· 

Algorithmus-Enthusiasmus

Hilft es Studenten, wenn man ihnen bescheinigt, dass sie mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit ihr Studium nicht schaffen?

Abbildung: Pixabay/250029

DIE INGENIEURWISSENSCHAFTLICHEN FAKULTÄTEN galten lange Zeit als Schmuddelkinder in Sachen Studienabbruch: die höchsten Quoten und kein besonders ausgeprägtes Problembewusstsein. Das hat sich zum Glück geändert. Nicht weil acatech und der Hochschulverband TU9 in einer eigenen Studie auf andere – niedrigere – Zahlen als das Deutsche Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) kamen. Über deren statistische Aussagekraft lässt sich nämlich streiten. Sondern weil Ingenieurfakultäten und -fachbereiche überall im Land kreative Initiativen gestartet haben, die Erstsemestern den Studieneinstieg erleichtern und den Studenten insgesamt dabei helfen, bei der Stange zu bleiben.

 

Jetzt treiben Wissenschaftler an einer der TU9-Hochschulen den Stoppt-den-Dropout-Enthusiasmus auf die Spitze. Die FAZ berichtete, dass Berthold Wigger und seine Kollegen vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) einen Algorithmus entwickelt hätten, der Studienabbrüche früh und erstaunlich verlässlich prognostizieren könne. Wigger selbst ist gar kein Ingenieur, sondern Wirtschaftswissenschaftler, aber sein Algorithmus beruht auf den Studienverläufen von Ingenieurstudenten. Anhand biographischer Daten und der im ersten Semester in bestimmten Prüfungen gezeigten Leistungen könne die Künstliche Intelligenz mit einer bis zu 85-prozentigen Wahrscheinlichkeit voraussagen, ob ein Studienanfänger später zum Abbrecher wird. Nach drei Semestern liege die Trefferwahrscheinlichkeit bei 95 Prozent.

 

Ihre Erkenntnisse könnten helfen, um potenzielle Abbrecher, die bislang unter dem Radar blieben, zu identifizieren, anzusprechen und ihnen rechtzeitig spezielle Unterstützung zukommen zu lassen, argumentieren die Wissenschaftler. "Es ist bedauerlich, dass bisher kaum einer bereit ist, dafür Geld in die Hand zu nehmen", zitiert die FAZ Wigger.

 

Man kann es auch andersherum sehen: Welch Glück, dass sich die Algorithmus-Begeisterung bislang an den Hochschulen nicht durchgesetzt hat. Die guten Absichten der Wissenschaftler in allen Ehren – wie aber soll ein Student Mut aus der Nachricht ziehen, dass er statistisch gesehen eigentlich gleich einpacken kann? Und wer garantiert, dass nicht alsbald die Idee anderswo auf die nächste Spitze getrieben wird: indem eine Hochschule bereits vor Studienstart anhand der Noten in einzelnen Schulfächern festlegt, wer welchen Studiengang studieren darf und wer nicht? Nicht per offiziellem Verbot, sondern indem sie den Leuten ins Gesicht sagt: Das wird wohl nichts, und zwar mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit.

 

Mehr Betreuung, mehr Beratung? Unbedingt. Ein statistischer Determinismus jedoch ist das Gegenteil dessen, was (Hochschul-)Bildung ausmachen sollte: die Bejahung des persönlichen Entwicklungspotenzials jenseits aller Wahrscheinlichkeiten. Dann schon lieber etwas höhere Abbrecherquoten. 

 

Dieser Kommentar erschien heute zuerst im ZEITChancen Brief. 

Kommentar schreiben

Kommentare: 7
  • #1

    Marco Winzker (Donnerstag, 21 Juni 2018 11:27)

    Es gibt an den Hochschulen, auch dank des Qualitätspakt Lehre, gute Unterstützungsangebote. Es ist aber nicht einfach, den Studierenden Rückmeldung zu geben, wer diese Unterstützungsangebote braucht und wer nicht. Es gibt da verschiedene Beispiele, wie Vortests, Mindest-ECTS für Veranstaltungen höherer Semester, Kernfächer, die bis zu einem bestimmten Semester abgeschlossen werden sollen/müssen.

    Aber so richtig durchgesetzt hat sich bisher noch nichts, weil natürlich die Studierenden individuell sind und auch die Hochschulen und Studiengänge sich unterscheiden. Einfach mal anekdotisch: Wir hatten Studierende, die extra einen schlechten Vortest geschrieben haben, um mehr Mathe machen zu dürfen.

