Wie der Wissenschaftsrat mit seinem Positionspapier "Strategien für die Lehre" von den eigentlichen Baustellen ablenkt. Von Stefan Kühl, Ines Langemeyer, Marcel Schütz und Gabi Reinmann.
Foto: Sean MacEntee: "lecture room", CC BY 2.0
WAS DER FORSCHUNG einen (Geld-)Segen beschert, kann der Lehre nicht schaden. Oder doch? Auch um ihrer Qualität willen soll es nach Auffassung des Wissenschaftsrats „langfristig und systemweit“ initiierte „Strategien für die Hochschullehre“ geben. In seinem aktuellen Positionspapier empfiehlt er zu diesem Zweck das Mittel der „Lehrverfassungen“, welche jede einzelne Hochschule für „ihren regionalen Standort, ihre Größe, ihre unterschiedlichen Zielgruppen, Kooperationspartner oder fachlichen Schwerpunkte strategisch“ selbst entwickelt.
Man könnte es dabei belassen, das Papier des Wissenschaftsrates als weiteres Beispiel einer von der Philosophie der unternehmerischen Hochschule inspirierten akademischen Denkschrift zu lesen. Wie es lange Zeit auch in Debatten um Unternehmensentwicklung üblich war, geht es in den Reformdebatten der Hochschulszene lange schon um den bunten Mix strategischer Managementmoden. Expertise sei „zu vernetzen“, „zu verstetigen“ und „mit geeigneten Anreizsystemen strukturell zu unterstützen“. Von „Governance“ ist die Rede, die „Beteiligung ermöglicht, legitime und zugleich zügige Entscheidungen erzeugt und zur Verständigung zwischen den Fächern und Statusgruppen führt“.
„Leitbilder“ schweben dem Wissenschaftsrat vor, aus denen ein „strategischer Plan mit den wesentlichen Zielsetzungen für Studium und Lehre“ zu entwickeln ist. Auf Basis einer für alle Dozenten vorgegebenen Lehrverfassung sind von den Fächern „Lehrprofile“ zu erstellen. Wie in einem gut sortierten Produktportfolio stellt man sich die finalen „Bildungsziele eines Studiengangs sowie die angestrebten Kompetenzprofile“ vor. Alles soll „transparent“ und „verbindlich“ werden, denn es gehe um eine „umfassende sichtbare Lehrkultur“.
Das scheint auf den ersten Blick recht konsistent. Die Dozenten werden für die Lehrverfassung der Hochschule qualifiziert, künftiges Personal wird gleich direkt über die Passung zum Lehrprofil ausgewählt. Begleitend unterstützt ein „modernes und effizientes Qualitätsmanagement- und Qualitätsentwicklungssystem“. In standardisierter Form sind die Wirkungen der Lehrstrategien „im Rahmen von Qualitätskreisläufen“ zu überprüfen. Damit die Hochschulen das alles ernst nehmen, soll das Erreichen der Ziele an Kennziffern wie Absolventenzahlen und Studierendenzufriedenheit und diese wiederum an eine zentrale Mittelvergabe gekoppelt werden. So soll nicht nur geprüft werden, „ob ein Leitbild für Lehre vorhanden ist, sondern auch, wie dieses mit einem Qualitätsentwicklungssystem für Lehre und der hochschulischen Gesamtstrategie verbunden ist und mit welchen Maßnahmen es in die Praxis übersetzt wird“. Ist es zu gewagt, all dies ziemlich invasiv zu nennen? >>
WEITERE BEITRÄGE ZUR DEBATTE UM "STRATEGIEN FÜR DIE LEHRE":
o WIR BRAUCHEN EINE DEUTSCHE LEHRGEMEINSCHAFT!
o HRK UND DIE IDEE DER LEHRGEMEINSCHAFT: REFLEXARTIGE ABLEHNUNG
o "NOCH NICHT RICHTIG VERSTANDEN." INTERVIEW MIT DER
WISSENSCHAFTSRATSVORSITZENDEN M. BROCKMEIER ZUR HRK-KRITIK
>> Der Ansatz dahinter ist jedenfalls reichlich angestaubt. Wie in einem Uhrwerk fügen sich Konzepte, Prozesse und Personal ineinander. Aber Organisationen funktionieren genau so gerade nicht – erst recht nicht solche mit dem Zweck der Bildung. In der Organisationsforschung weiß man das lange schon. Die Argumentation des Papiers, so harmonisch und technisch sie erscheint, orientiert sich an einem veralteten Strategiebegriff.
