Helmut Holter, seit Januar Präsident der Kultusministerkonferenz, über die Reformdebatte in der KMK, den Einfluss der neuen Bundesbildungsministerin Anja Karliczek und die Frage, warum er bis heute über das Beamtenrecht rätselt.
Herr Holter, Hand aufs Herz: Hätten Sie selbst damit gerechnet, eines Tages Bildungsminister zu werden?
Na ja, immerhin war ich mal Arbeitsminister in Mecklenburg-Vorpommern, ich war Landesvorsitzender meiner Partei, stellvertretender Ministerpräsident, Fraktionsvorsitzender. Woran man sieht, dass ich nie schmalspurig auf einen Bereich festgelegt war. Ich bin so ein Typ, der sich in Themen reinkniet, der verstehen will, worüber er redet. Der Rest ist learning by doing.
Anders formuliert: Sie waren selbst überrascht, als Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow Sie vor einem halben Jahr in sein Kabinett holte und die Verantwortung für die Schulen des Landes übertrug.
Ja, das stimmt, aber Bodo Ramelow hat gute Argumente genannt. Bildungspolitik ist auch Arbeitsmarktpolitik. Überall in Ostdeutschland erleben wir Abwanderung, Geburtenrückgang, Sterbeüberschüsse. Diese demographischen Veränderungen müssen Sie bildungspolitisch begleiten.
Eines der meist debattierten Bildungsthemen bundesweit im Moment, der Lehrermangel.
Da bin ich Wirtschaftspolitiker. Wenn heute 18 oder 19 Jahre alte Jugendliche mit dem Studium anfangen, weiß ich: Es dauert sieben Jahre, bis die als Lehrkraft vor der Klasse stehen. Und wenn ich das doch weiß, frage ich mich, wie es passieren konnte, dass die Vorausplanung so eklatant fehlschlagen konnte. Der Mangel war vor Jahren erkennbar. Man hätte viel früher Maßnahmen ergreifen müssen.
Als wäre Bildungsminister über Nacht nicht genug, sind Sie seit Anfang des Jahres auch noch turnusgemäß Präsident von allen deutschen Bildungsministern, als Chef der Kultusministerkonferenz (KMK). Anfang sagten Sie, Sie wollten verstehen, worüber Sie reden. Was verstehen Sie derzeit denn noch nicht, wenn Sie sich die Schulen und Hochschulen anschauen?
Ich fange mal in Thüringen an. Ich verstehe nicht, wieso so viele Koalitionen hier im Land sich über so viele Jahre nicht zu einer Entscheidung durchringen konnten, welche Mindestgröße eine Schule haben soll. Die kleinste Grundschule in Südthüringen besteht aus 29 Kindern, und wir haben Berufsschulen mit 1500 Schülern. Das ist die Bandbreite. Wenn wir über Lehrermangel reden, ist klar, dass kleine Schulen logischerweise viele Lehrerinnen und Lehrer binden. Wie effizient ist das, frage ich mich. So, wie ich manches Mal über das Beamtenrecht rätsele.
Irgendwelche neuen Erkenntnisse an der Stelle?
Bisher eigentlich nicht. Beamtenrecht ist nicht logisch. Das ist etwas in Stein Gemeißeltes. Ich bin jetzt Dienstherr von 21.000 Menschen, man könnte sagen: Ich bin der größte Arbeitgeber in Thüringen. Warum, frage ich mich, werden Beamte nicht nach Leistung oder ausgeübter Tätigkeit, sondern nach ihrer Ausbildung besoldet? Wenn Ihnen ein Schulleiter sagt: "Ich bin schon sieben Jahre auf meiner Stelle, aber ich komme nicht in eine höhere Gehaltsstufe, weil ich dafür nicht das nötige Dienstalter habe", dann ist das nicht richtig. Darum ändern wir jetzt das Lehrerbesoldungsrecht.
Mehr Geld für mehr Leistung: Wenn man das hört, könnte man denken, die Zeit ideologischer Bildungsdebatten zwischen politischen Lagern sei vorüber.
Die Unterschiede sind nach wie vor groß. Die Bildungschancen junger Menschen hängen immer noch vom Geldbeutel ihrer Eltern ab. Deshalb bin ich so ein starker Anhänger von Gemeinschaftsschulen und längerem gemeinsamen Lernen, weil wir nur dadurch auch die Potenziale jener Schüler erkennen und fördern können, die sich erst später zeigen. Wo die Kinder schon nach vier Jahren Grundschule aufgeteilt werden, kommt es zu voreiligen und womöglich falschen Weichenstellungen.
Falsche Weichenstellungen inwiefern?
Den Kindern und ihren Eltern wurde, auch von der Politik, und zwar bundesweit, suggeriert: Wenn du etwas werden willst, musst du Abitur machen und studieren.
