Forscher haben Eltern über die Schulwahl für ihre Kinder befragt. Warum all das Schulshopping womöglich wenig bringt, sagt der Berliner Erziehungswissenschaftler Thomas Koinzer.
Herr Koinzer, fängt die Karriereplanung schon bei der Einschulung an?
Zumindest denken viele Eltern das und nehmen an, dass in den ersten Schuljahren und sogar schon in der Kita entscheidende Weichen für erfolgreiche Bildungsbiographien gestellt werden. Allerdings ist der Druck, unter den viele Eltern sich und ihre Kinder bei der Suche nach der geeigneten Grundschule setzen, enorm. Die Markt- und Wettbewerbsideologie, die sich bis in den Bildungsbereich durchgesetzt hat, muss die Leute ja kirre machen.
In den nächsten Wochen veranstalten die Grundschulen überall im Land wieder Tage der Offenen Tür für die künftigen Erstklässler. Viele werden von ihren Eltern gleich in ein halbes Dutzend Schulen geschleppt. Bringt dieses Schulshopping überhaupt etwas?
Das war eine der Fragen, die meine Kollegen und ich uns auch gestellt haben. Deshalb haben wir im vergangenen Jahr die Eltern von Berliner Erstklässlern befragt, und zwar einmal vor der Einschulung und dann ein zweites Mal gegen Ende des ersten Schuljahres. Und in der Tat betreiben zahlreiche Eltern einen großen Aufwand bei der Schulsuche.
Wieso haben die Eltern eigentlich überhaupt die Auswahl? In Berlin gibt es wie in vielen anderen Städten doch feste Schulsprengel abhängig vom Wohnort.
Theoretisch ist das so, und viele Eltern schicken ihre Kinder deswegen auch ohne langes Nachdenken in die zuständige Grundschule. Wir beobachten aber, dass mit steigendem Bildungsniveau die Eltern ihr Suchmuster immer weiter ausweiten. Und in einer großen Stadt wie Berlin existieren trotz der Schulsprengel viele Optionen. Eltern können bei der Schulanmeldung Wechselwünsche angeben und Schulen mit einem besonderen Profil, künstlerisch, musisch oder sprachlich zum Beispiel, wählen. Von den privaten Grundschulen ganz zu schweigen. Das sind auch subtile Prozesse sozialer Selbstauswahl, die da ablaufen. >>
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>> Die Arbeiterkinder gehen in die Schule um die Ecke, die Akademikerkinder werden möglicherweise durch die halbe Stadt gekarrt?
Das ist sehr zugespitzt formuliert, zumal uns die vergleichende Bewertung schwerfällt. Wir haben uns sehr bemüht, zum Beispiel die Fragebögen auch auf Englisch und Türkisch verschickt, doch diejenigen Eltern, die am Ende bei der Befragung mitgemacht haben, waren zu einem großen Teil genau jene, die sich besonders viele Gedanken um die Schulwahl machen. Geschlagene 80 Prozent von ihnen waren Akademiker. Man könnte sie neudeutsch als Privileged Choosers bezeichnen. Das nimmt unserer Studie die Repräsentativität.
Was macht diese Privileged Choosers aus?
Zunächst mal, dass sie im Schnitt vier Schulen besuchen, bevor sie sich für eine entscheiden. Und dass sie sich staatliche Grundschulen anschauen, aber auch sehr häufig private. Denn sie sind sich im Gegensatz zu vielen weniger bildungsaffinen Eltern von Anfang an bewusst, dass es eine Alternative zum staatlichen Schulsystem gibt.
Warum entscheiden sich Eltern für Privatschulen?
Weil sie dort eine weniger problematische Situation erwarten. Sie glauben, die technische Ausstattung an Privatschulen sei moderner, die Klassenzimmer seien in einem besseren Zustand. Und sie erwarten eine wie auch immer geartete andere Pädagogik, etwa eine kindzentrierte, wobei viele Eltern das gar nicht genauer definieren können.
Und? Erfüllen sich die Erwartungen?
