Der Soziologe Armin Nassehi über seinen Start als Professor vor 19 Jahren, Wanderungen durchs Audimax und Sätze, die er eigentlich nicht sagen will.
Herr Nassehi, am 1. Oktober 1998 haben Sie als Soziologieprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München angefangen. Nur ein paar Wochen später schrieb ich über Ihre erste Einführungsvorlesung einen Artikel in der Süddeutschen Zeitung. Mitten im Vortrag griffen Sie sich das Mikrofon, wanderten durch die Hörsaalreihen und fragten die Studenten im Plauderton, was subjektiv gemeinter Sinn ist. "Es geht schlicht um eines, um Aufmerksamkeit", sagten Sie damals. "Mein Mittel, sie zu kriegen: Dialog statt Vorlesung." Eine Wort-Neuschöpfung hatten Sie damals für das, was Sie da machten, auch schon parat: Gottschalkisierung. Erkennen Sie sich heute in dem Artikel von 1998 noch wieder?
Wenn ich ehrlich sein soll, war ich mit dem Artikel damals nicht ganz glücklich. Ich komme darin so unernst rüber. Einige Kollegen sagten danach zu mir: Na, das ist ja eine schöne Show, die du da veranstaltest.
War es doch auch.
Klar war es das. Aber darum ging es nicht. Es ist im Gegenteil die ernsteste Form, eine Lehrveranstaltung so zu machen, dass die Leute wirklich etwas davon mitnehmen.
Die Einführungsvorlesung gibt es immer noch. Sie geht jetzt in ihr 20. Jahr.
Krass, oder? "Armin Nassehi, 38 Jahre alt", steht im Artikel. Tempi passati, kann ich da nur sagen. Wobei ich aufgrund der physikalischen Gesetze davon ausgehe, dass Sie auch 20 Jahre älter geworden sind seit damals.
Dem kann ich leider nicht widersprechen. Wie läuft denn die Vorlesung heute ab? >>
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>> Im Kern noch genauso. Nur dass ich jetzt gar nicht mehr vorne stehe. Ich habe die Geschichte von Herrn A und Frau B erfunden, die erzähle ich immer erstmal. Herr A ist Banker und erlebt so einiges in Beruf und Liebesleben. Jede Woche lese ich eine Episode aus dem Leben der beiden vor und entwickle daran mit den Studenten gemeinsam soziologische Grundbegriffe, Handeln, Rolle, Kommunikation, Interaktion, Organisation, Gesellschaft, soziale Ungleichheit, Macht usw. Das funktioniert super. Ich gehe durch die Reihen und frage die Studenten: Was habt ihr da gerade über Kultur gelernt? Daraus lässt sich dann die soziologische Begriffsarbeit entfalten.
Warum der ganze Zirkus?
Sie müssen sich die Aufmerksamkeit erkämpfen, hart erkämpfen. Heute mehr als je zuvor. Die Studenten können mit theoretischen Texten noch viel schlechter umgehen als vor 20 Jahren. In ihrem Artikel von damals zitieren Sie mich mit dem Satz: "Eine Vorlesung ohne Lacher hat ihr Ziel verfehlt“. Das gilt immer noch. Das Gehirn muss durchgepustet werden, mindestens einmal pro Vorlesung, du musst den Studenten die Angst nehmen vor dem, was du ihnen erzählst.
Vor dem Soziologendeutsch?
Vor dieser Textsorte überhaupt. Die Studenten sollen merken, dass Begriffe, Theorien und Argumente gar nicht so schlimm und kompliziert sind, wie sie zunächst für sie klingen. Und dass sie etwas Praktisches damit anfangen können. Das ist so ähnlich wie bei Leuten mit Flugangst. Die müssen Sie an die Hand nehmen und einmal mit ihnen nach Berlin und zurückfliegen. Eigentlich kann man das, was ich mache, als verhaltenstherapeutische Maßnahme bezeichnen. Ich bin von Hause aus Pädagoge, und ich verstehe mich auch als Pädagoge.
Wenn Sie Ihren Studenten ohne Vorwarnung das Mikro hinhalten, was erleben Sie für Reaktionen?
Die meisten machen toll mit. Ich bin immer wieder positiv überrascht, wie jede Antwort den Erkenntnisprozess irgendwie voranbringt. Ich mache das in der Theorievorlesung im zweiten Semester genauso. Da werfe ich immer ein Zitat an die Wand aus einer soziologischen Theorie und entwickle gemeinsam mit den Studenten, was sie damit anfangen können. Diejenigen, die das Zitat noch nie gehört haben, antworten ganz naiv – und sagen dabei oft viel Wahres. Und diejenigen, die sich schon besser auskennen, bringen eine Tiefe in die Diskussion, die uns ebenfalls weiterträgt. Und an beide Antworttypen kann ich gut anschließen.
