Die Abiturienten von heute können nicht mehr richtig Mathe, warnen 130 Professoren und Lehrer in einem "Brandbrief". Dabei unterliegen sie einer Fehlwahrnehmung.
DER TAGESSPIEGEL HAT gerade einen ziemlichen Scoop gelandet. 130 Professoren und Lehrer haben einen, wie das immer so schön heißt, „Brandbrief“ verschickt an die Bildungspolitik von Bund und Ländern, und der Tagesspiegel machte ihn gestern öffentlich. Den Abiturienten mangele es an mathematischem Grundwissen, warnen die Unterzeichner, selbst die Bruchrechnung werde nicht sicher beherrscht. Damit seien viele Schulabgänger nicht mehr studierfähig, zumindest nicht in Studiengängen wie Wirtschaft, Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik.
Der Nachhall heute in der Medienlandschaft auf den Aufschrei ist gewaltig, viele Lehrer, Eltern und Wissenschaftler sehen sich bestätigt in ihrem gefühlten Wissen. Endlich trauen sich die Leute mal zu sagen, wie es wirklich ist!
Die Frage ist allerdings: Ist es wirklich so? Stimmt es, wie die Unterzeichner kritisieren, dass „die Bildungsstandards“, die nach dem Pisa-Schock von 2001 eingeführt wurden, schuld sind an der Misere, weil sie ein Mindestniveau zum Standard erklärt haben? Machen sie den Mathematikunterricht kaputt, weil sie auf eine zweifelhafte „Kompetenzorientierung“ abheben, anstatt das Erlernen der Grundlagen einzufordern? Ist es so, wie Tagesspiegel-Redakteurin Susanne Vieth-Entus heute schreibt, dass die Lehrer und Schüler sich nur auf die Pisa-spezifischen Aufgaben eingestellt und so etwas bessere Befunde eingefahren hätten, „ohne dass sich an der grundsätzlichen Einstellung zur Mathematik etwas geändert hätte“?
Was wundert an dem Brief selbst wie an seiner öffentlichen Kommentierung ist die unverhohlene Skepsis der empirischen Bildungsforschung gegenüber, die da zum Ausdruck kommt. Während sonst überall gewarnt wird vor der aufkommenden Wissenschaftsfeindlichkeit, die unsere Demokratie gefährde, wird der Bildungsforschung mit einem Federstrich die Aussagekraft ihrer Erkenntnisse abgesprochen. Ein erstaunlicher Vorgang.
Halten wir uns mal an die Fakten. Erstens: Es ist gibt unzählige Studien, die belegen, das Pisa weitaus mehr misst als nur die Fähigkeit der Schüler, sich auf bestimmte Aufgabentypen einzustellen. Natürlich kann man alle diese Untersuchungen bezweifeln, aber eigentlich nur, indem man das wissenschaftliche Fundament der empirischen Bildungsforschung insgesamt in Frage stellt.
Das gleiche gilt zweitens für die angegriffene Kompetenzorientierung: Es fällt schwer, einen ernsthaften Gegensatz zu konstruieren zwischen dem im Brief geforderten Beherrschen fachlicher Grundfertigkeiten und dem Anspruch moderner Bildungswissenschaft, diese Grundfertigkeiten dann auch anwenden zu können. Ohne Grundlagen keine Anwendung, so einfach ist das. Insofern sind Bildungsstandards, die über die Beschreibung solcher Problemlösekompetenzen definiert werden, sehr wohl eng verknüpft mit dem fachlichen Grundwissen.
Drittens: Die Aufgaben, mit denen die Einhaltung der Bildungsstandards überprüft werden sollen, werden am im Brief ebenfalls kritisierten Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) entwickelt, und natürlich finden sich unter den IQB-Testaufgaben etliche, die zu leicht sind, zu schwer, wirklichkeitsfremd oder gar lächerliche Szenarien enthalten. Doch was ist diese Feststellung wert angesichts Tausender ebenfalls misslungener Aufgaben, die sich Mathematiklehrer überall im Land ausdenken (übrigens neben Tausenden anderen, die hervorragend sind)?
Fest steht im Gegensatz dazu, dass nur dank des zentralen Abitur-Aufgabenpools, den ebenfalls das IQB entwickelt hat, etwa in Hamburg wie selten zuvor über die Qualitätsverbesserung des Mathematikunterrichts gerungen wird – denn erst die Bildungsforschung hat die nötige Transparenz in die Auseinandersetzung gebracht.
