Seit dem Mathe-"Brandbrief" streitet die Bildungsrepublik mit besonderer Heftigkeit über Kompetenzen und Kompetenzbegriffe. Der Gastbeitrag eines hessischen Gymnasiallehrers.
Foto: Mike Wilson; Abbildung aus Lambacher Schweizer "Algebra 1", 2. Auflage, Klett-Verlag 1966.
SIE ERINNERN SICH vielleicht: Vor einem Monat habe ich an dieser Stelle die 130 Schreiber eines Mathe-Brandbriefs kritisiert. Sie unterlägen einer Fehlwahrnehmung, wenn sie einen Verfall der Matheleistungen beklagten und den Missstand dann auch noch der Etablierung von Bildungsstandards zuschrieben. Was folgte, war eine heftige Debatte in meinem Blog. Mit einigem Abstand erhielt ich nun den Brief eines Mathelehrers. Er hatte die Stellungnahme herausgekramt, die seine Fachschaft an einem hessischen Gymnasium 2010 ans Kultusministerium geschickt hatte. Gegenstand: die bevorstehende Einführung von Bildungsstandards. Die Stellungnahme von damals liest sich wie eine hervorragende Replik auf meinen Essay. Darum veröffentliche ich sie hier mit Zustimmung des Autors, der lieber ungenannt bleiben möchte.
Die Lehre vom Raben und der Ameise
VOR LANGER, LANGER Zeit, da gab es einen Raben, der zeigte Schülern und Lehrern, wann es besonders schwierig und anspruchsvoll wurde. Zum Beispiel im Lambacher Schweizer „Algebra 1“ von 1966. Viele schreckte der Rabe im Mathebuch ab, aber manchmal passte das Bedürfnis eines Schülers mit dem Angebot des Raben zusammen. Und hin und wieder geschah es dann, dass ein Schüler das Aha-Erlebnis seiner Schulzeit hatte, die Mathematik auf neue Weise lieben lernte und einen unumkehrbaren Entwicklungsschritt in seinem Leben machte.
Häufiger als der Rabe war in den Mathebüchern jener Jahre allerdings die Ameise anzutreffen. Sie kennzeichnete Aufträge, die nur durch großen Fleiß und langanhaltendes sorgfältiges Ausführen bekannter Operationen, zu bewältigen waren. Darüber möchte man heute gern die Nase rümpfen, bei Schülern, jüngeren zumal, hatten diese Aufgaben keinen schlechten Ruf. Das gute Gefühl, das der Lohn dafür war, etwas richtig zu machen sorgte dafür, dass man die Monotonie der Aufgabe nicht als ermüdend wahrnahm. Kam ein Schüler an den Punkt, sich von der Ameise zu verabschieden, dann war auch hier ein Reifungsschritt vollzogen. Viele waren aber froh, dass ihnen die Ameise im ungeliebten Fach Mathematik wenigstens zu einer befriedigenden Note verhalf.
Seit der Zeit des Raben und der Ameise hat die Aufgabenkultur des schulischen Mathematikunterrichts ungeheuer an Vielfalt gewonnen. Lag früher der Blick fast ausschließlich auf der fachlichen Schwierigkeit, so hat seitdem der Blick auf den Schülerauftrag eine Vielzahl von Perspektiven hinzugewonnen. Der ungewöhnliche Auftrag, die Umkehrung von Frage und Antwort, die Skizze, die konstruierte Einkleidung in einen Bezug zur „Lebensumwelt“, die Aufforderung zur Kommunikation, - in manchen Schulbüchern ist heute die Ausnahme zur Regel geworden. Den Unterrichtserfolg eines so unterrichtenden Lehrers bewirkt dann der Paukunterricht des Nachhilfeinstituts.
Zweck des Raben und seiner vielen Abkömmlinge ist es, den Blick des Schülers auf die fachliche Substanz des zu behandelnden mathematischen Gegenstandes zu lenken. Damit kein Schüler denke, mit der erlernten Routine sei der Kern des neu zu Lernenden bereits erfasst. Der erfahrene Lehrer postiert deshalb seine Raben wohlüberlegt und sparsam dosiert in seinen Unterrichtsgang. Sie sind unverzichtbare Angebote, den Sachverhalt tiefergehend zu verstehen. Aber was der Rabe in einer heterogenen, kommunikativen, in rascher persönlicher Veränderung befindlichen Lerngruppe beim Einzelnen bewirkt, ist unmöglich zu kalkulieren.
Nicht alles muss immer so bleiben, wie es war, aber dieser Reformentwurf gehört eingestampft. Und zwar aus vier Gründen:
1. Kinder und Jugendliche werden durch den Bildungsstandardansatz wie defizitäre Erwachsene behandelt. Die altersgemäßen Belange und die Heterogenität der individuellen Entwicklung werden ausgeblendet. So passen zum Beispiel Wiederholen, Sammeln, Ordnen und Motorisches besser zu Zehnjährigen als das x-te Säulendiagramm als Vorübung zur Powerpoint-Präsentation.
