Dürfen Hochschulen Studenten zwingen, Lehrveranstaltungen zu besuchen? Oder reicht es, wenn sie die Prüfungen bestehen? Das Urteil eines Mannheimer Gerichts lässt die Debatte über die Präsenzpflicht wieder aufleben.
EIGENTLICH HÄTTE ER gar nicht zur Verhandlung kommen dürfen. In dem Seminar, das er verpasste, um den Richtern seine Klage gegen die Anwesenheitspflicht zu erläutern, herrschte Anwesenheitspflicht. Doch seine Dozentin machte eine Ausnahme – auch ohne das vorgeschriebene Attest. Und so stand der Politik-Student Stephan Fuhrmann, 21, am 21. November in einem Mannheimer Gerichtssaal und sprach von Freiheit und von Selbstbestimmung und von einem Studium, in dem kein Student mehr Angst haben müsse, wegen verpasster Lehrveranstaltungen seinen Prüfungsanspruch zu verlieren.
Der Satz, mit dem der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg eine Woche später sein Urteil bekannt gab, war langweilig. Seine Wirkung dafür umso größer: „Paragraph 13a, Absatz 3, Satz 2 der Prüfungsordnung für den Studiengang Bachelor of Arts (B. A.) Politikwissenschaft der Universität Mannheim ... ist unwirksam.“ Übersetzt: Die Universität muss ihre Prüfungsordnung in Politikwissenschaft neu schreiben. Denn so unbestimmt und überbordend, wie darin die Anwesenheitspflicht geregelt sei, befanden die Richter, verstoße sie gegen die durchs Grundgesetz geschützte Berufsfreiheit der Studenten und sei auch mit der ebenfalls als Grundrecht verbrieften Freiheit der Lehre nicht zu begründen.
Das Urteil sorgt über die Politikwissenschaft und Mannheim, ja sogar über Baden-Württemberg hinaus für Aufsehen. Denn an vielen Hochschulen in der Bundesrepublik existieren Prüfungsordnungen, die in einem ähnlichen Wortlaut abgefasst sind wie die, gegen die Fuhrmann, unterstützt vom Uni-AStA, geklagt hatte. Fast noch wichtiger ist, dass das Urteil einer Debatte neue Nahrung gibt, die seit Jahren die Hochschulszene entzweit: Ist es gerechtfertigt, wenn Hochschulen ihre Studenten zwingen, Lehrveranstaltungen zu besuchen? Oder sollte allein zählen, ob sie am Ende ihre Prüfungen bestehen?
Ende 2014 hatte die damalige nordrhein-westfälische Wissenschaftsministerin Svenja Schulze (SPD) ihr novelliertes Hochschulgesetz als „Meilenstein“ gefeiert. Darin enthalten war ein fast vollständiges Verbot von Anwesenheitskontrollen in Vorlesungen und Seminaren. Jeder konnte von da an so oft fehlen, wie er will. Die öffentlichen Reaktionen darauf waren heftig. Denn in vielen anderen Bundesländern fehlt eine solche gesetzliche Regelung – etwa in Baden-Württemberg, wo alleine die Hochschulen entscheiden, oder in Bayern, wo das Kultusministerium eine Anwesenheitspflicht nur in begründeten Ausnahmefällen für zulässig hält.
Während die Rektoren in Nordrhein-Westfalen über die Gängelung klagten, applaudierten die Studierendenverbände – und das tun sie bis heute. Tobias Eisch, Vorstandsmitglied beim Freien Zusammenschluss von StudentInnenschaften (fzs), sagt: „Es muss erlaubt sein, dass man sich die Studieninhalte auf individuelle Weise aneignet, wenn man dazu in der Lage ist.“ Eine Präsenzpflicht schaffe unnötige Härten für Studenten, die Angehörige versorgen müssten, krank sind oder für ihren Lebensunterhalt arbeiten müssen. Auch Ministerin Schulz verkündete damals: „Die Studierenden sind Erwachsene. Die können selbst entscheiden, was gut für sie ist.“
Können sie das? >>
>> Der Hamburger Hochschulforscher Rolf Schulmeister legte 2015 eine Metastudie vor, als Reaktion auf das Ende der Präsenzpflicht in NRW. 298 Studien zur studentischen Anwesenheit wertete er aus, aus 25 Ländern und sieben Jahrzehnten. Schulmeisters Ergebnis: Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen der Anwesenheit der Studenten in den Lehrveranstaltungen und ihrem Studienerfolg. Konkret: Je nach Studie reichen schon drei verpasste Termine, um signifikant schlechter in Prüfungen abzuschneiden. „Die Untersuchungen decken auf, dass nicht alle Studierende selbstbestimmt studieren können oder wollen“, sagt Schulmeister, der in einer weiteren Studie namens „Zeitlast“ die Lerngewohnheiten von Studenten und die dafür aufgewendete Zeit gemessen hat. Ergebnis: Wo die Anwesenheitspflicht abgeschafft wird, fällt der Anteil derjenigen, die regelmäßig in den Lehrveranstaltungen auftauchen, auf etwa ein Sechstel. Besonders sinkt die Präsenzquote in den schwierigen Kursen – obwohl gerade dort die Anwesenheit umso wichtiger wäre. „Im Ergebnis fallen gerade die Leistungsschwächeren durchs Rost, wenn man die Pflicht aufhebt“, schließt Schulmeister.
