20 Jahre nach dem Start der Studienreform haben Europas Wissenschaftsminister in Paris Bilanz gezogen. Für Deutschland mit dabei war Konrad Wolf. Ein Interview über Umwege und Errungenschaften, internationale Werte und die richtige Antwort auf Macrons Europauni-Initiative.
AN DER SORBONNE: Wissenschaftsminister Konrad Wolf (links), der für Hochschulen zuständige BDA-Vizepräsident Gerhard F. Braun und Bundesbildungsministerin Anja Karliczek. Foto: MWWK.
Herr Wolf, Sie sind Wissenschaftsminister in Rheinland-Pfalz und haben als Vertreter der Bundesländer an der Bologna-Folgekonferenz in Paris teilgenommen.
Ja, und es war in diesem Fall für mich nicht einmal eine weite Anreise. Paris ist für mich die nächste wichtige Großstadt. Ich wohne in Zweibrücken in der Nähe von Saarbrücken, und von da fährt man gerade mal eine Stunde und 50 Minuten. Also fast Nahverkehr. Nach Berlin brauche ich ungefähr doppelt so lang.
Ich hoffe, Ihre Begeisterung für die Konferenz bezog sich nicht nur auf die unkomplizierte Anreise?
Für mich war es ja die erste Bologna-Nachfolgekonferenz, wie sie alle zwei Jahre stattfindet. Darum fehlt mir der persönliche Vergleich. Aber ich fand sie sehr politisch, und das war in der Vergangenheit nicht immer so, habe ich mir sagen lassen. Das mag daran gelegen haben, dass es die Jubiläumskonferenz war: 20 Jahre Sorbonne-Erklärung.
1998 wurden an der Sorbonne-Universität die Grundlagen für den europäischen Hochschulraum geschaffen, wesentliche Eigenschaften: die Einführung europaweit vergleichbarer Studienabschlüsse auf zwei Stufen, Bachelor und Master, und die Berechnung der Studienleistungen über Kreditpunkte.
Das ist faktisch richtig, aber ideengeschichtlich eine Verkürzung. Es ging um einen hochschulpolitischen Aufbruch, um eine europäische Vision. Genau darüber haben wir in Paris diskutiert: Was 1998 gewollt war, und wie weit wir heute in der Umsetzung dessen gekommen sind.
48 Staaten machen heute bei Bologna mit: von Weißrussland bis Portugal, von Georgien bis Island. Wie kann man bei solch einer Heterogenität, auch der politischen Systeme, von einer einenden Idee sprechen? Also einer Idee, die über Formalia hinausgeht?
Wenn wir ehrlich sind, sind es sogar noch mehr Staaten, denn dazu kommen die assoziierten Länder. Thailand zum Beispiel, Ägypten, Kanada oder einige Länder Südamerikas. Ist nicht schon das eine wunderbare Sache? Bei so vielen internationalen Entscheidungen scheint Europa heute abgemeldet, unser Einfluss in der Welt schwindet. Aber dann gibt es da ausgerechnet in der Wissenschaft, in den Hochschulen, einen Einigungsprozess, bei dem die Welt auf uns schaut. Klar: Gerade wenn man sich die demokratischen Defizite in vielen Ländern, auch in einigen Bologna-Staaten, anschaut, kann man fragen: Wo sind denn da die gemeinsamen Werte? Wo sind Wissenschaftsfreiheit und Hochschuldemokratie? Aber so funktioniert Bologna nicht.
Sondern?
Bologna und die Umsetzung eines freien und offenen Europäischen Hochschulraums gelingen nicht über das unerbittliche Anklagen von Defiziten und die Kritik an vermeintlichen Außenseitern, sondern durch die Macht der positiven Beispiele. Diejenigen Staaten, die in der Umsetzung fortgeschritten sind, können anderen Unterstützung bei der Hochschulreform anbieten. So liest sich auch das Communiqué der Konferenz. Es ist ein Bekenntnis zu Wissenschaftsfreiheit, zu demokratischer Mitgestaltung und sozialer Inklusion, das alle unterschreiben konnten. Keiner wird öffentlich an den Pranger gestellt. Langfristig entwickelt so ein Dokument seine Wirkung dadurch, dass Studierenden und Wissenschaftlern, die unter Druck geraten, sich darauf berufen können.
