Plötzlich schwadroniert die Bundeskanzlerin von Bildungsoffensiven, Ganztagsprogrammen und Milliarden für die Schulen. Als ginge sie das Mauern ihrer Partei beim Kooperationsverbot nichts an. Ein Gastbeitrag von Ernst Dieter Rossmann.
Foto: Philipp: "Angela Merkel", CC BY 2.0
ES SOLLTE EINE der großen Erzählungen werden, die Angela Merkel beim Bildungsgipfel 2008 aufmachen wollte: Deutschland als Bildungsrepublik, mit einer großen Bund-Länder-Vereinbarung, mit dem Versprechen von gemeinsamen Haushaltszuwächsen für die Bildung, mit einem differenzierten Katalog gemeinsam abgesprochener Maßnahmen – und mit einem regelmäßigen Monitoring über die erreichten Fortschritte. Bildungsrepublik, das hatte etwas von einer starken Idee und gab der sonst oft so gestaltungsarmen und begründungsschwachen Kanzlerin visionäre Kraft und den Charme der sympathischen Utopie.
Wenn Angela Merkel jemals wirklich mehr als den schönen Anschein im Sinn gehabt haben sollte, muss ihr spätestens beim Scheitern ihres Nationalen Bildungsgipfels eigentlich bewusst geworden sein, zu welchem großen bildungspolitischen Irrtum sich die Parteien der Großen Koalition mit der ersten Föderalismus-Reform im neuen Jahrhundert verstiegen hatten. Zwei Jahre zuvor, 2006, war das gewesen. Dabei hatten die Zugeständnisse, die die Unionsministerpräsidenten Koch und Stoiber in Übereinstimmung mit dem Zeitgeist des Wettbewerbsföderalismus der SPD und ihren damaligen Verhandlungsführern Müntefering und Struck abgehandelt hatten, nicht einmal bis zur Verabschiedung im Bundestag gehalten: Ursprünglich sollten nur ein Nationaler Bildungsbericht und die Bildungsforschung von der gemeinsamen Bildungsförderung und der Bildungsplanung aus der wegweisenden Föderalismus-Reform von 1969 übrig bleiben. Doch in den dramatischen letzten Schlussverhandlungen konnten die SPD-Bildungspolitiker den Spitzen von Union und SPD noch abpressen, dass die Förderung von Vorhaben der Wissenschaft in die geänderte Verfassung zusätzlich hineinkam. Das machte die wegweisenden Hochschulpakte bis zur Exzellenzstrategie erst möglich, auf die sich auch die Bundeskanzlerin immer wieder gerne beruft, wenn sie denn Erfolge in der Bildungs- und Wissenschaftspolitik für sich reklamiert.
Drei weitere Änderungen des Grundgesetzes pro Bildung und pro Wissenschaft sollten seitdem folgen. 2008 kam die Änderung des Artikel 104 b in der Form dazu, dass der Bund zumindest bei Naturkatstrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen Investitionshilfen für Bildung von der Schule bis zur Hochschule geben kann. Nachdem es bei den Koalitionsverhandlungen zur dritten großen Koalition 2013 entgegen vorheriger wahltaktischer Öffnungsversprechen seitens der Union dann doch kein Durchkommen für weitergehende SPD-Forderungen gegeben hatte, konnte ein knappes Jahr später das Grundgesetz immerhin so geändert werden, dass seitdem die Förderung von Forschung und Lehre in Fällen von überregionaler Bedeutung möglich ist. Damit ist nicht nur die Förderung der Hochschullehre durch den Bund überhaupt das erste Mal in der Verfassung verankert worden, möglich wurde auch eine Beteiligung des Bundes an der Grundfinanzierung und an zeitlich unbefristeten Förderprogrammen des Bundes für die Hochschulen.
Und nun also folgt die dritte relevante Grundgesetzreform nach dem „schweren Fehler“ (Frank Walter Steinmeier) von 2006. Im Paket mit anderen Grundgesetzänderungen konnten Sigmar Gabriel und Thomas Oppermann in der Großen Koalition durchsetzen, dass der Artikel 104 ein weiteres Mal erweitert wird um einen Artikel 104 c, demzufolge der Bund die schulische Bildungsinfrastruktur in finanzschwachen Kommunen fördern darf, was gleichzeitig mit dem wirklich bedeutenden Betrag von 3,5 Milliarden unterlegt wurde. Es ist nicht bekannt, dass die Bundeskanzlerin für diesen nächsten Schritt in der Auflockerung des Kooperationsverbotes irgendwie die Initiative ergriffen hätte.
Erst unmittelbar vor der Abstimmung im Bundestag und gerade fünf Tage, nachdem sich ihr unmittelbarer Konkurrent um die Kanzlerschaft prononciert zur Bildungsförderung und für die vollständige Abschaffung des Kooperationsverbotes geäußert hatte, nahm dann auch die Bundeskanzlerin in ihrem wöchentlichen Video-Podcast Stellung. Man hätte Wetten darauf abschließen können, dass die Methode Merkel sofort zur Anwendung kommt, wo sie Sorge haben muss, dass ihre Partei nicht den richtigen Kompass hat und ihre Politik den Notwendigkeiten einer fortschrittlichen Politik hinterhersegelt. Denn das könnte den betroffenen Menschen als Widerspruch auffallen und der CDU und ihr selbst bei einer wichtigen Wahl schaden. Also wird in dem Video-Podcast behauptet, dass die finanzschwachen Kommunen mit sieben Milliarden Euro unterstützt werden, um die Schulen in Brennpunkten besser zu unterstützen und dass diese angeblichen sieben Milliarden auch für Schulneubauten ausgegeben werden können. In Wahrheit sind es nur 3,5 Milliarden für die schulische Infrastruktur in finanzschwachen Kommunen und Schulneubauten – und nur da, wo es sich um Ersatzneubauten handelt, die wirtschaftlicher sind als eine Sanierung. Alles andere hatte die CDU/ CSU konsequent verhindert. Aber das macht nichts, merkt ja keiner, wenn man Anderes im Video-Podcast behauptet.