Und das ist nicht richtig?
Das ist falsch. Man kann in einem Lehrberuf genauso Karriere machen wie mit einem Bachelor oder einem Master. Ausbildung und Studium sind gleichwertig, als Gesellschaft brauchen wir beide Wege gleichermaßen. Darum sollten wir nicht das eine für wünschenswerter als das andere erklären.
Das Studium wurde zu hoch gehängt?
Bei aller Automatisierung und Digitalisierung: Wir brauchen auch Menschen, die schrauben, die klempnern, die mauern und tischlern. In diesen handwerklichen Tätigkeiten können sich viele junge Leute verwirklichen. Das ist ja das Verrückte: Die Überhöhung des Studiums hat dazu geführt, dass Kinder von ihren Eltern aufs Gymnasium geschickt werden, obwohl sie nicht die Voraussetzungen haben, erfolgreich zum Abitur zu gehen. Womit man diesen Kindern in ihrer Entwicklung nicht gerecht wird.
Die Große Koalition hat sich darauf geeinigt, das Grundgesetz zu ändern, damit sie den Schulen besser helfen kann. Bekommen Union und SPD dafür von Ihnen Applaus?
Die geplante Änderung besagt, dass der Bund künftig die Kommunen unabhängig von ihrer Finanzkraft bei Bildungsinvestitionen unterstützen kann. Aber eben nur bei Investitionen. Das sind Rechnungen zulasten Dritter. Die Große Koalition stellt scheinbar riesige Schecks aus und verschleiert die eigentlichen Kosten, die im zweiten Schritt entstehen. Das gilt für das im Koalitionsvertrag groß angekündigte Ganztagsprogramm genauso wie für das Versprechen der Bundesregierung, die Inklusion umzusetzen. Denn die Länder bleiben aber auf den Kosten für das zusätzliche Personal sitzen. Ich sage deshalb ganz deutlich: Der Bund muss künftig auch Lehrerstellen mitfinanzieren, sonst schaffen wir Länder das nicht.>>
>> Sie können die geplante Grundgesetz-Änderung, wenn sie Ihnen nicht weit genug geht, ja ablehnen. Die Große Koalition braucht im Bundestag die Zustimmung von Teilen der Opposition, im Bundesrat sowieso.
Die Änderung ist ja nicht falsch. Sie reicht nur nicht. Grundsätzlich zeigen solche Passagen im Koalitionsvertrag der Großen Koalition, wie uneinig sich die Partner sind. Ein anderes Beispiel: Eigentlich brauchen wir einen neuen Bildungsstaatsvertrag zwischen den Ländern, um die Kultusministerkonferenz schlagkräftiger zu machen, aber auf den können sich Union und SPD bislang nicht einigen. Also kommen sie mit der Idee eines Nationalen Bildungsrates um die Ecke. Da frage ich: Was ist denn dann die KMK?
Ja, was ist denn die KMK?
Da stelle ich zunächst mal fest: Bei jedem Treffen der Kultusminister sitzt das Bundesministerium für Bildung und Forschung beratend mit am Tisch. Was also unterscheidet die KMK von dem vorgeschlagenen Bildungsrat? Am Vorabend unserer vergangenen Sitzung hatten wir Stiftungsvertreter eingeladen und haben über die Digitalisierung geredet. Wir befragen auch immer wieder Professoren und Sachverständige: Alles Dinge, die ein Nationaler Bildungsrat auch tun würde.
Für Sie ist die KMK der bessere Bildungsrat?
Ist sie nicht, aber sie könnte es sein. Machen wir uns nichts vor: Das Einstimmigkeitsprinzip, all die Langsamkeit, die der KMK vorgeworfen wird, wären doch im Bildungsrat nicht geringer. Das fängt schon an bei dem Staatsvertrag, den Bund und Länder auch dafür schließen müssten. Einstimmig. Das halte ich nicht für realistisch.
Ihre Vorgängerin als KMK-Präsidentin, Baden-Württembergs Kultusministerin Susanne Eisenmann, hat Vorschläge gemacht, wie die die KMK ihre Krise überwinden kann.
Ich finde nicht, dass der Ausdruck Krise es trifft. Es geht vielmehr darum, dass die KMK das Selbstbewusstsein entwickeln muss, um im bildungspolitischen Diskurs eine größere Rolle zu spielen.
Aber wie denn?
Auch wenn ich neu bin in der KMK: Mit Ministerkonferenzen habe ich durchaus meine Erfahrungen. In der KMK ist mir von Anfang an aufgefallen, dass da fast nur Tagesordnungspunkte und Vorlagen aus verschiedenen Ausschüssen abgearbeitet wurden: vorbereitet, zur Kenntnis genommen, abgenickt und fertig. Das geht nicht. Wir haben uns jetzt in die Hand versprochen: Künftig nehmen wir uns Zeit, um aktuelle Fragen zu diskutieren. Zweitens müssen wir das nötige Analysewissen selbst erzeugen.