Das ist das Interessante. Oftmals folgt die Schulwahl einem wahrgenommenen positiven Image der speziellen Schule oder von Privatschulen im Allgemeinen; ein Image, das die Eltern nicht wirklich überprüft haben und auch nicht überprüfen konnten. Schule ist für sie trotz aller Tage der Offenen Tür eine Black Box. Die sympathische Lehrerin, die den Eltern die Schule gezeigt hat, ist bei der Einschulung plötzlich in Elternzeit, die Schulleiterin hat gewechselt, oder der versprochene Anbau ist nicht fertig geworden. Auch wenn die meisten Eltern gegen Ende des ersten Schuljahres sagen, dass sich ihre Erwartungen erfüllt haben, bewerten sie die Ausstattung der Schule oder das Engagement der Lehrkräfte etwas schlechter als vor der Einschulung – und das unabhängig davon, ob ihr Kind eine staatliche oder private Schule besucht. Während jene Eltern, die nicht mit dem gleichen Aufwand gesucht haben, ähnliche Zufriedenheitsniveaus mit der Schule ihrer Kinder erreichen. >>
Das Forschungsprojekt "Choice"
In der von Thomas Koinzer und Sabine Gruehn geleiteten Kooperation der Berliner Humboldt-Universität und der Universität Münster erkunden die Forscher, warum manche Eltern viel Zeit auf die Suche nach der geeigneten Grundschule verwenden und andere nicht. Zusätzlich werden die Eltern befragt, wie sie die Qualität der Schule
wahrnehmen, etwa das Schulklima, Klassengrößen oder das Engagement der Lehrkräfte. Schließlich drehen die Forscher die Frage der Schulwahl um und untersuchen, wie Schulen ihre Schüler aussuchen – und welche Rolle dabei die Schulleitungen spielen. Weitere Informationen finden Sie hier.
Der ganze Aufwand lohnt am Ende gar nicht?
Das kommt auf den Standpunkt an. Die objektiven Rahmenbedingungen unterscheiden sich nicht so stark, das heißt: Die technische und pädagogische Ausstattung der normalen Sprengel-Grundschulen wird von den Eltern als ähnlich positiv wahrgenommen, wenn auch an privaten Schulen etwas besser eingeschätzt. Aber natürlich bleibt der Effekt der sozialen Selbstselektion, der dazu führt, dass die angeblich beste Schule schon deshalb einen Vorteil hat, weil die engagiertesten Eltern ihre Kinder dorthin schicken. So wird das Image zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung, und die soziale Segregation verschärft sich möglicherweise immer weiter.
Was genau meinen Sie damit?
Der Druck, unbedingt die „richtige“ Schule für ihre Kinder finden zu müssen, versetzt die Eltern in Unruhe, möglicherweise sogar in Angst. Und rational ist diese Wahl ja wohl auch nicht. Ich glaube, gegen diese Angst müssen wir etwas tun, indem wir mehr Ruhe und Sachlichkeit in die Schulwahl bringen.
Wie kann das gelingen?
Ich bin kein Bildungspolitiker und auch kein Schulkarriereberater, der den Eltern sagen könnte, was sie tun sollen. Ich stelle nur fest, dass die vermeintlich so großen Qualitätsunterschiede etwa zwischen staatlichen und privaten Schulen womöglich nicht wirklich bestehen. Dass aber jene Eltern, die ihr Kind auf eine „besondere“ – ob nun private oder staatliche –Schule schicken, sich das nur schwer eingestehen können. Das ist so ähnlich, wie wenn ich mir für 1000 Euro das neue iPhone kaufe. Allein schon, weil das so teuer ist, muss es auch gut sein. Und wenn ich so viel Geld und Zeit in die Schulwahl meiner Kinder stecke, muss sich die Schule am Ende auch als außergewöhnlich erweisen. Etwas mehr Entspannung ist hier sicherlich angebracht. Aber letztlich ist doch die Politik und Verwaltung gefragt, allen Grundschulen ihren pädagogischen Herausforderungen entsprechend die nötigen Ressourcen zu geben, um ihnen allen ein „gutes Image“ zu verschaffen. Und so den Druck von den Eltern zu nehmen.
Fotonachweis
Dalibri: "Grundschule Haus St Marien Neumarkt - Klassenzimmer 06.JPG", CC BY-SA 3.0
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