Halten wir uns an all die Fakten, gelangen wir ziemlich schnell zum Kern der Auseinandersetzung um den Brandbrief. Pisa belegt, dass die 15-Jährigen heute nicht ein klein wenig, sondern deutlich fitter sind in Mathematik als die Neuntklässler Anfang der 2000er Jahre. Sie haben bessere Grundlagen und sie können diese zielsicherer anwenden. Warum aber ignorieren das die Professoren und Lehrer? Warum sprechen Kommentatoren lieber der Bildungsforschung ihre Wissenschaftlichkeit ab, als diese Tatsache akzeptieren zu können?
Weil sie einer Fehlwahrnehmung unterliegen. Heute studieren 50 Prozent mehr junge Menschen als 2003. Viel mehr Jugendliche absolvieren das Abitur. Eigentlich sollte man keinem Mathematiker erklären müssen, was das bedeutet: Ein größerer Anteil eines Altersjahrgangs an den Hochschulen bedeutet trotz besserer Durchschnittsleistungen mehr Studienanfänger mit schwächeren Mathematikkenntnissen. Punkt. Es kann also sehr wohl sein, dass die Schüler in Deutschland heute besser Mathe können als vor 15 Jahren und gleichzeitig die Studienanfänger im Schnitt mit weniger Vorkenntnissen in die Hörsäle strömen.
Kann, soll, muss man das kritisieren? Es kommt darauf an. Wenn man der Meinung ist, dass mehr Bildungsbeteiligung das Niveau der Leistungsstarken senkt, dann ja. Dann muss man sie wohl als „Gleichmacherei“ diskreditieren. Allerdings gibt es für die These, dass die Starken unter der wachsenden Zahl der (zunächst) Leistungsschwächeren leiden, keinerlei empirischen Belege.
Im Gegenteil aber gibt es sehr wohl Belege dafür, dass die Öffnung von Abitur und Hochschulen nicht dümmere Schüler in neue Bildungshöhen katapultiert, sondern solche mit den schlechteren sozialen Voraussetzungen. Die sehr wohl in der Lage wären, aufzuholen und mitzuhalten – wenn man sie den gerade am Übergang zwischen Schule und Hochschule besonders unterstützt. Darauf, das weiß die Bildungspolitik längst, wird es in den nächsten Jahren besonders ankommen.
Und ja, keine Frage: Mit der Zahl der Studienanfänger steigt die auch Herausforderung für die Hochschullehrer, mit diesen offensichtlichen Schwächen vieler First-Generation Students umzugehen. Ist das ein Grund, sich in die 80er Jahre zurückzuwünschen? Für einige offenbar schon. Auf jeden Fall ist es für sie der Grund, unter den Stichwörtern „Pisa, Kompetenzorientierung & Co“ zu einem Rundumschlag gegen die empirische Bildungsforschung insgesamt auszuholen.
Produktiver wäre es freilich, ihre Erkenntnisse nutzen, um Antworten zu finden auf die eine berechtigte Frage: Wie bringen wir das mathematische Grundwissen zu jenen Schülergruppen, die es noch nie hatten – erst recht nicht in den vermeintlich guten alten Vor-Pisa-Zeiten? Genau an der Stelle wird es spannend. Und der "Brandbrief" gähnend langweilig.
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kernpanik (Donnerstag, 23 März 2017 15:44)
Toller Kommentar, Danke!
Noch zwei kleine Ergänzungen:
1) Die Aufgaben, die am IQB entwickelt werden, werden genauer betrachtet eigentlich von Lehrkräften aus dem gesamten Bundesgebiet entwickelt; das IQB übernimmt dabei vor allem die Koordination. Mehrere Fachdidaktiker_innen und Psycholog_innen sind beratend an der Aufgabenentwicklung beteiligt.
2) Extrem leichte und extrem schwere Aufgaben sind in den Bildungsstandards enthalten, weil dies ein Erfordernis der zur Auswertung eingesetzten statistischen Methode ist. Damit diese richtig funktioniert, muss es einige Aufgaben geben, die sogar von sehr leistungsschwachen Schüler_innen korrekt gelöst werden, sowie Aufgaben, die nur von den leistungsstärksten Schülerinnen richtig gelöst werden.