Im Artikel damals haben Sie gesagt: "In der Soziologie gibt es zwei Alternativen. Top oder Flop. Professor oder Taxifahrer."
Das war ein kleines Missverständnis, denn diese Alternative gilt nur für den universitären Wissenschaftsbetrieb. In Deutschland gibt es für universitäre Karrieren tatsächlich nur das Ziel einer Professur, nur Top oder Flop, weil die Stellenstruktur so ist. Aber mit dem Taxi komme ich ihnen immer noch. "Ihr werdet alle nach dem Studium Taxi fahren", sage ich denen. "Die Frage ist, ob ihr links vorn oder rechts hinten sitzt." Heute ist der Arbeitsmarkt allerdings so günstig, dass die meisten rechts hinten sitzen werden. Wie wir von unseren Absolventen wissen, gibt es einen Arbeitsmarkt für Leute mit soziologischem Sachverstand.
Kommt es eigentlich oft vor, dass ein Student vor lauter Aufregung nichts antworten kann, wenn er im vollen Audimax plötzlich das Mikro vor sich sieht?
Mein Grundprinzip lautet: kein Gesichtsverlust, keine Prüfungsangst. Wenn ich mal merke, da ist jemand, den überfordert die Situation, dann gehe ich sensibel damit um. Umgekehrt kommen noch Jahre später Leute zu mir, um sich zu bedanken. Es sei eine tolle Erfahrung gewesen, sagen sie, gleich im ersten Semester in einem Hörsaal vor 800 Leuten mitreden zu dürfen, ohne rot zu werden. Das habe ihnen wahnsinnig geholfen, ins Studium hineinzukommen.
Das klingt alles fast zu schön, um wahr zu sein.
Manchmal kommt das Wahre, Schöne und Gute zusammen. Aber es gibt natürlich auch Kritik. Was den Studenten regelmäßig fehlt, ist die Zusammenfassung am Ende. Das schreiben sie so auch in die Evaluationsbögen rein. Sie wollen am Schluss jeder Veranstaltung fünf Sätze, die sie lernen können. Aber die gebe ich ihnen nicht, sonst lernen sie nur noch die fünf Sätze. Zusammenfassungen sind abgeschlossene Sätze, aber da ist nichts Abgeschlossenes, im Gegenteil: Die Studenten in der Einführungsvorlesung fangen doch gerade erst an. Die sollen angefixt werden. Auf Anhieb zu verstehen, ist riskant. Man sollte schnellem Verstehen immer misstrauen. Mir geht es darum, bei den jungen Leuten Déjà-Vu-Erlebnisse vorzubereiten. Wenn ihnen die Begriffe und Themen später im Studium wiederbegegnen, sollen sie sagen: "Das kenne ich doch schon aus dem ersten Semester. Jetzt kapiere ich endlich, was der Nassehi damals gemeint hat." So geht nachhaltiges Lernen.
Ihre Einführungsvorlesung hat es in ihrem 20. Jahr zu einiger Berühmtheit gebracht. Da sitzen längst nicht nur Studenten drin, sondern manche Leute kommen einfach so, aus Interesse, um den Nassehi mal zu erleben. Haben Ihre Münchner Kollegen sich Ihren Vorlesungsstil abgeguckt?
Ich glaube nicht. Aber ich weiß es nicht. Das Unbekannteste an deutschen Hochschulen ist die Vorlesung des Kollegen.
Heute füllen Sie die Feuilletons der überregionalen Zeitungen mit ihren Beiträgen. War der Artikel von damals der erste Auftritt des Armin Nassehi?
Das war er sicher. Ich hatte bis dahin nur wissenschaftlich publiziert. Mein erster eigener Artikel in der Süddeutschen Zeitung erschien erst im Jahr 2000.
Warum sind Sie eigentlich so umtriebig? Andere Professoren lesen vorn am Pult ihren Stoff runter, und den Drang, sich öffentlich zu Wort zu melden, haben die auch nicht.
Schade eigentlich. Mich an öffentlichen Debatten zu beteiligen, wirkt sich inzwischen auch auf meine wissenschaftliche Arbeit positiv aus. Ich habe gelernt, mich anders auszudrücken.
Und das hilft bei Ihrer wissenschaftlichen Arbeit?
