Diese Woche feiert Europa 20 Jahre Europäischen Hochschulraum. Höchste Zeit, die großartige Idee von damals in die komplexe Wirklichkeit von heute zu übersetzen. Ein Gastkommentar von Wiebke Esdar.
WENN SICH DIESE WOCHE die Bildungs- und Forschungsminister Europas zur Bologna-Konferenz in Paris treffen, dann steht dieser Termin auch im Zeichen eines bevorstehenden Jubiläums: 20 Jahre Unterzeichnung der Sorbonne-Erklärung und damit 20 Jahre Europäischer Hochschulraum (EHR). Was vor Jahrzehnten noch als fixe Idee galt, ist heute Wirklichkeit geworden: einheitliche Abschlüsse, hohe Mobilität und Internationalisierung sowie gemeinsame Standards für die Qualität in der Hochschulbildung. Wir finden: Höchste Zeit also, eine neue Vision für Bildung und Forschung in Europa zu wagen.
Wir, das ist die Arbeitsgruppe Bildung und Forschung der SPD-Bundestagsfraktion. In einem Positionspapier haben wir unsere Ideen formuliert, wie der Europäische Hochschulraum der Zukunft aussehen kann und welche Rolle die Bologna-Ministerkonferenz darin spielen sollte. Die Chancen Europas bestmöglich zu nutzen, das muss das Ziel sein, und zwar nicht nur allgemein für Universitäten und Fachhochschulen, sondern ganz direkt für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und auch für die Studierenden.
Dafür müssen wir die Bologna-Ministerkonferenz zu einer Europäischen Hochschulkonferenz weiterentwickeln, die sich drei zentralen Aufgaben widmet: Erstens die Wissenschaftsfreiheit zu sichern, zweitens Bildungsteilhabe für alle zu verwirklichen und drittens mehr Mobilität, Austausch und Vergleichbarkeit zu ermöglichen. Wenn es Europa – auch jenseits der Grenzen der Europäischen Union – gelingt, diese Werte zu verkörpern und zu verteidigen, ist das ein starkes Signal an die internationale Wissensgemeinschaft. Unser Kontinent kann damit nicht nur ein Fixpunkt im bildungs- und forschungspolitischen Koordinatensystem sein, sondern ein Versprechen für die klügsten Köpfe in aller Welt.
Ein verbindlicher Wertekatalog
für Wissenschaftsfreiheit
Wissenschaftsfreiheit in unserem Verständnis umfasst zwei zentrale Punkte: die Freiheit von politischer Einflussnahme, aber auch die Freiheit von ökonomischen Zwängen. Ungarn und die Türkei stehen beispielhaft dafür, dass bereits heute in und an den Grenzen der Europäischen Union die politische Unabhängigkeit der Hochschulen nicht mehr gesichert ist. Der EHR muss darauf Antworten geben. Darum müssen die europäischen Staaten einen verbindlichen Wertekatalog für die Wissenschaftsfreiheit vereinbaren, dessen Garantien auch an den europäischen Gerichtsbarkeiten einklagbar sein müssen. Damit schaffen wir konkrete Abkommen, auf die sich die Hochschulen der Mitgliedsländer berufen und an denen sie ihre nationalen Regierungen messen können. Daneben brauchen wir eine zentrale europäische Anlaufstelle für bedrohte Forscherinnen und Forscher sowie die Möglichkeit, auf Beschluss der europäischen Hochschulkonferenz Beobachtergruppen zu entsenden, um den Status der Wissenschaftsfreiheit zu prüfen.
Sichergestellt werden muss aber auch, dass der EHR seine Unabhängigkeit gegenüber großen Konzernen behält. Globalen Playern mit Monopolstellung im Technologiesektor wie Google kann Europa heute keine Alternativen entgegensetzen. Der Versuch, Wissen und Quellen mithilfe einer eigenen europäischen Suchmaschine unabhängig verfügbar zu machen, ist vorerst gescheitert. Damit darf sich Europa nicht abfinden. Ein erster Schritt für einen neuen Anlauf muss sein, einen europäischen Web-Index aufzubauen, der das Internet systematisch katalogisiert und damit die Grundlage für neue Suchmaschinen und andere Dienste in Europa bildet.
Wildwuchs der nationalen
Ausbildungsfinanzierungen überwinden
Hochschulbildung und der Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen müssen möglichst allen Europäerinnen und Europäer offenstehen. In der Realität sehen sich die Studierenden aber mit einem Wildwuchs von unterschiedlichen nationalen Systemen der Ausbildungsfinanzierung konfrontiert. Echte Bildungsteilhabe in Europa setzt voraus, die vorhandenen Systeme einander anzunähern. Auf dieser Grundlage könnte eine Leistung wie das deutsche BAföG mit einem Rechtsanspruch auf alle Länder der EU und des EHR ausgeweitet und über den gemeinsamen EU-Haushalt finanziert werden. Diese erste europäische Sozialleistung wäre ein gewaltiger Integrationsschritt und ein konkret spürbarer. Besser ließe sich die europäische Idee gerade für junge Menschen kaum erfahrbar machen.
Ganz grundsätzlich muss es im EHR darum gehen, nationale Stärken noch besser zu erkennen und als Standard für die Union insgesamt zu definieren, seien es die Ausbildungsförderung in Deutschland oder der Grad der Digitalisierung in Estland. Eine wirklich umfassende Bildungsteilhabe geht jedoch über die Studierenden hinaus und erfordert Angebote an jeden und jede in der Gesellschaft. Nötig ist daher ein institutionalisierter Austausch mit der Zivilgesellschaft, um nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse stärker als bisher der breiten Öffentlichkeit und fachfremden Personen zugänglich und verständlich zu machen, sondern auch um mehr Menschen zu unterstützen, die Seriosität von Quellen kritisch zu prüfen und eigenständig zu bewerten. Dafür brauchen wir europäische Häuser der Wissenschaft.
Macrons Plädoyer für
europäische Hochschulen gestalten
Mehr Mobilität, Austausch und Vergleichbarkeit: Dieses Ziel ist nicht nur für Studierende zentral, sondern gerade auch für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Der EHR zeigt schon heute, dass er kulturelle Unterschiede abbauen und gleichzeitig das Verständnis für historische Eigenheiten fördern kann. Europa kann aber noch mehr. Wir wollen Emmanuel Macrons Plädoyer für europäische Hochschulen deshalb nicht nur aufgreifen, sondern gestalten. Unser Ziel ist, möglichst viele bestehende Einrichtungen zu europäischen Hochschulen weiterzuentwickeln und diese auch möglichst vielen Studierenden und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zugänglich zu machen. Um Verlässlichkeit zu schaffen, brauchen wir verbindliche Anerkennungsquoten für im EHR erworbene Studienleistungen und müssen einen "Aktionsplan Brexit" ins Leben rufen, damit Forschende in und aus Großbritannien vor möglichen Einschränkungen geschützt werden.
Europa muss für den gesamten Europäischen Hochschulraum in Bildung und Forschung noch stärker erfahrbar werden, denn die europäische Idee birgt das Versprechen auf Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität für 48 Länder – von Portugal bis Russland und von Island bis Kasachstan. Manches wird sich leichter und schneller umsetzen lassen, bei anderem werden wir dicke Bretter bohren müssen. Wichtig ist uns, dass wir endlich den Dialog über die Zukunft von Bildung und Forschung in Europa beginnen.
Wiebke Esdar ist Mitglied des Bundestages und für die SPD im Ausschuss für Bildung und Forschung.
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