    Ja, ich gebe zu, Algorithmus hört sich erst mal sehr technokratisch und seelenlos an. Es kommt darauf an, was man daraus macht. Ehrliches Feedback und Hinweise auf Unterstützungsangebote sind nötig, aber keine Demotivation oder Herabsetzung. Dabei ist auch wichtig zu überlegen, welche Daten verwendet werden dürfen und welche nicht.

    Und die genannte nächste Spitze: Die Auswahl von Studierenden anhand von Noten und Auswahlgesprächen gibt es doch schon.

  • #2

    Mannheimer Studi (Donnerstag, 21 Juni 2018 12:24)

    "Und die genannte nächste Spitze: Die Auswahl von Studierenden anhand von Noten und Auswahlgesprächen gibt es doch schon."

    Wollte ich auch anmerken. Das wird über die Auswahlquote der Hochschulen implementiert und betrifft daher ja auch direkt die Mehrheit der Studienplätze (60%), wenn sich ein Studiengang zu einer solchen (Besten?)Auswahl entscheidet.

    Aber eine andere Frage: Wir haben nur begrenzte Mittel für individuelle Förderung und es gibt das Ziel mit diesen Mitteln Abbrecherquoten zu senken. Ist es dann nicht richtig die Mittel gezielt einzusetzen, statt per Gießkanne? Als Sozialwissenschaftler würde ich mir in einer solchen Situation ein RCT wünschen, um gleichzeitig zu ermitteln, ob der genannte Algorithmus und die Förderung überhaupt funktionieren.
    Für mich bleibt nach dem Artikel noch die Frage offen wie der Algorithmus überhaupt funktioniert*. Welchen Input bekommt er? Nur Studienverlauf? Welche anderen Inputs? Wie gut funktioniert das out-of-sample?

    *Im FAZ Artikel wird der Titel des Papers genannt. Für Interessierte Leser lasse ich mal den Link hier. https://www.researchgate.net/profile/Lorenz_Kemper/publication/322919234_Predicting_Student_Dropout_a_Machine_Learning_Approach/links/5a7615c2a6fdccbb3c07aa70/Predicting-Student-Dropout-a-Machine-Learning-Approach.pdf

  • #3

    Jan-Martin Wiarda (Donnerstag, 21 Juni 2018 12:32)

    Lieber Marco Winzker, lieber Mannheimer Studi,

    vielen Dank fürs engagierte Weiterdiskutieren! Nur um das nochmal zu betonen: Ich bin sehr für Studierendenmonitoring, aber wogegen ich mich wende, ist die deterministische Form der Argumentation gegenüber abbruchgefährdeten Studierenden. Und das ist auch der Unterschied zu bereits existierenden Auswahlverfahren: Es geht meines Erachtens in Ordnung, auch auf die Noten in bestimmten Fächern zu gucken. Aber das Ganze darf nicht so weit getrieben werden, den Leuten ihre vermutlich negative Perspektive als Angstmacher-Anreiz vorzuhalten.

    Reicht es zum Beispiel nicht, die abbruchgefährdeten Leute anzuschreiben und zu sagen: Uns ist aufgefallen, dass Sie wenig LPs erzielen oder viele Prüfungen nicht bestehen. Lassen Sie uns daran zusammen arbeiten? Und außerdem kann Big Data natürlich für die Uni insgesamt strategisch unheimlich spannende neue Optionen eröffnen.

    Beste Grüße
    Ihr Jan-Martin Wiarda

    PS: Danke für den Link. Hätte ich auch schon machen können.

  • #4

    Mannheimer Studi (Donnerstag, 21 Juni 2018 18:03)

    Lieber Herr Wiarda,

    Ich denke Sie haben Recht, wenn Sie meinen, dass eine Kommunikation der algorithmischen Vorhersage wie "Brich lieber ab, du schaffst es ja eh nicht" sicher nicht förderlich, sondern eher destruktiv wirken würde (und wie in der FAZ angedeutet einen Feedback-Loop erzeugt).
    Ich habe das Working Paper nicht vollständig gelesen, da das wohl zu viel der Prokrastination wäre. Ich habe den Eindruck, dass sich das Papier vor allem mit einem Proof-of-Concept begnügt und scheint mir weder in Form noch Inhalt eine Handlungsempfehlung für eine bestimmte Art der Ergebniskommunikation zu sein. Solche Handlungsempfehlungen sollten sicher in Zusammenarbeit mit Pädagogen erstellt werden.
    Wie oben angedeutet würde ich die Generalisierbarkeit des Proof-of-Concept in Zweifel ziehen, vor allem out of sample. Wenn die Klausur zu "Operations Research" zwar für angehende Wirtschaftsingenieure der Feuertest ist, für Politologen aber womöglich gar keine derartige Klausur auf dem Stundenplan steht, sieht die Vorhersage schon gleich ganz anders aus. (Ohne den Politologen jetzt ein leichtes Studium unterstellen zu wollen.)
    So, jetzt aber zurück an die Masterarbeit!

