In Syrien arbeitete Hend Al Khabbaz als Lehrerin, zwei Jahre nach ihrer Flucht kann sie nun wieder unterrichten: in Brandenburg. Die Geschichte einer Frau, die Brücken bauen soll.
Die neue Heimat von Hend Al Khabbaz: Fürstenwalde. (Clemensfranz: "Fuerstenwalde Spree.jpg", CC BY-SA 3.0)
MANCHMAL ERZÄHLEN DIE Kinder vom Krieg. Von Bomben und von Schießereien und von toten Körpern in den Straßen. Fast teilnahmslos klingen sie dann, und Hend Al Khabbaz lässt sie einfach reden.
Al Khabbaz, 34, ist Englischlehrerin. Zumindest war sie das, zu Hause in Westsyrien. Jetzt unterrichtet sie Erstklässler an einer Grundschule in Fürstenwalde / Spree, viele davon Bürgerkriegsflüchtlinge wie sie. Al Khabbaz' Weg aus einer Kleinstadt bei Homs in eine Kleinstadt in Brandenburg ist die Geschichte einer mutigen Frau, die unbedingt wieder in ihrem Beruf arbeiten wollte.
Es ist aber auch die Geschichte einer eigentlich naheliegenden Idee, die die Bildungswissenschaftlerin Miriam Vock Ende 2015 hatte: Wenn plötzlich Hunderttausende nach Deutschland strömen, sind darunter nicht nur ungezählte Kinder, die zur Schule gehen müssen. Sondern es kommen auch Tausende Lehrer. Das "Refugee Teachers Program", das Vock und ihre Mitstreiter an der Universität Potsdam aufgebaut haben, will sie fitmachen für deutsche Schulen, damit sie "Brückenbauer" sein können, wie Vock sie nennt, Vermittler zwischen den Kulturen. Nach über einem Jahr vollgepackt mit Intensivkursen hat die Uni Ende September die ersten 28 Absolventen verabschiedet. >>
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>> Eine Plattenbausiedlung im Norden von Fürstenwalde, wo die Straßen nach sowjetischen Kosmonauten heißen und der Waschbeton besprenkelt ist von den Tauben, die zu Hunderten über den Dächern kreisen. Hier steht die Sigmund-Jähn-Grundschule, benannt nach dem ersten Deutschen im Weltraum, und wer wissen will, wann in dieser Gegend zuletzt die Pläne hochflogen, muss nach dem Datum schauen, an dem Jähn, gefeiert von der DDR-Propaganda, auf die Erde zurückkehrte: am 3. September 1978. Jetzt ist es die Gegend, in der die Behörden die Flüchtlinge unterbringen: aus Afghanistan, Tschetschenien, dem Irak, vor allem aber aus Syrien.
85 ihrer 285 Schüler seien Flüchtlinge, rechnet Ines Tesch vor, die Schulleiterin - in einer Schule, die zu DDR-Zeiten 400 Kinder fasste. Anfangs haben sie deren Eltern Briefe per "Google Übersetzer" geschrieben. Klar, dass Tesch sofort "Und ob!" rief, als jemand von der Uni Potsdam anrief und fragte, ob sie eine Praktikantin wolle aus dem Refugee Teachers Program. Als es plötzlich hieß, die Praktikantin solle doch woanders hingehen, sei sie "laut geworden", sagt Tesch.
Sie ist es gewöhnt, zu kämpfen, wenn es um die Zukunft ihrer Schule geht. Inzwischen ist diese mit ihrer frisch renovierten Fassade ein gelber Farbklecks im Grau der Siedlung. Beim Nachmittagscafé lernen die Eltern Deutsch, als nächstes will Tesch die Digitalisierung des Unterrichts vorantreiben. Die Praktikantin, die Tesch sich ertrotzte, hieß Hend Al Khabbaz, und sie blieb auch nach ihrem Abschluss. Jetzt hat sie eine Vollzeitstelle und unterrichtet im sogenannten Co-Teaching neben den Klassenlehrern.
Den Kindern bedeutet es viel, verstanden zu werden
Es ist 8.40 Uhr an diesem Morgen, als Al Khabbaz, halblange braune Haare, lila Bluse, rosa Schal, ihr Kartenspiel aus der Tasche zieht. Die drei Erstklässler um sie herum beobachten, wie sie die Karten auf dem Tisch verteilt. Im Nebenraum hat der Rest der 1b Deutsch, doch Ali, Mayla und Amira (Namen geändert) können noch nicht alles verstehen, was ihre Klassenlehrerin Frau Reichardt sagt. Weswegen Reichardt und Al Khabbaz sich für ein Extraprogramm für die drei entschieden haben.