Seit einem halben Jahr regiert in Nordrhein-Westfalen eine schwarz-gelbe Koalition, und Schulzes Nachfolgerin, die parteilose Isabel Pfeiffer-Poensgen, hat angekündigt, das Hochschulgesetz zu entschlacken. Womit unter anderem auch Schulzes Verbot der Anwesenheitspflicht wieder wegfallen soll. An diesem Plan ändere auch die Mannheimer Entscheidung nichts, sagt die neue Ministerin – und auch nicht, dass die Richter in ihrem Urteil ausgerechnet die bisherige NRW-Regelung als beispielhaft zitieren, die Pfeiffer-Poensgen nun wieder abschaffen will.
Sie erstaune gelegentlich, mit wie viel Leidenschaft, „übrigens von beiden Seiten“, die Debatte über die Präsenzpflicht geführt werde, sagt Pfeiffer-Poensgen. Dabei sei doch klar, dass man an den Hochschulen partnerschaftlich miteinander umgehen müsse. „Im Übrigen vertraue ich darauf, dass die Hochschulen rechtsstaatlich handeln, das muss ich nicht noch ins Gesetz hineinschreiben.“
Ob Gesetz oder nicht, was die Mannheimer Richter bestimmten: Wenn es eine Präsenzpflicht gibt, muss die Prüfungsordnung eindeutig definieren, was sie bedeutet – und die Regeln müssen für alle Pflichtveranstaltungen dieselben sein. Es muss klar sein, wie oft Studenten fehlen dürfen, bevor sie nicht mehr zur Prüfung zugelassen werden. Zusätzlich muss in der Prüfungsordnung stehen, wie mit „Fehlzeiten aus wichtigem Grund wie zum Beispiel Krankheit“ umgegangen wird. Und die Hochschule muss sagen, für welche Lehrveranstaltungen eine Präsenzpflicht gilt und für welche nicht. Der Mannheimer Prorektor für Lehre, Thomas Puhl, hatte vor Gericht argumentiert, es sei nicht möglich, die Veranstaltungstypen konkret zu benennen, in denen eine Präsenzpflicht gelten solle. Doch, das ist es, halten die Richter entgegen – und verweisen wiederum auf das noch geltende NRW-Gesetz.
Ernst-Ludwig von Thadden ist Rektor in Mannheim und befürchtet durch das Urteil eine starke Zunahme an Bürokratie. Immerhin, so von Thadden, habe das Gericht gesagt, dass die Studierfreiheit sehr wohl eingeschränkt werden könne, wenn das die Freiheit der Lehre erfordere und pädagogisch sinnvoll sei. Die verlangte Präzisierung „werden wir in allen unseren Prüfungsordnungen nachliefern“. Einen Teil der nötigen Detailarbeit wird wohl erst der gerade gewählte Nachfolger Thaddens begleiten, der schon mit der Materie vertraut ist: Noch-Prorektor Thomas Puhl.
Baden-Württembergs grüne Wissenschaftsministerin Theresia Bauer sagt, das Urteil ermögliche zwar die Präsenzpflicht, habe aber zugleich deutlich gemacht, „dass Dozenten sie nicht einfach aus Bequemlichkeit verordnen können“. An der geltenden Gesetzeslage will Bauer nichts ändern. „Die Entscheidung, wo und warum eine Anwesenheitspflicht nötig ist, liegt allein bei den Hochschulen.“
Ohne gesetzliche Regelung bleibt die Frage nach der Präsenzpflicht eine Abwägung zwischen den Freiheitsrechten der Studenten, der Hochschullehrer und der Hochschule. Keine einfache Abwägung – auch wenn die Forschung die Vorteile der Anwesenheit so eindeutig zu belegen scheint. Selbst Rolf Schulmeister hält eine allgemeine Präsenzpflicht für den falschen Weg. „Einige Studien zeigen, dass schon die Thematisierung der Anwesenheitsproblematik zu Beginn einer Veranstaltung zu einer Verbesserung der Anwesenheit beiträgt und dass Anwesenheitskontrollen ohne Sanktion, also ein Monitoring zu einem deutlichen Anstieg der Anwesenheitsquote führt.“ Liegt hier der Schlüssel, damit Studenten die eigene Verantwortung für ihren Lernerfolg verstehen und das viel beschworene „selbstbestimmte Studium“ überhaupt lernen können?