Man könnte auch sagen, Sie wollen sich nicht mehr von Bertelsmann und anderen Stiftungen, die regelmäßig Studien zum Bildungssystem präsentieren, vorführen lassen.
Sobald irgendeine Schulstudie erscheint, reagieren wir Kultusminister reflexartig. Schauen zunächst, wo unser eigenes Land im Ranking steht. Und dann loben wir oder rechtfertigen uns. Die eigentliche Frage aber, welche Schlussfolgerungen sich aus den Ergebnissen ziehen lassen, bleibt unbeantwortet. Darum hat Frau Eisenmann vollkommen Recht, wenn sie beispielsweise das von der KMK getragene Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen, das IQB, mit zusätzlichen Kompetenzen ausstatten möchte. So dass es nicht nur feststellt, sondern uns zugleich berät. Die Damen und Herren dort haben schon jetzt kluge Ideen, nur sind sie bisher nie danach gefragt worden.
Also lieber mehr Geld fürs IQB als ein neuer Bildungsstaatsvertrag?
Das hielte ich für realistischer, auch weil wir die Weiterentwicklung des IQB selbst in der Hand hätten.
Trotzdem hat die KMK auf ihrer letzten Sitzung vereinbart, die Option Länderstaatsvertrag jetzt ernsthaft zu prüfen. Macht Sie das optimistischer?
Was wir in jeden Fall brauchen ist ein Themenkatalog und gegebenfalls weitergehende Vereinbarungen der Länder zu grundsätzlichen Fragen der Bildungspolitik. Unser Ziel muss dabei sein, die Vergleichbarkeit und Qualität im Bildungswesen zu verbessern und Mobilitätshindernisse abzubauen.
Auch beim Bildungsrat klangen Sie in Ihrer offiziellen Pressemitteilung nach der Sitzung begeisterter, sprachen davon, dass jetzt die Weichen für das neue Gremium gestellt seien. Wie denn nun?
In der Pressemitteilung steht, dass wir die Weichen stellen werden, nicht dass sie schon gestellt sind. Jetzt werden die Länder erst einmal ein gemeinsames Konzept zum Bildungsrat als Verhandlungsgrundlage mit dem Bund erarbeiten. Wir sind gut beraten unsere eigene Position dazu zu besprechen – zunächst miteinander, ohne den Bund.
Was ist eigentlich mit den Themen Hochschule und Wissenschaft? Es gibt Ressortchefs, die sind so genervt von der KMK, dass sie am liebsten ganz raus wollen und das Gremium den Schulministern überlassen wollen.
Da höre ich aus den Hochschulen anders. Im Herbst hatten wir in der KMK Besuch von mehreren Rektoren und die betonten alle, wie wichtig die Kultusministerkonferenz für sie ist. Eine Aufspaltung ergäbe auch keinen Sinn, solange wir den Anspruch haben, die Bildungskette von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende zu betrachten, von der Kita bis zum Seniorenstudium.
Nicht nur unter Wissenschaftsministern gibt es KMK-skeptische Töne. Vor dem vergangenen Wochenende schlug der rheinland-pfälzische Kulturminister Konrad Wolf vor, eine eigene Kulturministerkonferenz zu gründen. Wie bewerten Sie den Vorschlag?
Ich habe es als einen Ruf nach Stärkung des Profils in der Konferenz bei den Themen Wissenschaft und Kultur verstanden. Die Forderung ist auf jeden Fall angekommen und wir werden auf der nächsten Sitzung ganz unaufgeregt darüber sprechen. Mein Empfinden ist, dass wir zusammenstehen sollten. Dies ist unsere Stärke.
Oft scheint es, als verblassten gerade die Nöte der Hochschulen hinter den ewigen Schuldebatten. Der Sanierungsstau an den Hochschulen beträgt laut einer von der KMK in Auftrag gegebenen Studie bis 2025 35 Milliarden Euro. Weil im Zweifel erstmal die Schulen dran sind?
Ich kann verstehen, dass das manchmal so aussehen mag, wenn Unterrichtsausfall und Lehrermangel so gravierende Dimensionen angenommen haben. Aber natürlich wissen wir alle, dass die Herausforderungen im Hochschulbereich nicht geringer sind.
Jede weitergehende Grundgesetzänderung, die dem Bund mehr Mitwirkungsrechte in den Schulen bringt, birgt aber doch die sehr reale Gefahr für die Hochschulen, dass der Bund sein Engagement von ihnen wegverlagert.