"Bringt die Bilder in die richtige Reihenfolge und beschreibt bitte, was ihr seht", sagt Al Khabbaz mit ruhiger Stimme, nahezu akzentfrei. Kinderhände schieben die Karten hin und her, Ali beginnt: "Marie frühstückt". Dann ist Amira dran: "Marie putzt die Zähne." Schließlich Mayla: "Marie und Anna spielen mit Sandkasten." "Im Sandkasten", korrigiert Al Khabbaz behutsam. Hin und wieder sagt ein Kind etwas auf Arabisch, die Lehrerin antwortet auf Deutsch. Sie weiß, was es den Kindern bedeutet, verstanden zu werden. Selbst wenn sie nur aufs Klo müssen und nicht wissen, wie man das auf Deutsch sagt.
Im August 2015, erzählt Al Khabbaz, kam ein Freund zu ihr und berichtete, dass die Armee ihn einziehen werde. Er haue ab, ob sie mitkommen wolle? Ihre Schwester lebte da schon in Berlin, und Al Khabbaz sagte sich: Jetzt oder nie. Zusammen kämpften sie sich über den Balkan bis nach Westeuropa durch, zwei Männer, drei Frauen. 18 Tage, bis sie am 4. September 2015 die deutsche Grenze erreichten und aus der Lehrerin Hend Al Khabbaz der Bürgerkriegsflüchtling wurde, ohne Arbeitserlaubnis, ohne Deutschkenntnisse, ohne Idee, wie es weitergehen sollte. >>
Pädagogik, Didaktik – und Deutsch
Das "Refugee Teachers Program" an der Universität Potsdam gibt es seit Frühjahr 2016. Es soll geflüchtete Lehrer auf ihren Einsatz an deutschen Schulen vorbereiten. Von mittlerweile über 1000 Bewerben konnten bislang 80 Männer und Frauen in dem Qualifizierungsprojekt starten, 28 Teilnehmer der ersten Kohorte sind Ende September offiziell in die Schulen verabschiedet worden, die meisten davon stammen aus Syrien.
Abhängig von den sprachlichen Vorkenntnissen dauert das Programm bis zu 18 Monate lang. Im ersten Semester steht ausschließlich Deutschunterricht auf dem Stundenplan, 24 Stunden pro Woche. Im zweiten Halbjahr reduziert sich das Sprachenpensum auf acht Stunden, hinzu kommen ein Seminar "Einführung in die Schulpädagogik" und ein
wöchentlicher Hospitationstag an einer Schule. Je nach Bedarf werden Fachdidaktikkurse angeboten. Im dritten Semestern ist dann wieder Deutschunterricht in Vollzeit angesagt.Lange bewarb die Universität Potsdam ihr Programm als "deutschlandweit einzigartig", mittlerweile sind andere Universitäten wie die Universität Bielefeld nachgezogen. Die Brandenburger Wissenschaftsministerin Martina Münch spricht von einem "erheblichen Bedarf" für "solche innovativen Programme". Insgesamt investiere ihr Ministerium allein 2017 1,2 Millionen Euro, um Flüchtlingen den Zugang zum Hochschulsystem zu ermöglichen.
Die Absolventen des Programms arbeiten jetzt auf Vollzeit-Basis in Brandenburger Schulen, behalten allerdings ihren befristeten Aufenthaltsstatus. Sie werden als zusätzliche Integrationslehrer im Team-Teaching eingesetzt.
>> Per Bus wurde sie ins Aufnahmelager nach Eisenhüttenstadt verfrachtet, "das waren schreckliche Zustände dort", sagt sie. Mehr nicht. Lieber will sie über ihre Ankunft in Fürstenwalde reden. Nach drei Tagen saß sie im ersten Deutschkurs. "Die Sprache ist beste Material von uns Lehrern", sagt sie. Wenn sie schnell erzählt, holpert ihre Grammatik noch ein bisschen, dann hält sie inne und schüttelt den Kopf. "Wenn ich einen Fehler mache, finde ich das so peinlich." Irgendwann berichtete ihr Deutschlehrer von dem neuen Programm in Potsdam, und sie dachte: Da hast du keine Chance. 700 Männer und Frauen bewarben sich auf die Ausschreibung.