Der Münchner Soziologieprofessor Armin Nassehi glaubt fest, dass es so ist. Es komme nicht darauf an, was in der Prüfungsordnung steht, sagt er. Am Beginn seiner Seminare stellt er sich vor die Studenten und sagt: „Ihr müsst nicht kommen. Aber wer nicht kommt, ist selber schuld.“
Doch nicht nur die Studenten müssen den Weg zur Eigenverantwortung finden, auch die Hochschullehrer müssen ihren Teil dessen tun, was Schulmeister als „Gesellschaftsvertrag, beruhend auf gemeinsamer Verantwortung“ bezeichnet. Was das heißt, zeigt zum Beispiel der Marburger Anglistikprofessor Jürgen Handke, Träger mehrerer Lehrpreise. Er hat seine Lehrveranstaltungen auf das „Inverted Classroom“-Prinzip umgestellt. Die Studenten finden die früheren Vorlesungsinhalte online, meist in Form von animierten Vorträgen. Vor Ort können sie dann das Erlernte mit dem Professor üben, diskutieren und vertiefen. In den Klausuren werde dann kein bloßes Wissen mehr abgefragt, sondern nur noch die Kompetenz, es anzuwenden, sagt Handke. „Und die erwerben die Studenten nur, wenn sie kommen, es lohnt sich also für sie.“ Ohne Pflicht, sagt Handke, habe er so die Anwesenheit auf über 80 Prozent steigern können – und die meisten der Anwesenden seien noch dazu vorbereitet. Sein Fazit: „Wenn ich meine Studenten nur per Anwesenheitspflicht zum Kommen bewegen kann, gestehe ich mein eigenes Versagen als Hochschullehrer ein.“
Stephan Fuhrmann, der mit seiner Klage die Präsenzdebatte wieder in Schwung gebracht hat, wird derweil von seinem Erfolg persönlich nicht mehr viel haben. Er hat gerade seine Bachelorarbeit abgegeben, alle Pflichtveranstaltungen sind abgehakt. Macht aber nichts, sagt er. „Das war für mich eine Grundsatzfrage.“ Als Fuhrmann die Klage einreichte, war er gerade zum AStA-Referent für Hochschulpolitik gewählt worden.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Süddeutschen Zeitung.
Foto: Christian Wolf, www.c-w-design.de, CC BY-SA 3.0 de
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Jakob Wassink (Sonntag, 07 Januar 2018 21:59)
Lieber Herr Wiarda,
eine gute Darstellung der bekannten Argumente, die ich jetzt hier nicht bewerten möchte. Mir fehlt jedoch der Bezug zu den Unzulänglichkeiten des QM-Systems.
In nahezu jedem Akkreditierungsantrag ist zu lesen, dass Bachelor- und Masterstudiengänge modularisiert und die Prüfungen selbstverständlich modulbezogen und kompetenzorientiert sind. Damit dürfte es an einer Rechtfertigung für die Anwesenheitspflicht als förmliche Prüfungsvorleistung/Teilnahmevoraussetzung zur abschließenden Modulprüfung fehlen. Wenn die prüfungsrelevanten Kompetenzen nicht im Selbststudium erworben werden können, kommen die Studierenden nach meinen Erfahrungen freiwillig in die Lehrveranstaltungen, schon weil der Austausch mit den Dozenten durchweg einfacher ist, als das Irren durch die Literaturbestände.
Ziel eines jeden Bachelorstudiengangs muss ausweislich des Deutschen Qualifikationsrahmens für HS-Abschlüsse die Befähigung zur selbständigen Gestaltung weiterführender Lernprozesse sein. Wie wird diese Kompetenz durch eine Prüfung festgestellt, wenn es durchweg Anwesenheitspflichten gibt?
Die Entscheidung des VGH Mannheim betrifft zwar eine Bachelorprüfungsordnung. Gleichwohl sind Anwesenheitspflichten auch in sehr vielen Masterstudiengängen vorgesehen. Voraussetzung für die Aufnahme eines Masterstudiums ist immer ein Bachelorabschluss, also die Befähigung weiterführende Lernprozesse selbständig zu gestalten.
Ich bin gespannt, wer mir hier die erste widerspruchsfreie Begründung präsentiert...