Jetzt werde ich für einen Moment mal parteipolitisch. Dieses Land investiert unzählige Milliarden in Rüstungsprojekte: in Hubschrauber, die am Ende trotzdem nicht fliegen, in U-Boote, die nicht tauchen können. Es wäre aberwitzig, wenn wir angesichts einer solchen Schräglage einen Verteilungswettbewerb zwischen Schule und Hochschule aufmachen. Wir brauchen eine generelle Umverteilung des Bundeshaushaltes in Richtung Bildung, doch diese Frage wird so gut wie gar nicht diskutiert.
Es gibt Politiker auch in ihrer Partei sagen: Solange wir uns gute Studienbedingungen nicht in der Breite leisten können, sollten wir auf die Exzellenzstrategie verzichten, die über eine halbe Milliarde jährlich kostet.
Das ist der falsche Ansatz. Wir brauchen Qualität, sprich: die Exzellenzstrategie, und wir brauchen bessere Studien- und Lebensbedingungen für die Studierenden. Das eine darf nicht zulasten des anderen gehen.
Schöne Sätze, schöne Forderung. Aber warum ziehen Bildung und Wissenschaft am Ende doch oft den Kürzeren – auch in den Ländern? Müssen sich die Kultusminister an die eigene Nase fassen und sagen: Wir versagen bei der Lobbyarbeit?
Deshalb müssen wir ja die KMK stärken und gegenüber den Bund als auch den Ministerpräsidenten in eine bessere Verhandlungsposition bringen. Aber das ist nur der erste Teil meiner Antwort. Der zweite lautet: Es ist eben nicht egal, wer regiert.
Will sagen: Ist die Linke in Regierungsverantwortung, geht es Bildung und Forschung besser?
Wir setzen darauf ganz klar einen Schwerpunkt. Das kann ich empirisch nachweisen. In Thüringen hat Rot-Rot-Grün gegenüber der CDU-Vorgängerregierung schon jetzt über 300 Millionen Euro mehr in die Schulen und Hochschulen investiert.
Fürchten Sie eigentlich um den Einfluss der Länder mit Anja Karliczek als neuer Bundesbildungsministerin? Die hat am Tag nach ihrer Nominierung in der Bild gleich mal folgende Ansage gemacht: "Fest steht, es werden gerade im Bildungsbereich mit der Abgabe von Verantwortung der Länder an den Bund in einigen Bereichen mehr Aufgaben auf das Forschungs- und Bildungsministerium zukommen."
Ich weiß auch nicht, worauf sie sich bezieht. Im Koalitionsvertrag steht eindeutig: Die Kultushoheit bleibt bei den Ländern. Klar hätte der Bund gern mehr Einfluss, wenn er den Ländern mehr Geld verspricht. Faktisch hat er den aber nicht. Das ist ja das föderale Dilemma. Wofür und wie der Bund sein Geld im Bildungsbereich ausgibt, bestimmen die Länder an entscheidender Stelle mit.
Lehrermangel, Bildungsgerechtigkeit, Digitalisierung, Reform der Kultusministerkonferenz: Jede Menge gewichtige Themen für einen KMK-Präsidenten. Und Sie erklären die Demokratieerziehung zum Schwerpunkt Ihrer Präsidentschaft erklärt. Wieso eigentlich?
Weil das Thema in unsere Zeit passt. Die demokratiefeindlichen Tendenzen in unserer Gesellschaft verstärken sich, populistische Parteien ziehen in die Parlamente ein. Die Gewalthemmung nimmt ab, und ich spreche da nicht nur von politisch motivierten Straftaten. Gleichzeitig beobachten wir eine sprachliche Verrohung sogar bei internationalen Spitzenpolitikern, sei es der US-Präsident oder der türkische Präsident Erdogan mit seinen Drohungen gegenüber Deutschland.
Was folgt daraus für Schulen, Hochschulen und Ausbildungsbetriebe?
Schulen und Hochschulen sollten Demokratie noch stärker als bislang leben, bei der Wahl der Klassensprecher und Studierendenvertreter, aber auch beim Einfluss auf die Entwicklung ihrer Bildungseinrichtung. Inhaltlich sollten die Schulen stärker als bisher Wert legen auf soziale Kompetenzen. Womit ich im Grunde Anstand meine. Als roter Faden nicht nur in Sozialkunde oder Politik, sondern in allen Fächern, in Sport, Musik oder Mathematik. Und auch die Lerninhalte müssen sich verändern. Ich höre, dass besonders die jüngere deutsche Geschichte nach 1945 und 1949 im Unterricht zu kurz kommt, dabei lassen sich aus der der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts so viele Schlussfolgerungen für heute ziehen.
Fotos: Kay Herschelmann
Dieses Interview erschien zuerst im DSW Journal des Deutschen Studentenwerks. Dies ist eine aktualisierte Fassung.
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