Lassen Sie uns über die deutsche Bologna-Bilanz reden.
Für uns ist eine ganz neue Welt entstanden, eine Studienwelt, die sich so vor 20 Jahren keiner hätte vorstellen können. Die Studierenden sind heute mobiler, sie wechseln zwischen den Hochschulen im In- und Ausland, auch die Studiengänge haben sich grundlegend gewandelt. Es wurde nicht nur das System der Kreditpunkte eingeführt, die vielfach als technokratisch kritisiert werden. Es hat sich auch ein grundsätzlicher Wandel entwickelt: der sogenannte shift from teaching to learning. Übersetzt bedeutet der, dass wir die Studiengänge heute von der Perspektive und den Bedürfnissen der Studierenden aus denken.
KONRAD WOLF ist SPD-Politiker und seit 2016 Minister für Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur in Rheinland-Pfalz. Vorher war der Physiker sieben Jahre lang
Präsident der Hochschule Kaiserslautern.
Foto: Sven Teschke/CC BY-SA 3.0
Oder denken sollten. In der Realität kritisieren viele, durch Bologna sei das Studium verschult, vollgestopft, sinnentleert.
Das stimmt doch nicht. Natürlich ist es so, dass ein so massiver Veränderungsprozess wie die europäische Studienreform auch massive Beharrungstendenzen auslöst. In Bologna wurden jede Menge Interessen und Erwartungen hineinprojiziert, die dann tatsächlich zu einer Überfrachtung geführt haben. Die Wirtschaft zum Beispiel wollte, dass die im alten System sehr langen Studienzeiten kürzer werden. Die Wissenschaftsministerinnen und -minister wollten die in einigen Fächern sehr hohen Abbrecherquoten senken. Und alle haben sie von einer vermeintlich besseren Berufsqualifizierung der Hochschulabsolventen geredet. Dadurch war die Umsetzung von Bologna vor allem in den ersten Jahren merklich diffus, auch weil viele Professoren gegen den Druck von oben opponiert haben.
Trotzdem sagen Sie: Die Reform war ein Erfolg.
Unbedingt. Weil sich die Hochschulen, ob sie nun wollten oder nicht, mit den an sie gerichteten Erwartungen auseinandersetzen mussten. Daraus ist, zum Teil über Umwege, eine Menge Gutes entstanden. In vielen Fächern wurde plötzlich intensiv diskutiert: Welches Profil sollen die neuen Studiengänge haben? Welche Kompetenzen sollen die Studierenden am Ende ihres Studiums besitzen und warum? Dieser Diskussionsprozess war das eigentlich Wertvolle an der Reform, auch weil die Hochschulen sich dafür öffnen mussten. Die Studierenden bekamen mehr Mitspracherechte, aber auch Experten aus Unternehmen, Gewerkschaften und anderen gesellschaftlichen Institutionen wurden miteinbezogen.
Die Wirtschaft hat also mehr Einfluss aufs Studium genommen. Und das finden Sie gut?
Mehr Mitsprache heißt nicht, dass die Unternehmen irgendwo Entscheidungen dominiert hätten oder dominieren könnten. Ich sehe das nicht. Auch in den Hochschulräten, die in den vergangenen 20 Jahren vielerorts entstanden sind, kann ich keine systematische Schieflage erkennen. Durch die Auseinandersetzung der Hochschulen mit sich selbst und mit ihrer Außenwelt ist ein ganz neues Selbstverständnis, ja ein neues Selbstbewusstsein entstanden. Das nochmal einen Quantensprung erlebt hat, seit mehr und mehr Hochschulen systemakkreditiert sind.
Systemakkreditierung bedeutet, dass die Hochschulen selbst ihre Studiengänge für gut befinden dürfen. Weil zuvor ihr sogenanntes Qualitätsmanagementsystem von außen akkreditiert worden ist. Mit Bologna hat das eigentlich nicht viel zu tun.