Karlchen Mühsam (Freitag, 24 März 2017 11:53)
Lieber Herr Wiarda,
vielen Dank für den guten Kommentar. Ich habe mich über den offenen Brief maßlos geärgert.
Der Übergang von der Schule zur Hochschule in der Mathematik bedarf einer genauen Betrachung. Der Übergang war selbst noch Ende der 90er Jahre für sehr gute Abiturienten mit guten Noten im Mathematik-Leistungskurs extrem schwierig. Schon damals bestand ein Gap zwischen den in der Schule erworbenen Fähigkeiten und den Eingangsanforderungen eines Studiums. Hieran hat sich in den letzten Jahren auch nichts geändert. Die Curricula vieler mathematischer Fakultäten sind trotz Einführung der Bologna-Studiengänge in der Studieneingangsphase praktisch unverändert geblieben.
Hierzu räumte ein Dekan einer Mathematischen Fakultät mir gegenüber einmal unverblümt ein, dass es das Ziel des Mathematikstudiums sei, geeignete wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auszubilden. Dies würde durch die aktuellen Curricula ausreichend gewährleistet. Änderungen der Studienstruktur seien daher nicht erforderlich.
Ich persönlich sehe in der curricularen Änderung der Studieneingangsphase viel Verbesserungspotential. M.E. ist es möglich, die Currciula so weiterzuentwickeln, dass sie auf dem tatsächlich vorhandenen Schulwissen aufbauen und einen Großteil der Absolventinnen und Absolventen auch ohne Abstriche in der wissenschaftlichen Qualität mit den vorhandenen personellen Ressourcen gleichwohl zur Aufnahme einer Promotion befähigen.
Leider sind die diversen Sonderprogramme für extracurriculare Angebote nicht unbedingt ein guter Anreiz, die notwendigen Reformen endlich anzugehen. Kritische Lehrende werden mit ihrem Anliegen allein gelassen und müssen - wenn sie etwas verbessern wollen - wenig zielführendes Mikromanagement auf Lehrveranstaltungsebene betreiben.
MINTiKi (Samstag, 25 März 2017 16:57)
Also dass zB die Mathemaitk der Oberstufe NICHT weniger wird im Stoff ist, ist zumindest in Sachen NICHT so - und das zeigt mir der Vergleich mit meinem 10 Jahre jüngeren Bruder, der sich darüber beschwert hat - (wir hatten beide Matheleistungskurs, beide in der gleichen Schule und ich kenne seinen Lehrer noch, also es liegt nicht am Lehrer oder so) und der Vergleich mit den Lehrbüchern meiner Eltern ist erschreckend (beide haben damals über Umwege Abi gemacht, daher ist es der Vergleich bis zur 10. Klasse der Lehrbücher von Gymnasium-Lehrbüchern mit Lehrbüchern auf dem Niveau von heute "Mittelschule" und da hat die damalige Mittelschule besser abgeschnitten, als meine Gymnasiumbücher)!!! Aber da ich auch eine 3 Jahre ältere Schwester habe, konnte ich auch da sehen, wie schleichend diese Kürzungen vorgenommen werden und auch bei meinen jüngeren Cousinen und Cousins sieht man den schleichenden Prozess.
Und es betrifft nicht nur Mathe - ich hatte die Orbithaltheorie noch im Chemiegrundkurs 11/12 - mein Bruder nicht.
Und das sind ja alles keine subjektiven Empfindungen!
Und wenn ich dann den Stand der Mathematik einiger MItstudenten aus anderen Bundesländern verglichen habe beim Studium, dann ist das zum Teil mehr als traurig
F. Lemmermeyer (Samstag, 25 März 2017 21:06)
Halten wir uns mal an die Fakten: die Studien belegen gar nichts. Pseudowissenschaften wie die empirische Bildungsforschung haben dieselbe Qualität wie die empirische Astrologie und das empirische Bleigießen. Mit den von Ihnen angeführten empirischen Studien wischen sich Wissenschaftler (ich meine richtige) nicht einmal den Hintern ab. Und wenn Sie als Außenstehender mehr von unserem Bildungssystem zu verstehen meinen als Lehrer und Dozenten - kommt Ihnen das nicht ein wenig seltsam vor? Glauben Sie wirklich, Lehrer müssten ihre Fakten aus Studien beziehen? Sie tun mir ehrlich leid.
MG (Montag, 27 März 2017 22:03)
Ich denke, wenn Sie schreiben, dass Studien dies oder jenes *belegen*, sollten Sie noch einmal bei Popper nachlesen, was da zur Falsifizierbarkeit steht.