2. Die entwicklungspsychologische Erkenntnis, dass sich Kinder und Jugendliche von sich aus auf ihre Weise weiterentwickeln wollen, bleibt völlig unbeachtet. Die Grundlagen lassen sich in behavioristischer Manier fortschreitend aufbauen und abprüfen. Wenn es aber anspruchsvoller wird, dann macht der Lehrer, wie jeder gute Erzieher Angebote. Angebote, die das Kind wahrnimmt, wenn alles passt.
3. Dass die Fachkonferenz das unlösbare Problem beschließen soll, jeden Schüler vor eine „Anforderungssituation“ zu stellen, in der die „Performanz“ seines „Kompetenzerwerbs“ „überprüfbar“ wird, das ist ein schlechter Witz! Die Bildungsstandardtests und die neuartigen Versuche, das Abitur mit Kompetenz anzureichern, zeigen jedem, der es sehen will, dass sich Kompetenz im Sinne dieser Bildungsstandards weder beibringen noch abprüfen lässt. Ein guter Lehrer wird sich natürlich freuen, wenn er einen kompetenten Schüler hat und er wird andererseits in einem Elterngespräch darauf hinweisen, was Mathematik jenseits von Routinen auf dem Gymnasium noch ist.
4. Die nervige Wiederholung der grauenhaften Wortbildung „Lebensumwelt“ zeigt, wie die Autoren der Bildungsstandards die Funktion von Schule vollkommen verkennen. Die „Lebensumwelt“ unserer Kinder ist oft genug die Spielkonsole, der Fernseher, vielleicht der Sport, eventuell Musik. Die Schnittmenge der Lebensumwelt hessischer Schüler mit Eltern aus allen Ländern der Welt ist, na was wohl, die Schule.
Noch schlimmer: Wer je als Berufstätiger oder als Hochschulassistent mit einem Anwendungsproblem konfrontiert wurde, das unter Zeit-, Ökonomie- und Erfolgsdruck mathematisch behandelt werden musste, der kennt dessen unüberschaubare Komplexität und die rein am Ergebnis orientierten Methoden seiner Lösung.
Die Schule braucht das genaue Gegenteil. Ohne weltfremd zu sein, muss sie dazu stehen, eine Welt für sich zu sein, geschaffen zu dem Zweck, Kinder und Jugendliche vor altersgerechte Anforderungen zu stellen, an denen sie reifen können. Sie muss Inseln schaffen, auf denen man etwas begreifen, einsehen und verstehen kann, - wo man exemplarisch von einer Einsicht zur nächsten voranschreiten kann. Alles, was hier passt, und dazu gehören natürlich auch Anwendungsprojekte, hat seinen Platz in der Schule, egal ob „Lebensumwelt“ drin ist oder nicht.
Wäre ich Kultusminister, dann würde ich den alten Fachlehrplan beibehalten. Eventuell könnte man ihn jeweils in Doppeljahrgänge zusammenfassen. Wollte ich die Kompetenz der Schulabgänger im Sinne der vorgelegten Bildungsstandards erhöhen, so würde ich ein weiteres Schuljahr einführen, damit ein Schüler insgesamt neun Jahre am Gymnasium verbringt. Damit die Lehrer nicht in gar zu öden Bahnen des herkömmlichen Fachunterrichts verharren, würde ich Wettbewerbe mit kreativen Ideen wie etwa den Känguru-Wettbewerb, Mathematique sans frontières oder den Mathematikwettbewerb des Landes Hessen nach Kräften fördern. Schulen müssten genug Personal und Sachmittel für Mathematik-, Forscher- und Informatik-AGs haben, die heute wegen Lehrermangel kaum noch stattfinden. Ebenso bräuchten die Schüler genügend Muße, um daran teilnehmen zu können. Die Kompetenz der so gebildeten Schüler wird dann allemal hoch genug sein, um dazuzulernen, was im „Anwendungsbezug“ zählt, und mit welcher Technik man dafür sorgt, dass man ihnen zuhört.
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Klaus Diepold (Dienstag, 25 April 2017 09:00)
Vielen Dank für diesen Beitrag zur Diskussion. Der Author spricht einen Punkt an, den ich gerne verstärken möchte. Standards bügeln Vielfalt weg. Das ist oft wünschenswert und wertvoll, z.B. in der Technik wo es Standards für Drehfassungen von Leuchtkörpern gibt oder für die Verbreitung von Fernsehsignalen etc. Sind aber Standards geeignet der zunehmenden Vielfalt innerhalb der Menschen und hier der Schülerinnen und Schüler zu begegnen? An vielen Stellen argumentieren wir heute über den Wert der Vielfalt, der Diversität, aber in der Bildung sowie in der Ausbildung sind wir vielfach bemüht diese Vielfalt heraus zu dividieren und die Schüler- und Studentenschaft zu homogenisieren.