Es geht ja nie nur um das, was ich sage, sondern auch darum, wie ich es sage. Kann ich komplizierte Sachverhalte nur kompliziert ausdrücken? Oder kann ich Sätze produzieren, die an mein Gegenüber denken? Diese Übersetzungsleistung lernt man zwangsläufig, wenn man im Radio nur drei Minuten reden darf und in der Zeitung nur 8000 Zeichen hat und nicht 80.000 wie in einem wissenschaftlichen Aufsatz.
Einige Ihrer Kollegen werden solche Artikel als Verkürzung sehen.
Und sitzen einem Irrtum auf, wenn sie denken, wissenschaftliche Aufsätze seien im Gegensatz dazu Abbildungen der Realität. In Wahrheit ist jedes Format, auch der wissenschaftliche Fachaufsatz, eine Verkürzung eigener Art, genau wie jeder Vortrag, jede Monografie. Das sind alles inszenierte Formen der Realität. Wir müssen aber lernen, in unterschiedlichen Formaten zu denken. Natürlich: Wenn ich in einem Interview über soziologische Fragen spreche, löse ich damit keine soziologischen Forschungsprobleme. Aber ich habe schon den Anspruch, dass alles, was ich sage, ein soziologisches Backup hat, eine wissenschaftliche Erdung. Richtig spannend wird es doch, wenn ich mich plötzlich aufgrund meiner wissenschaftlichen Beschäftigung mit einem Thema gezwungen sehe, Sätze zu sagen, die ich eigentlich gar nicht sagen möchte.
Wie meinen Sie das?
Ich finde, die Aufgabe eines Wissenschaftlers in und für die Öffentlichkeit kann sich nicht darin erschöpfen, lediglich in komplizierte Sätze zu verpacken, was alle schon wissen. Es kommt darauf an, Schlussfolgerungen auszusprechen, die im Zweifel dem, was man gern gesagt hätte, zuwiderlaufen. Neulich habe ich das wieder so erlebt, als ich in einem Spiegel-Artikel angemerkt habe, die Präsenz der AfD im Bundestag sei im Grunde ein sehr demokratischer Vorgang. Das hört sich vielleicht so an, als wolle ich die Politik der AfD rechtfertigen – und mit diesem Vorwurf hat sich meine Mailbox ordentlich gefüllt) – aber das ist Unsinn. Es geht mir als Soziologe nicht um die normative Frage, ob ich Antidemokraten im Bundestag sehen will oder nicht, sondern ich muss erklären, was deren politischer Erfolg bedeutet und ob man das soziologisch erklären kann. Erkenntnisse müssen manchmal unbequem sein.
Ecken Sie mit solchen Positionen bei Ihren Kollegen an?
Ich glaube nicht. Falls dem so sein sollte, bekomme ich es nicht mit. Aber es stimmt schon, ich bin nicht so der typische kulturlinke Sozialwissenschaftler, der vor allem als semantischer Verstärker des eigenen Milieus auftreten will. Wenn sich einige Kollegen wie immer wieder über mangelnde öffentliche Resonanz beklagen, liegt das vielleicht ja auch daran, dass sie primär politisch-normativ argumentieren – oder eben nur Reflexionen des eigenen Milieus zum besten geben. Diese Tendenz ist derzeit sehr stark. Ich sehe meine öffentliche Rolle als Wissenschaftler darin, den Menschen nicht nur eine Bestätigung ihrer Weltsicht zu bieten, sondern Kontraintuition, eine Abweichung von dem, was sie erwarten. Abweichungsverstärkung, auch von den Erwartungen des eigenen Milieus, ist vielleicht das stärkste Erkenntnismittel.
Sind Sie eigentlich eitel?
Was soll ich darauf antworten? Natürlich bin ich eitel. Das ist Teil der Geschäftsgrundlage. Sonst würde das alles nicht funktionieren.
Wenn man sich die Feuilletons der Zeitungen ansieht, gibt es außer Jutta Allmendinger eigentlich nur noch Ihren Bielefelder Kollegen Stefan Kühl, der sich ähnlich häufig zu Wort wie Sie meldet.
Es gibt schon noch ein paar mehr. Aber dass sie Stefan und mich nennen, ist vielleicht kein Zufall. Wir arbeiten zwar auf inhaltlich unterschiedlichen Gebieten, aber mit ähnlichen Theoriemitteln. Bei uns beiden bildet die Systemtheorie die Grundlage unseres Herangehens an die Welt, und die eignet sich nun einmal besonders gut, um gesellschaftliche Prozesse zu erklären. Weil sie eben Verfremdung, Abweichung und analytische Schärfe kombinieren kann.
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