Als jemand, der eine naturwissenschaftliche Ausbildung genossen hat, konnte ich Ihren Beitrag ab dieser Zeile nicht mehr ernst nehmen.
O. Karottki (Dienstag, 28 März 2017 13:34)
Wer ständig auf Fakten zurückgreift, dem sei das aktuelle Buch von "Vom Streifenhörnchen zum Nadelstreifen - Das deutsche Bildugnswesen im Kompetenztaumel" (zu Klampen Verlag) dringened zur Lektüre empfohlen. Der Autor analysiert dort in einer für jedermann verständlichen teilweise satirischen Sprache dutzende Zentralabituraufgaben verschiedener Bundesländer in verschiedenen Fächern und seziert geradezu beispielhafte PISA-Aufgaben und legt auf über 300 Seiten auch den Vermessungswahn der Bildungsvermesser offen. Wenn es in Leistugnskurzentralabituraufgaben nur noch auf Lesekompetenz vorgegebener Texte und Grafiken ankommt, spielt die dahinter liegende Sache, um die es eigentlich gehne müsste, überhaupt keine Rolle mehr, sie kann sogar falsch sein, denn darauf kommt es nicht an. Wenn im Arbeitsmaterial dem Schüler mitgeteilt wird "In den Laubwäldern Nordmamerikas legen Streifenhörnchen. Sie ernähren sich vor allem von Samen, insbesondere von Eicheln" und der Schüler für das reine Abschreiben der vorgegebenen Informationen die volle Punktuahl erhält, ist das Realsatire pur. Derartige "komptenzorientierte" Aufgaben haben nur ein Ziel: das Erreichen der von der OECD vorgegebenen Abiturientenquote von rund 70% auf dem untersten gemeinsamen Nenner. Die Rechnung für diese Art von "Bildungsexpansion" wird Deutschland, das nicht wie die anglo-amerikanischen Länder über eine vertikales Bildungssystem verfügt, zeitversetzt präsentiert bekommen.
A. Schwenk (Dienstag, 28 März 2017 15:54)
In Ihrem Blog heißt es: "Weil sie einer Fehlwahrnehmung unterliegen. Heute studieren 50 Prozent mehr junge Menschen als 2003. Viel mehr Jugendliche absolvieren das Abitur. Eigentlich sollte man keinem Mathematiker erklären müssen, was das bedeutet: Ein größerer Anteil eines Altersjahrgangs an den Hochschulen bedeutet trotz besserer Durchschnittsleistungen mehr Studienanfänger mit schwächeren Mathematikkenntnissen. Punkt".
Mit Ihrem Argument kämen zwar absolut mehr schwächere Anfänger an die Hochschulen, aber der Prozentsatz müsste stabil bleiben. Aber genau das widerspricht unseren Erfahrungen, und genau das ist eine Botschaft des offenen Briefes.
Zum Beleg nenne ich einige Beispiele aus verschiedenen Klausuren mit Prozentzahlen, elektronische Hilfsmittel waren nicht erlaubt:
1) In einem rechtwinkligen Dreieck musste der Satz des Pythagoras angewendet werden, eine Seite hatte die Länge b, eine andere Seite die Länge 2b. 14 von 36 (=39%) Klausurteilnehmern haben 2b ohne Klammer, also so 2b^2, quadriert.
2) Den Kehrwert einer Summe 1/(1- 2j) haben 16 von 56 (=29%) Teilnehmern so gebildet:
1-(2j)^(-1)
3) Bei einer Integrationsaufgabe, bei der nach dem Einsetzen der Grenzen ein Bruch entstanden war, der sich nach Kürzen als ganze Zahl herausstellte, haben zwar etliche ein richtiges Ergebnis produziert, aber nicht vor dem Ausrechnen gekürzt. 27 Teilnehmer konnten insgesamt die Aufgabe soweit bearbeiten, dass sie zur Stelle mit den Brüchen vorgedrungen waren, von denen haben 16 (16/27 =59%) wie oben beschrieben, nicht vor dem Rechnen gekürzt.
Man könnte von den Hochschulen verlangen, dass sie das reparieren. Aber das bräuchte Zeit und Mittel und wäre nicht so effektiv, als wenn es in der Schule über viele Jahre ausreichend geübt würde.