"Wir hatten mit 15 Leuten gerechnet", erzählt Andreas Musil, Vizepräsident der Uni Potsdam. "Dann gab es den ersten Pressebericht, und plötzlich hatten wir Hunderte Bewerber." Was folgte, war das, was Musil "den Anruf meines Lebens" nennt. Er fragt im Wissenschaftsministerium um Hilfe nach, der Staatssekretär sagt "Machen wir" und verspricht 300 000 Euro für mehr als 80 Plätze. Einer geht an Al Khabbaz.
Der 4. Juli 2016 ist wieder so ein Tag, der sich in ihr Gedächtnis eingebrannt hat. Es ist der Tag, an dem es für Al Khabbaz losgeht in Potsdam: Am Anfang fünfmal die Woche Deutsch, später auch Schulpädagogik, Fachdidaktik, ein begleitendes Praktikum. Auch den ganzen Sommer durch. Täglich fährt sie zum Campus am Neuen Palais, anderthalb Stunden die einfache Fahrt. Einige Kursteilnehmer, die als Flüchtlinge über alle Landkreise Brandenburgs verteilt leben, haben es noch weiter.
Der Tag, an dem aus dem Bürgerkriegsflüchtling offiziell wieder die Lehrerin wird, ist der 26. September 2017, ein windiger Herbsttag. Alle sind gekommen zur Abschlussfeier des ersten Refugee-Jahrgangs: Unipräsident, Vizepräsident, Wissenschaftsministerin. Und hätte er nicht drei Stunden zuvor seinen Rücktritt eingereicht, hätte auch der Bildungsminister eine Rede beigesteuert. Sie sind gekommen, um Al Khabbaz und ihre Kommilitonen zu feiern, und ein bisschen sich selbst.
Denn so naheliegend Miriam Vocks Idee war, so einzigartig sind die Potsdamer lange mit ihrem Projekt geblieben. Was Vock zum Schwärmen veranlasst, welch schlagkräftige Organisation ihre Universität sei, wenn alle mitzögen: vom International Office über das Sprachenzentrum und das Zentrum für Lehrerbildung bis hinauf zum Vizepräsidenten. Noch bemerkenswerter ist, dass auch alle beteiligten Behörden mitgemacht haben, ausnahmsweise: das Sozialministerium, die Ministerien für Wissenschaft und Bildung, die Schulämter. Erst allmählich ziehen anderswo Universitäten nach, Bielefeld etwa mit dem Programm "Lehrkräfte Plus".
Eine Urkunde, ein Händeschütteln, ein Foto. Und wie Al Khabbaz so dasteht auf der Bühne, zwischen all den Honoratioren, könnte man denken: Sie ist am Ziel. Aber nur für den Moment. Denn sie will weiter. Ein Jahr voll arbeiten, dann zurück an die Uni, ihr deutsches Staatsexamen machen. Eine Aufenthaltsverlängerung erhalten, ihre eigenen Klassen unterrichten. Am liebsten in Fürstenwalde, sagt sie, die eigentlich nach Berlin wollte. Die meisten Leute seien nett hier. Klar gebe es auch die anderen, die Nachbarin etwa, die wegschaut, wenn sie ihr im Hausflur begegnet. "Aber wissen Sie, auch das ist eine Frage der Bildung", sagt Al Khabbaz, fast zu abgeklärt. "Viele Menschen haben selbst nicht viel."
Wenn man sie nach einem Wunsch an die Politik fragt, muss die Lehrerin nicht lange überlegen. "Lasst die vielen Flüchtlinge nicht so lange herumsitzen", sagt sie. Sie wollten ihren Platz in der Gesellschaft finden. "Die Chance zu arbeiten ist wichtiger als alle netten Worte."
Dieser Artikel erschien zuerst in der Süddeutschen Zeitung.
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Warum (Montag, 11 Dezember 2017 10:03)
Diese Dame ist ein Musterbeispiel wie es laufen kann und sollte, wenn der Staat und die Menschen, die wir aufgenommen haben, an einem Strang ziehen. Dazu kommt das verdiente Glück des Tüchtigen. Wieso muss man das mit einem "fast zu abgeklärt" schmälern? Sie hat doch recht! Abgesehen davon herzlichen Dank für diesen Beitrag, ich hoffe, durch die erhöhte Aufmerksamkeit macht das Projekt noch weiter Schule.
GoaCDtTd (Montag, 26 September 2022 08:00)
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