Die Akkreditierung drückt für mich doch dieselbe grundlegende Veränderung aus. Besonders auch mit der Systemakkreditierung, die in den letzten Jahren möglich wurde. Die Hochschulen sind in einem hohen Maße für sich selbst verantwortlich, und daraus erwächst für sie die Verantwortung, nach innen und außen neue Beteiligungsformate zu schaffen.
Wenn die Reform so toll war, wie Sie sagen, warum war sie dann in Deutschland lange so unbeliebt?
Zunächst mal kommt es immer darauf an, wen Sie fragen. Die Studierenden hatten von Anfang an einen sehr differenzierten Blick auf das Bachelor- und Mastersystem. Aber die Negativbeispiele laufen halt besser, auch in den Medien. Gerade in der ersten Ausbaustufe waren einige Kritikpunkte zudem berechtigt. Viele Studiengänge waren in der Tat zu kleinteilig strukturiert und sahen zu viele Prüfungen vor. Das wurde spätestens nach den Studierendenstreiks von 2009/2010 geändert. Deshalb sagte ich vorhin, es sei viel Gutes entstanden, wenn auch zum Teil erst über Umwege. An einigen Fehlentwicklungen ist Bologna auch gar nicht schuld.
Zum Beispiel?
Es wird immer gesagt, durch Bologna sei die studentische Arbeitsbelastung so groß geworden. Tatsächlich war sie auch vorher hoch und ist durch die Reform nicht gesunken. Und dann dieser Vorwurf des Schnellstudiums...
Kritiker sprachen vom "Bulämie-Lernen" im Bachelor...
Diesen von vielen Studierenden empfundenen Druck, sie müssten möglichst schnell fertig werden, gab und gibt es tatsächlich. Er hat aber nichts mit der Studienreform zu tun. Wenn Sie sich die hochschulpolitischen Debatten der 80er und 90er Jahre anschauen, begegnen Ihnen da ständig Begriffe wie "Bummelstudenten". Den jungen Leuten wurde über viele Jahre hinweg eingetrichtert, sie sollten endlich mit dem Trödeln aufhören. Irgendwann haben es dann viele Studierende verinnerlicht. Und plötzlich waren alle entsetzt, als kurze Studienzeiten tatsächlich das Studieren stark bestimmten. Ich habe meinen Studierenden schon vor zehn Jahren erzählt, sie sollen sich unbedingt die Zeit für ein Auslandsstudium nehmen oder auch mal eine Lehrveranstaltung belegen, die sie nicht unbedingt brauchen. Aber wenn sich eine gesellschaftliche Wahrnehmung – in diesem Fall: Studienverzögerungen sind schädlich – erstmal festgesetzt hat, bekommen Sie die nicht so schnell wieder weg. Egal, wie die Studienstruktur aussieht.
Die sich womöglich ja doch nicht so stark geändert hat, wie Sie behaupten. Viele Hochschulen haben ihre alten Magister- und Diplomprogramme einfach in zwei Abschnitte zerschnitten, ein bisschen Kosmetik drübergelegt, und das war’s. Die Folge: Der Bachelor gilt den meisten nicht als ausreichend, in den Beruf zu starten, mehr als zwei Drittel aller Absolventen schließen direkt den Master an.
So negativ sehe ich das nicht. Die Flexibilität ist schon höher als früher, vor allem an den Fachhochschulen. Dort liegt die direkte Übergangsquote zum Master bei etwa 50 Prozent. Auch an den Unis starten jedes Jahr Zehntausende mit dem Bachelor in den Beruf. Und von denen, die ohne Pause mit dem Master weitermachen, wechseln etliche das Studienfach, den Standort oder gehen sogar ganz ins Ausland.
Viele Hochschulen richten ihre Studienprogramme aber so aus, dass ein Wechsel von außen in die Masterprogramme kaum möglich ist. Und raten gleichzeitig ihren eigenen Leuten davon ab, woanders hinzugehen. Was sagen Sie zu solchen Formen akademischer Kirchturmpolitik?