Doch mit Strategiemodellen lässt man die Steuerungsherzen im Hochschulmanagement höherschlagen. Denn es wird suggeriert, alles Entscheiden stehe in einem großen geordneten Zusammenhang. Wie schön das wäre, denken sich alle sogenannten Strategen. Leider nur (oder zum Glück) gibt es keine einzige Organisation auf der Welt, in der das nur halbwegs gelänge. Aus der Forschung gleichermaßen in Unternehmen oder Schulen, in Kirchen oder Armeen wissen wir, dass überall das dortige Personal vor allem seine ganz eigenen Praktiken (er-)findet, woraus dann – nach und nach, gemach, gemach! – neue Handlungsweisen, ergo neues Handlungswissen, für die ganze Organisation hervorgehen. Veränderungen verlaufen weitgehend chaotisch und instabil. Überwiegend nachträglich wird daraus ein wohlgeformtes Gewebe gestrickt. Man nennt es dann gern: Strategie. Schon vor über 40 Jahren fand eine Studiengruppe um den US-Managementforscher Michael Cohen heraus, dass in strategischen Entscheidungen nicht so sehr Lösungen für Probleme entwickelt werden; vielmehr werden identifizierte Probleme bereits bestehenden Lösungen zugeordnet.
Was wären die Folgen eines strategischen Lehrbetriebs nach Vorstellung des Wissenschaftsrats? Insbesondere werden die Hochschulen ihre Fassadenpolitik weiter optimieren, das heißt eigene sporadische Maßnahmen aufwändig mit Strategierhetorik garnieren. Strategiepapiere zur Lehre nähren im Übrigen ein diffuses Misstrauen in Dozenten. Und das nicht selten ausgerechnet in jene, die unter problematischen Bedingungen zu teilweise – um es freundlich zu formulieren – übersichtlich attraktiven Arbeitsbedingungen ihre Leistungen erbringen.
Und sie lenken von tatsächlichen Baustellen der Lehre ab. Gebraucht würden angesichts der Bologna-Verschulung großzügige „Puffer“. Das bedeutet praktisch: Zeit, Geduld und Vertrauen, um Lehrformate auszutesten, die künftig nicht erst auf ihre Verfassungsmäßigkeit abzuklopfen sind. Innovationen verlaufen eben nicht strategisch; sie bilden sich dort, wo Ressourcen im Überfluss verfügbar bleiben, wo man mit verständnisvoller Nachlässigkeit nicht alles und jeden zu kontrollieren und steuern trachtet. Und noch viel mehr als all das verdanken sie sich dem Zufall und einem angstfreien, aber kreativen Klima. Von einer solchen behutsamen Perspektive ist im Papier des Wissenschaftsrates wenig zu sehen. Zur Anregung von Innovationstätigkeit soll das vermeintliche Patentrezept eines Wettbewerbs in der Lehre herhalten. Keine Frage, den Hochschulen in ihrer Lehre Puffer als Innovationsräume zuzugestehen, die diesen Namen tatsächlich verdienen, setzt einigen Mut voraus. Vielleicht übersteigt dieser Mut das Fantasievermögen großer Teile der Wissenschafts- und Hochschulpolitik.
Ines Langemeyer und Gabi Reinmann lehren Pädagogik bzw. Hochschuldidaktik an den Universitäten Karlsruhe und Hamburg. Stefan Kühl und Marcel Schütz unterrichten Soziologie bzw. Betriebswirtschaft an den Universitäten Bielefeld und Oldenburg. Eine längere Fassung dieses Artikels ist gestern in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen. Auf Initiative der Autoren veröffentliche ich ihn als Gastkommentar in meinem Blog.
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GoaCDtTd (Montag, 26 September 2022 07:10)
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