Das Problem ist, dass man außerhalb der Hochschulen nicht sieht, auf welchem niedrigen elementaren Niveau und in welch erschreckender Häufigkeit die Fehler nun auftauchen. Es geht hier nicht um "höhere Mathematik", sondern um das Beherrschen der elementaren Rechenregeln. Die oben beschriebenen Fehler hat es auch schon früher gegeben, doch nur als Ausnahme. Neu ist, wie häufig sie nun auftauchen. Und das kann man nicht nur damit erklären, dass nun 50% mehr junge Menschen als 2003 die Hochschulzugangsberechtigung erwerben. Um diese Veränderungen zu erkennen, brauche ich auch keine empirische Bildungsforschung, dass sehe ich bei jeder Klausur, die ich korrigiere. Punkt.
Jan-Martin Wiarda (Donnerstag, 30 März 2017 07:39)
Darauf hatte ich gehofft und gewartet. Dass sich nach dem "Brandbrief" endlich auch jene Mathematiker öffentlich zu Wort melden, die eine andere Perspektive auf die Kompetenzorientierung und die Bildungsstandards haben. Sie scheinen mir – auch wenn ihre Replik nur auf rund 50 und nicht 130 Untereichner kommt – oft die weniger laute, mitunter sogar schweigende Mehrheit zu sein. Heute berichtet der Tagesspiegel über die überfällige Gegenrede, und der Brief selbst findet sich hier: http://www.tagesspiegel.de/downloads/19590132/1/mathematiker-distanzieren-sich-vom-mathematiker-brandbrief.pdf
TMG (Samstag, 01 April 2017 12:35)
Lieber Herr Wiarda,
wie üblich in Ihren Beiträgen sind Sie auch im vorangegangen Beitrag
unpräzise und oberflächlich in der Darstellung von Sachverhalten.
Zu Wort gemeldet haben sich in der Replik auf den Brandbrief nicht Mathematiker, sondern die Fachdidaktiker der Mathematik.
Das sind genau diejenigen Hochschullehrer, die NICHT konfrontiert sind mit den zunehmend schlechten Eingangsvoraussetzungen von Mathematikstudenten, weil sie an der mathematischen Fachausbildung an Universitäten gar nicht beteiligt sind.
Jan-Martin Wiarda (Samstag, 01 April 2017 14:16)
Liebe/r TMG, ich freue mich über Kritik und Widerspruch. Worüber ich mich nicht freue, sind pöbelhafte Kommentare, die auch noch ohne Klarnamen verfasst werden. So überzeugen Sie ganz sicher nicht von Ihrer Sache. Im Übrigen finde ich schon die von Ihnen betriebene scharfe Grenzziehung zwischen Mathematikern und Mathedidaktikern aufschlussreich. In diesem Sinne: gern diskutieren, aber nicht persönlich werden, okay? Beste Grüße, Ihr J-M Wiarda
TMG (Samstag, 01 April 2017 15:03)
Lieber Herr Wiarda,
die Grenzziehung zwischen Mathematikern und Mathematikdidaktikern
sollten Sie in der Tat aufschlussreich finden.
Dr Bernhard Müller (Sonntag, 02 April 2017 21:16)
Lieber Herr Wiarda,
leider führt kein Weg daran vorbei, das wissenschaftliche Fundament der empirischen Bildungsforschung infrage zu stellen. Aber bitte keine eristischen Kunstgriffe: Mit Wissenschaftsfeindlichkeit hat das nichts zu tun, sondern vielmehr mit der Verteidigung methodischer Grundlagen, die eigentlich selbstverständlich sein sollten.
Die Kollegen aus der empirischen Bildungsforschung unterliegen weitgehend dem Irrtum, dass sich man mit Quantität und Statistik qualitative Mängel in der Datenerhebung ausgleichen kann. Das Wort "systematischer Fehler" - das jeder Student der Naturwissenschaften spätestens im Anfängerpraktikum lernt - scheint in dieser Disziplin weitgehend unbekannt zu sein. Psychologische "Messungen" generieren nun einmal leider nur sehr "weiche" Daten, und wer da nicht die Fähigkeit zur Kritik an den eigenen Ergebnissen mitbringt, produziert entweder zufälligen Müll oder reproduziert die eigenen Vorteile. Die Resultate sieht man z.B. hier in Form von windiger Replizierbarkeit:
http://science.sciencemag.org/content/349/6251/aac4716
Dazu paart sich dann bei PISA, IQB, & Co. noch, dass sich Kollegen der wissenschaftliche Debatte de fact entziehen, indem man politisch gewollte Auftragsforschung mit Erfolgsgarantie betreibt. Experimente mit tausenden von Schülern >darf< der einfache PISA-Kritiker gar nicht so einfach durchführen; denn dazu bedürfte es entsprechender Unterstützung aus der Ministerialbürokratie.
