Seit 20 Jahren beschäftigte ich mich mit Hochschulen, Bildung und Wissenschaft. Viel ist passiert in dieser Zeit, vieles davon durfte ich als Journalist begleiten. Der Blick zurück zeigt, wie aktuell einige meiner Themen von einst geblieben sind – obwohl sich fast alles verändert hat. Machmal allerdings auch, weil sich fast gar nichts verändert hat. Der 10. Teil einer Serie.
Wetten, dass Du drankommst
Show im Hörsaal: Wie ein Münchener Soziologie-Professor seine Studenten schon am Montagmorgen in Schwung bringt
(erschienen in der Süddeutschen Zeitung vom 05. Januar 1999)
AUF DER GALERIE wird es allmählich eng. "Sie glauben wohl, daß ich nicht bis zu ihnen komme!", ruft der schwarzgekleidete Mann durch den Hörsaal. So weit geht er dann aber doch nicht. Seine Show läuft unten ab. "Was wissen Sie von mir?", fragt er in die Runde. Und er beginnt, das Mikrophon in der Hand, eine seiner Wanderungen entlang der Sitzreihen. Die Studenten ziehen die Köpfe ein, setzen bemüht gleichgültige Blicke auf. Lautloses Hoffen: Er möge vorübergehen.
Eine Mutige meldet sich: "Sie wollen uns was beibringen. Sie sind halt der Soziologe. " Ein Grummeln erfüllt das Audimax – so klingt es, wenn 500 Leute schmunzeln. Der Soziologe ist zufrieden. "Eine Vorlesung ohne Lacher hat ihr Ziel verfehlt", sagt er später. In seinem Büro riecht es nach Farbe, unausgepackte Umzugskisten stehen neben fabrikneuen Ledersesseln. Der Mann gönnt sich keine Eingewöhnungszeit. Armin Nassehi, 38 Jahre alt, seit wenigen Wochen Professor, hat Sendungsbewusstsein. "Es geht schlicht um eines, um Aufmerksamkeit. Mein Mittel, sie zu kriegen: Dialog statt Vorlesung." Eine Wort-Neuschöpfung für das, was er treibt, hat der Soziologe auch schon parat: Gottschalkisierung. Eigentlich, sagt Armin Nassehi, führe er einen Kampf gegen den Lärmpegel. Am Lärmpegel erkenne er, ob ihm zugehört wird. "Jeder Mensch macht Geräusche. Es furzt oben und niest unten. Gegen diesen Klangteppich muß ich an. Bleibt’s leise, bin ich auf dem richtigen Weg." Wenn nicht, ist es Zeit für ein paar Zwiegespräche.
Warum der Aufwand? Welchen Professor interessiert es schon, ob die Studenten ihm zuhören? Nassehi hebt den Zeigefinger. "Begriffe lernen ist ein totes Ritual. Es geht um das soziologische Leben." Dass der Westfale mit iranischem Vater Spaß am Leben hat – und nicht nur am soziologischen –, glaubt man gern. Seine Augen blitzen bei der Beschäftigung mit "Perspektivendifferenzen" wie beim Erzählen von Frau und Kind. "In der Soziologie gibt es zwei Alternativen. Top oder Flop. Professor oder Taxifahrer."
Dennoch kann der Neuling mit seinen Plaudereien nicht jeden Zuhörer mitreißen. Die Kommentare reichen von "Mal was anderes" bis zu der Klage, Nassehis Vorlesungsstil sei verwirrend – besonders für Erstsemester. Vermisst werden abrufbare Fakten, an denen man sich bei der Klausur-Vorbereitung orientieren kann. Nassehi kennt solche Einwände. "Pennälermentalität. Die legt sich mit der Zeit", sagt er und kommt ins Schwärmen: "Irgendwann fängt sie die Erotik der Verfremdung ein."
Ein starkes Stück, Montag morgens um neun von Erotik zu reden. Auf der Galerie hängen sie müde über dem Geländer, unten hält sie die Angst vorm Ertapptwerden munter. Nassehi ist wieder unterwegs. "Was ist Sinn?" Das Mädchen mit dem Mikrophon vor der Nase druckst herum, sucht nach Worten. Schließlich sagt sie: "Sinn ist das, was wir in der Welt sehen." Nassehi nickt zustimmend. Für die Uhrzeit keine schlechte Antwort. Der kleine Professor mit Stoppelbart und Rollkragenpulli spurtet zur nächsten Wortmeldung, nimmt drei Stufen auf einmal. Leichtfüßig sieht das aus, doch es ist harte Arbeit: "Man muss die Dinge von Anfang an entwickeln." Seine Konsequenz: "Ich kann meine Forschungsergebnisse erst dann wissenschaftlich vertreten, wenn ich auch in der Lage bin, sie zu lehren."
Nach einer Stunde hat er sein Publikum soweit. Spontane Antworten häufen sich, das schmale Mikrophon hat seinen Schrecken eingebüßt. "Preisfrage", verkündet Nassehi und reckt sich fröhlich. "Wo kommt der subjektiv gemeinte Sinn her? Hat jemand eine Idee?" Sein Enthusiasmus ist echt. Um Viertel vor elf ist die Vorstellung vorbei. Nächste Woche die Fortsetzung, gleicher Ort, gleiche Zeit. Wie Armin Nassehi seine Vorlesung versteht? Vor allem als Anleitung zum selbständigen Denken – weg von Paukorgien und Studienordnungen. Wie er das meint, verdeutlicht der Professor am eigenen Beispiel. Er hat Philosophie studiert, Erziehungswissenschaften und sich "nebenbei für allerlei Dinge interessiert" – zum Beispiel für die Soziologie. "Und am Ende bin ich Professor geworden, ohne richtig Soziologie studiert zu haben. Das Leben ist voller Unwägbarkeiten, da kann das Studium doch nicht den traditionellen Weg gehen!"
Ein aktuelles Interview mit Armin Nassehi lesen Sie hier.
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