    Grüße!

  • #5

    Marco Winzker (Freitag, 22 Juni 2018 08:36)

    Ja, da sind wir uns einig. Auf die "Ergebniskommunikation" des Algorithmus kommt es an.

    Aber ich kann den Gedanken schon verstehen, dass der Algorithmus etwas mehr als nur einen netten Brief schreiben sollte. Zum einen, um Studierende zu unterstützen. Zum anderen kommt ja auch die Frage, etwas gegen Abbruchquoten zu tun.

  • #6

    Johannes Moes (Samstag, 23 Juni 2018 11:25)

    Liebe alle,
    prima, dass die Diskussion den interessanten Hinweis besser einbettet - und vielleicht auch deutlich macht, dass der journalistische Spin dabei irgendwie falschdreht. Unis haben seit zwanzig Jahren Studierendendaten digital vorliegen und sind meistens bis heute nicht in der Lage oder willens, diese Daten zu einer Studienverlaufsanalyse zu nutzen, die ein gezieltes Eingehen auf Probleme erlaubt - sei es die Veränderung des Curriculums oder gezielte Unterstützung von Studierenden auf Basis aktueller Verlaufsdaten. Ich war 2016 ein Jahr lang in einem solchen Projekt angestellt und war schockiert, wie sehr wir hier Neuland betreten haben. Das Hochschulen gesellschaftlich so angesehen sind und so viel Geld bekommen, aber keine Wirksamkeitsanalysen machen, was für jedes Unternehmen selbstverständlich wäre, finde ich richtig enttäuschend. Und bevor man nicht praktische Versuche wie die Gezeigten hat, kann man nicht über gute Praxen diskutieren. Und dem gegenüber war von JMW textlich eingesetzte Knüppel zu dick, und die aufgerufenen (üblichen) Fantasien zu negativ (und deswegen habe ich gleich nach einer Kommentierungsmöglichkeit gesucht). Ich wünsche mir viel mehr Diskussion, die unbedingt auch kritisch sein soll, aber trotzdem wohlwollender - das geht doch zusammen. Herzliche Grüße, JM

  • #7

    Jan-Martin Wiarda (Sonntag, 24 Juni 2018 12:46)

    Lieber Johannes Moes, liebe alle,

    vielen Dank nochmal für die Kommentierung! Ich kann Dir/Euch im Grunde "wohlwollend" zustimmen, setze lediglich den Akzent etwas anders. Und um diesen Akzent ging es mir.

    Zustimmung: Das datengestützte Studierendenmonitoring ist an deutschen Hochschulen viel zu wenig ausprägt und ist eine hervorragende Gelegenheit, die Betreuung und Beratung zielgenau zu verbessern. Hier gibt es ja auch schon gute Modelle, wie unter anderem mehrere HRKnexus-Tagungen gezeigt haben.

    Anderer Akzent: Wieso muss man von der Beobachtung des unterdurchschnittlichen Studienerfolgs, der eine Kontaktaufnahme mit Studierenden nahelegt, gleich auf irgendwelche Abbruchwahrscheinlichkeiten in Prozent schließen? Es geht doch nicht darum, wie wahrscheinlich jemand abbricht, sondern dass offenbar die Notwendigkeit besteht zu handeln, damit jemand NICHT abbricht. Es ging und geht mir um die Perspektive, und es geht mir darum, dass es man mit dem Instrument nicht übertreibt.

    Ich finde diese Warnung schon deshalb wichtig, weil es an den Hochschulen eine verbreitete Skepsis gegenüber datengestütztem Monitoring insgesamt gibt und man diesem nicht durch allzu großen Enthusiasmus auf der anderen Seite bestärken sollte.

    Genau das sollte mein bewusst zugespitzter Gedanke in Bezug auf die Studierendenauswahl illustrieren: Es geht in Ordnung, auf bestimmte Schulnoten zu schauen und Interessen anhand dieser Noten zu beraten, aber eben nicht mit (dann auch noch kommunizierten) Fallbeil-Argumenten von durch Algorithmen berechneten Abbruchwahrscheinlichkeiten.

    So, ich hoffe, ich konnte nochmal deutlich machen, worum es mir geht. Und vielen Dank nochmal für diese spannende Diskussion!

    Viele Grüße
    Jan-Martin Wiarda