Die Diskussion über Standards bringt mit sich, dass wir uns darüber klar werden, was wir in der Lehre eigentlich machen und mit welchem Ziel. Das finde ich sehr begrüßenswert, ob allerdings die Standards wirklich helfen mit Vielfalt umzugehen, davon bin ich nicht überzeugt. In diesem Sinne möchte ich dem Author des Gastbeitrages zustimmen.
Selbst wenn die Lebenswirklichkeit der Schülerinnen und Schüler inklusive derer Eltern von der Schule dominiert wird, so hat sich die grundsätzliche Einstellung gegenüber der Schule ein wenig verschoben. Es wird viel mehr nachgefragt, wozu ein Sachverhalt gelernt werden soll. Die intrinsische Bedeutung der Mathematik ist dabei oft nicht ausreichend, um die erforderliche Motivation für Ameisenaufgaben zu erzeugen. Es wäre also schon wünschenswert, wenn die Auseinandersetzung mit Mathematik stärker anhand von Beispielen der Lebensrealität motiviert werden kann. Vielleicht gibt es neben den Raben und Ameisen noch ein drittes Viech, das Beispiele aus der Praxis kennzeichnet?
Ich habe zwar kein Paukstudio, aber viele Jahre als "Nachhilfelehrer" für Mathematik zugebracht. Dabei hat sich gezeigt, dass reale Beispiele für die Anwendung von Mathematik bei den Schülerinnen und Schülern die Motivation für das Fach deutlich steigern kann, bis zu einem Punkt, wo die Auseinandersetzung mit Mathematik zum Selbstläufer wird. Motivation für die Sache hilft oft mehr als alle Ameisen und Raben.
Stefan Hartmann (Dienstag, 25 April 2017 16:23)
Leider wird in dem Beitrag einmal mehr verkannt, was Bildungsstandards überhaupt sind und wofür sie geschaffen wurden. Dabei wäre es so einfach: Als Kritiker, der es mit seiner Kritik wirklich ernst meint, sollte man zunächst mal die offiziellen Dokumente und Berichte der Kultusministerkonferenz und des IQB lesen (vielleicht reicht sogar die Wikipedia-Seite zu den Bildungsstandards, auf der geschrieben steht, dass diese die Ergebnisse schulischen Lehrens und Lernens nicht vollumfänglich abbilden sollen, sondern "nur als Rahmen für die einzelnen Bundesländer zu verstehen" sind).
Zur Sache: Niemand - auch nicht die "Macher" der Bildungsstandards selbst - behauptet, dass die in den Standards beschriebenen Fähigkeiten alles beinhalten, was Schülerinnen und Schüler heute können müssen. Die Standards stellen vielmehr einen Kompromiss dar, nämlich den kleinsten gemeinsamen Nenner, auf den sich die Kultusministerien aller Bundesländer hinsichtlich der Frage einigen konnten, was denn das Minimum schülerischer Fähigkeiten in bestimmten Fächern und zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Schullaufbahn sein soll. Es handelt sich also um Mindeststandards. Niemand hindert Lehrerinnen und Lehrer daran, darüber hinausgehende Inhalte zu vermitteln. Wieviel mehr als dieses Minimum eine Schülerin oder ein Schüler aber konkret beherrschen soll, ist leider nach wie vor Ländersache. Daran sind allerdings nicht die Bildungsstandards schuld -- die "Kleinstaaterei" im Bildungssystem existiert schon deutlich länger als diese.
Dass Politik und Medien die Bildungsstandards nun andauernd mit blumigen Worten groß- und schönreden, ändert nichts an der Tatsache, dass allen Beteiligten selbstverständlich klar ist, wie eingeschränkt die Aussagekraft der zugehörigen Testergebnisse ist. Die Begrenztheit der Aussagekraft wird nicht zuletzt vom IQB klar kommuniziert -- und sie ist auch kein Manko, sondern ist für alle Leistungserfassungen in der Schule typisch: Auch eine Klausur ist immer nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was in einem Schuljahr gelehrt wurde, und niemand behauptet, dass Schülerinnen und Schüler nicht mehr können sollen als das, was in vier oder fünf Klausurfragen abgeprüft wird.
Fazit: Wer die Kritik äußert, die Bildungsstandards würden gar nicht alles abbilden, was im Unterricht wichtig sei, scheint über all dies entweder nicht informiert zu sein, oder er unterstellt absichtlich Dinge, die nicht stimmen. In Hessen finden sich unerfreulicherweise gleich mehrere Akteure, für die Letzteres zutrifft, und die ihren polemischen Feldzug gegen die Kompetenzorientierung mit weitgehend faktenwidrigen Behauptungen und nur dem Anschein nach empirisch gewonnenen Daten untermauern. Mit "alternativen Fakten" lassen sich die bildungspolitischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts allerdings ebensowenig lösen wie mit der auch hier propagierten Rückkehr zu einem "alten Fachlehrplan", der zu nicht unwesentlichen Teilen auf schulische Bedürfnisse der 1970er Jahre zurückgeht.
GoaCDtTd (Montag, 26 September 2022 07:05)
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