Wenn Sie Max Weber gelesen haben, wissen Sie, dass man einer solchen Verquickung von Politik und Wissenschaft kritisch gegenüberstehen muss, besonders wenn sie dazu führt, dass beide Seiten sich gegenseitig auf die Schulter klopfen. Besonders perfide ist übrigens, wie PISA Politik betreibt: Gibt es Erfolge zu verzeichnen, nimmt man sie für sich selbst in Anspruch, gibt es Rückschläge (wie das Versagen des G8 in vielen Bundesländern), sucht man sich Sündenböcke ("faule Lehrer").
Dazu passt, dass viele Studien aus der empirischen Bildungsforschung gar nicht darauf angelegt sind, die Effekte der bildungspolitischen Wohltaten tatsächlich zu messen. Die Konzepte der verschiedenen PISA-Studien unterscheiden sich massiv, so dass Vergleiche der verschiedenen Duchgännge unmöglich sind (was der Kollege Schleicher von der OECD ja im Gegensatz zu Prenzel auch offen so dargestellt hat). Dass außerdem jedesmal die nächsten PISA-Tests schon gelaufen sind, bevor die eilfertig beschlossenen Reformen überhaupt anlaufen, sollte einen ebenso zweifeln lassen, ob man tatsächlich mehr als statistisches Rauschen misst. Aber so ein Kausalitätsproblem ist in manchen Disziplinen offenbar zweitrangig.
Angesichts solcher Absurditäten darf man als gestandener Naturwissenschaftler oder Mathematiker durchaus seiner geschulten Urteilskraft den Vorzug geben vor dem Verdikt emsiger Datensammler, die von der Sache, man verzeihe die Deutlichkeit, herzlich wenig Ahnung haben. Die wenigen, die tatsächlich ein mathematisch-naturwissenschaftliches Studium hinter sich haben, sind in der Regel "Fundamentalisten", die meinen ganz genau zu wissen, was denn das "Wesen" des Fachs ausmacht. Das ist in der Regel ein Indiz dafür, dass man fachlich den Anschluss verloren hat. Andere "Empiriker" brauchen dafür nicht einmal das entsprechende Studium, da reichen Psychologie und Pädagogik aus, um das Wesen der Naturwissenschaften zu erkennen.
Wenn man dieses Wesen dann erkannt hat, kann man davon träumen alles Wissen aus einer Handvoll von Prinzipien -- und dem Ur-Prinzip der Kompetenz -- quasi automatisch zu generieren. Wenn das gelingt, erarbeitet sich der Neuntklässler die allgemeine Relativitätstheorie von selbst.
Nur funktioniert das leider in der Praxis ebenso wenig wie mit den Urprinzipien von Empedokles und Heraklit, aber mehr als zwei Jahrtausende sind offenbar nicht genug um zu erkennen, dass die Natur leider komplizierter ist, als wir sie uns vorstellen. Deshalb, lieber Herr Wiarda, beerdigen wir doch lieber dieses neue Urprinzip der "Kompetenz" so früh es geht, bevor es zu vielen Lehrern, Schülern und Intellektuellen den Verstand vernebelt. Lassen Sie uns einfach wieder vernünftig und pragmatisch Mathematik und Naturwissenschaften unterrichten, und dann kommt die Kompetenz schon von alleine.
Jan-Martin Wiarda (Sonntag, 02 April 2017 22:07)
Lieber Herr Müller,
haben Sie besten Dank für Ihre überlegte und sehr gut argumentierte Replik. Damit noch mehr Leute sie lesen, würde ich sie gern aus der Kommentarspalte herausziehen und als eigenen Artikel in der Rubrik "Gastbeiträge" bringen. Falls Sie damit einverstanden sind (und ggf. noch etwas ergänzen möchten), schreiben Sie mir doch eine kurze Mail.
Besten Dank und viele Grüße,
Ihr Jan-Martin Wiarda
GoaCDtTd (Montag, 26 September 2022 06:58)
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