Natürlich müssen sich die Hochschulen und Studienfächer fragen lassen: Welche Restriktionen sind tatsächlich sinnvoll? Wo können und sollten sie entspannter sein bei der Auswahl von Masterstudierenden? Aber umgekehrt sage ich auch: Die Großzügigkeit hat Grenzen. In einem technologie-orientierten Master, wie etwa in der Nanotechnik, kann ich viel breiter zulassen als bei einem Master, der stark von theoretischer Physik geprägt ist. Und ich finde es völlig in Ordnung, wenn Hochschulen nicht nur auf den Namen eines Studienmoduls schauen, das woanders belegt wurde, sondern auch auf die Inhalte.
Aber wollten wir durch Bologna nicht gerade weg vom Klein-Klein? Vielleicht gibt es jetzt ja eine neue Chance. Frankreichs Präsident Macron hat die Gründung europäischer Universitäten vorgeschlagen. Ist das die Gelegenheit, dem europäischen Hochschulraum endlich neue Dynamik zu verleihen?
Tatsächlich ist der europäische Hochschulraum regional sehr unterschiedlich entwickelt. Vor allem sind es die Hochschulen im Norden und Westen Europas, die eng miteinander kooperieren. Hinzu kommt ein starkes Gefälle bei der Mobilität. Die Studierenden und Forscher wandern relativ einseitig von Süden nach Norden und von Osten nach Westen. Auch darüber haben wir in Paris diskutiert: Wie schaffen wir einen größeren Ausgleich? Womöglich kann die Idee europäischer Universitäten sie bringen.
Würde das Potenzial des Macron-Vorschlags nicht verspielt, wenn wir daraus noch ein Gießkannenprogramm machen, von dem alle Mitgliedstaaten ein bisschen was abbekommen? Wenn der Bologna-Raum mit seinen 48 Staaten so heterogen ist, braucht es dann nicht in einem zweiten Schritt eine Art Kernbologna mit jenen Staaten und Hochschulen, die zu einem höheren Grad an Integration bereit sind?
Studierendenvertreter haben in Paris davor gewarnt, es dürfe aus der Idee jetzt bloß keine Exzellenzinitative auf europäischer Ebene entstehen. Aber die Gefahr kann ich nicht sehen. Erst recht nicht, wenn, wie von der Europäischen Kommission vorgeschlagen, parallel das Budget von Erasmus+, also der europäischen Studierenden- und Jugendaustauschprogramme, verdoppelt wird. Durch Erasmus+ erreichen wir einen viel stärkeren europäischen Austausch. Unter der Voraussetzung wäre es in der Tat sinnvoll, auch noch neue Strukturen zu entwickeln.
Können Sie konkreter werden?
Die Idee ist ja noch nicht konkret ausgearbeitet. Aber ich sehe in den europäischen Universitäten eine Möglichkeit, dass Hochschulen sich als Ganzes viel enger aneinanderbinden, von der Lehre bis zur Forschung, von den Fachbereichen bis hin zu den Hochschulleitungen. Da sind viel weitergehende Netzwerke denkbar, als wir sie bislang haben. Und das klappt nur, wenn wir die Fördergelder nicht gleichmäßig verteilen. Wir brauchen einen qualitativen Quantensprung und dürfen keine Vielzahl von Mitnahmeeffekten generieren.
Ganz unparteiisch sind Sie an der Stelle freilich nicht. Die sogenannte Universität der Großregion, zu der sechs Universitäten aus vier Ländern werden, bringt sich durch auffälliges Marketing schon in Stellung für mögliche Fördergelder. Man sei für Macrons Idee "geradezu prädestiniert", heißt es. Und zu dem Verbund gehören auch die Universitäten Trier und Kaiserslautern aus Ihrem Bundesland.
Ich habe ja schon gesagt: Berlin ist für uns weit weg, aber Frankreich, Luxemburg oder Belgien ganz nah. Und in der Tat haben wir da eine tragfähige Basis, auf der wir aufbauen können. Aber klar ist auch: Wenn die Ausschreibung kommt, wird sie allen Bewerbern, wo auch immer sie sind, eine echte Anstrengung abfordern. Die Anträge müssen inhaltliche Substanz haben. Sonst bringt das nichts.
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