Immerhin versucht die Bundeskanzlerin in ihrem Podcast konkreter zu werden, wenn es um das digitale Lernen geht und spricht von Lern-Clouds und Lehrerweiterbildung. Fünf Milliarden hatte hier die Bundesbildungsministerin unmittelbar vor dem jährliche Digitalgipfel mit dem Schwerpunkt Bildung ins Schaufenster gestellt, die Länder und den Bund auf Staatssekretärsebene eine gemeinsame Erklärung ausarbeiten lassen, um allerdings bisher weder eine tragfähige Absicherung im Grundgesetz noch eine Etatisierung im Haushalt vorzunehmen. Ganz im Gegenteil: Während die Bundeskanzlerin im Podcast noch mit ihrer digitalen Bildungsoffensive renommiert, schafft es das zuständige Ministerium nicht, die vereinbarten Eckpunkte am angesetzten Termin zu unterzeichnen, und der Finanzminister sendet eigenartige Signale aus, als sei er der Meinung, schon genug Bildungsförderung bereitgestellt zu haben.
Dafür lässt sich die Bundeskanzlerin in ihrem Podcast drei Tage später, wiederum unmittelbar nachdem sich ihr Widerpart von der SPD, Martin Schulz, sehr klar zu einer neuen Ganztagsschulinitiative und zur vollständigen Aufhebung des Kooperationsverbotes positioniert hat, mit einer interessanten Neuerung ein. Schon erwartungsgemäß und ob der darin liegenden Chuzpe dennoch erstaunlich klar stellt sie fest, als sie danach gefragt wird, wie sie die deutsche Bildungspolitik vorantreiben will: „Wir brauchen auch im Bereich der Ganztagsbetreuung oder der Ganztagsschulen nochmal eine Initiative.“ Und die Bundeskanzlerin weiter: „Ich hoffe, dass daraus dann auch Projekte werden.“
Das Ganztagsschulprogramm der Regierung Schröder hatte die damalige Oppositionsführerin Angela Merkel und ihre CDU allerdings scharf kritisiert. Legendär das Verdikt der stellvertretenden CDU - Parteivorsitzende und Merkel-Vertrauten Annette Schavan gegen das „Suppenküchen – Programm“. Mit dem Kooperationsverbot von 2006 sollten gerade solche Initiativen auf Betreiben der CDU und CSU strikt per Grundgesetz untersagt werden. Noch 2013 gab es keinerlei Bereitschaft bei den Koalitionsverhandlungen von CDU und CSU, auf das Ganztagsschulprogramm des Koalitionspartners einzugehen. Und selbst in der Debatte zur großen Bund-Länder-Finanzreform und den 3,5 Milliarden des Bundes für die Schulen sagten der erste Redner der CDU/CSU-Fraktion, Ralph Brinkhaus, zur Bildungsfinanzierung: „Das ist eine Ausnahme, und das kann keine Regel sein.“ Eine Aufhebung des Kooperationsverbotes gar wird schließlich rigoros von sich gewiesen. Falsch, aber immerhin klar, möchte man sagen.
Und derweil tut die Bundeskanzlerin, als ob sie all das nichts anginge. Sie kündigt eine Initiative zu Ganztagsschulen an und hofft auf entsprechende Projekte. Das mag schlau sein, um unkritische Eltern zu beeindrucken und die Alternativen vor einer Wahl zu verwischen. Klug ist es nicht, denn die Bildungsrepublik von morgen braucht keine Winkelzüge, sondern eine klare, konzeptionell vorausschauende und gestaltende Politik. Merkel mag sich mit ihrem Verhalten Hintertürchen für Koalitionskonstellationen in jeder Hinsicht nach den nächsten Bundestagswahlen offenhalten, egal ob die CDU/CSU nun über eine Große oder über eine Jamaika-Koalition an der Regierung beteiligt sein sollte. Nur mutig und führungsstark ist so ein Stil nicht, sondern eben: Merkels Stil.
Klug und mutig wäre eine Bundeskanzlerin und Parteivorsitzende, die den Kardinalfehler von 2006 endgültig korrigierte und die berechtigte Kritik des Bundestagspräsidenten an der Verhunzung des Grundgesetzes durch ausufernde Detailregelungen aufnähme, so dass sich endlich der ebenso schlichte wie wegweisende Satz im Grundgesetz findet: „Bund und Länder können bei der Förderung von Bildung, Wissenschaft und Forschung zusammenwirken.“ Die Zeit ist reif dafür.
Ernst Dieter Rossmann ist bildungspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag.
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GoaCDtTd (Montag, 26 September 2022 07:14)
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