 diskutieren die Unterhändler offenbar über eine Art Flatrate als möglichen Kompromiss. Demnach müssten die Hochschulen künftig einmal im Semester die Zahl
der Studenten und die Zahl der online eingestellten Titel an die VG Wort melden. Wie ebenfalls der Tagesspiegel berichtete, wäre alternativ eine Software
denkbar, mit der die Dozenten die Literatur für ihre Studenten über ein Portal der Universitätsbibliotheken hochladen, das Titel und Seitenzahlen automatisch registrieren würde.
Unterdessen steigt der Druck aufs Bundesjustizministerium, den Gesetzentwurf zur Einführung einer allgemeinen Bildungs- und Wissenschaftsschranke im Urheberrecht vorzulegen. Es bedürfe
dringend eines "zeitgemäßen Urheberrechts, das den Belangen von Bildung und Wissenschaft gerecht wird", forderten der bildungs- und forschungspolitische Sprecher der Unionsfraktion im
Deutschen Bundestag, Albrecht Rupprecht, und der zuständigen Berichterstatter Tankred Schipanski.
Kommentar schreiben
GoaCDtTd (Montag, 26 September 2022 06:37)
1