Die Hochschulen haben sich enorm geöffnet in den vergangenen zehn Jahren, das stimmt. Doch es kamen: vor allem noch mehr Bildungsbürgerkinder.
KAI GEHRING VERMUTETE Vertuschung. "BMBF beseitigt Beleg für Bildungsspaltung", twitterte der grüne Hochschulexperte. "Angst vor bad news?" Der "Beleg", den Gehring in der vergangene Woche erschienen Sozialerhebung vermisste, war der so genannte Bildungstrichter. Was er zeigt: Wie groß die Chance von Grundschulkindern ist, den Weg an die Hochschule zu schaffen. In der 20. Sozialerhebung von 2012 fiel er so aus: Haben die eigenen Eltern studiert, steigen die Aussichten auf ein Studium auf das Dreieinhalbfache.
Wie stark die Schieflage in der 21. ausgefallen wäre? Man kann es sich aus den vom Deutschen Studentenwerk veröffentlichten Daten zusammenreimen, doch die plakative Grafik fehlte. Methodische Gründe führt das Deutsche Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW), das die Studie durchgeführt hat, an und verspricht das Comeback des Trichters zu gegebener Zeit. Und Johanna Wanka (CDU), deren Ressort die Sozialerhebung finanziert? Beteuert, es habe keinen politischen Einfluss gegeben.
Die Blamage wird dadurch nicht kleiner. Eine Blamage, die keine allein der Ministerin oder der Bildungspolitik ist. Uns alle sollte es peinlich berühren, wenn trotz der vermeintlichen Total-Öffnung der Hochschulen in den vergangenen zehn Jahren mit fast einer Million zusätzlicher Studenten vor allem eine Gruppe profitiert hat: die Kinder der Bildungsbürger.
52 Prozent der Studierenden stammten 2016 aus Familien, in denen mindestens ein Elternteil studiert hat, nochmal zwei Prozentpunkte mehr als 2012. Immerhin!, könnte man jetzt sagen, bleibt doch fast die Hälfte Nicht-Akademikerkinder. Und man könnte hinzufügen: Ist ja auch logisch. Je mehr Leute studieren, desto mehr Akademikerkinder gibt es. Doch wer so denkt, hat es nicht kapiert. Laut einer anderen Studie, dem Bildungsbericht, haben nur 28 Prozent der Menschen zwischen 40 und 59, also die Elterngeneration von Erstsemestern, einen Studienabschluss. Es sind diese 28 Prozent, deren Kinder mehr als die Hälfte der Studienplätze besetzen.
Einige sagen auch hinter vorgehaltener Hand: Wir müssen halt akzeptieren, dass nicht alle Menschen gleich schlau sind. Was den Chauvinismus einer solchen Argumentation so richtig unerträglich macht: Sie ignoriert die Vielzahl von Studien, denen zufolge die systematische Bildungsungerechtigkeit unabhängig von der Intelligenz zuschlägt.
Womöglich ist die Erklärung einfacher. Was haben sich einige selbst erklärte Bildungsbewahrer echauffiert, als die Studien anfängerquote steil nach oben ging. Was haben sie sich gesorgt, dass jetzt "die falschen Leute" ins Studium gedrängt würden. Für Leute mit Lehre seien auch die Karrierechancen gleich viel besser als für all die Absolventen brotloser Massenstudiengänge. Zugehört haben ihnen: die Kinder, deren Eltern selbst nicht studiert haben. Während der Professorensohn und die Juristentochter sich, übrigens unabhängig von ihrem IQ, an der Uni einschrieben. Bildungsgerechtigkeit fängt mit der Rhetorik an.
Dieser Beitrag erschien gestern zuerst in meiner Kolumne "Wiarda will's wissen" im Tagesspiegel.
NOCH EINE SPANNENDE Entwicklung verbirgt sich hinter den Daten. Die DZHW-Forscher berichten, dass unter den Nicht-Akademikerkindern an der Hochschule eine Verschiebung zugunsten der bildungsfernsten Schulabgänger stattfinde. So haben mittlerweile 12 Prozent aller Studenten eine sogenannte „niedrige“ Bildungsherkunft, das heißt: Höchstens ein Elternteil kann eine abgeschlossene Berufsausbildung vorzuweisen. 2012 galt das für neun Prozent der Studenten. Parallel verkleinerte sich die Gruppe der Studenten mit mittlerer Bildungsherkunft, also die Kinder von Facharbeitern, von 41 auf 36 Prozent. Die Hochschulen hätten sich also doch ein wenig geöffnet, folgern die Forscher – aber nur für die Studenten von ganz unten und bei gleichzeitig schrumpfender Bildungs-Mittelschicht, während die Akademiker wie gewohnt weiterströmen.
Die im Bildungsbericht erwähnte Akademikerquote unter den Eltern von knapp 28 Prozent ist übrigens bereits sehr großzügig berechnet, bezieht sie doch Meister, Techniker und Menschen mit Fachschulabschluss mit ein. Das Statistische Bundesamt kommt in einer engeren Definition für die Gruppe der 40- bis 64-Jährigen sogar nur auf 17 bis 20 Prozent Studierte. Nimmt man diese niedrige Quote und setzt sie in Verhältnis zu den 52 Prozent Akademikerkindern in der Sozialerhebung, fällt das beschriebene Missverhältnis noch krasser aus.
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Martin Gogrewe (Montag, 24 Juli 2017 12:06)
Eine Anregung zu den Ursachen des Bildungstrichters:
http://www.centreformacroeconomics.ac.uk/Discussion-Papers/2016/CFMDP2016-14-Paper.pdf
Die Studie thematisiert Unterschiede im Herkunftsland der Eltern, aber sie kann auch einen Hinweis auf unterschiedliche Sinus-Milleus geben.
Gruß M. Go.