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Algorithmus-Enthusiasmus?

Das war eine interessante Erfahrung für mich: Normalerweise bin ich in Debatten meist derjenige, der für den Einsatz von Statistik, empirischer Sozialforschung und datengestützter Verfahren auch in der Bildung plädiert. Doch vergangene Woche schrieb ich in einem Kommentar im ZEITChancen Brief und hier im Blog, an welcher Stelle mir der Algorithmus-Enthusiasmus zu weit geht. Und erntete eine Menge Widerspruch. Was mich zu einer zweifachen Reaktion veranlasste. Erstens zu dem 

Ausruf: "Ich finde Studierenden-Monitoring doch auch gut! Aber..." (siehe dazu meine Replik auf Kommentare unter meinem Artikel). Und zweitens habe ich mich einfach gefreut: über all die Leute, die sich an den Hochschulen dafür engagieren, dass die Abbrecherquoten zurückgehen. Die dafür nach den geeigneten Instrumenten suchen. Und die bereit sind, diese auch öffentlich zu verteidigen. Stellvertretend für andere Zuschriften veröffentliche ich deshalb heute einen Gastbeitrag aus Aachen.



Den Studierenden mit Fakten ins Gewissen reden

Warum der Einsatz von Algorithmen sehr wohl hilfreiche Werkzeuge sein können, um die Studienabbrecherquote zu verringern. Eine Gegenrede von Aloys Krieg und Heribert Nacken.

Abbildung: Pixabay/250029
Abbildung: Pixabay/250029

IN SEINEM BEITRAG "Algorithmus-Enthusiasmus" hat Jan-Martin Wiarda vergangene Woche zugespitzte Schlussfolgerungen gezogen, bei denen wir nicht mitgehen können. Er schrieb: "Mehr Betreuung, mehr Beratung? Unbedingt. Ein statistischer Determinismus jeoch ist das Gegenteil dessen, was (Hochschul-) Bildung ausmachen sollte: die Bejahung des persönlichen Entwicklungspotenzials jenseits aller Wahrscheinlichkeiten." Und dann folgte ein Satz, über den wir besonders gestolpert sind: "Dann schon lieber etwas höhere Abbrecherquoten."

 

Lassen Sie uns kurz beschreiben, wie wir demgegenüber an der RWTH Aachen verfahren. Unser Ziel ist es, jegliche Information zu nutzen, um gefährdete Studierenden frühzeitig zu identifizieren und in der Folge aktiv gegenzusteuern. Dazu laden wir  die Studierenden zu einem verpflichtenden Gespräch ein, um den Studienverlauf zu reflektieren und zu besprechen. Idealerweise ergibt sich daraus ein klares, zielführendes Handlungskonzept für den Studierenden, das unter anderem auch von einem veränderten Studiertempo ausgehen kann. 

 

Wenn wir nun durch einen datengetriebenen Algorithmus darin unterstützt werden, diese Risikogruppe zu identifizieren, sehen wir das grundsätzlich als eine gute Option an. Sicher wird niemand bei uns so verrückt sein, den Studierenden unmittelbar mit der Aussage zu konfrontieren, dass ein Algorithmus mit X Prozent Wahrscheinlichkeit ein Scheitern voraussagt, aber man muss den Studierenden schon mit ernsthaften Fakten ins Gewissen reden dürfen. Fakt ist nämlich auch, dass ein Großteil der betroffenen Studierenden darauf hofft, dass sich die Probleme durch reines Ignorieren lösen werden.

 

Insofern sind wir davon überzeugt, dass derartige datengetriebene Unterstützungswerkzeuge (im Sinne von Learning Analytics) in der Zukunft sehr hilfreiche Werkzeuge sein können, um den Erfolg der Studierenden zu erhöhen und die Abbrecherquote signifikant zu reduzieren. Das Ziel ist für uns klar. Über den Weg dahin können wir freilich konstruktiv streiten. 

 

Aloys Krieg ist Prorektor für Lehre der RWTH Aachen. Heribert Nacken ist RWTH-Rektoratsbeauftragter für Blended Learning. 

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Kommentare: 7
  • #1

    Jörg Härterich (Mittwoch, 27 Juni 2018 08:56)

    Sehr geehrter Herr Krieg, sehr geehrter Herr Nacken,

    ein wesentlicher Punkt scheint mir zu sein, dass es sich um ein "verpflichtendes Gespräch" handelt. Anekdotischen Berichten von Kolleginnen und Kollegen entnehme ich, dass bei freiwilligen Beratungsgesprächen nur ein Bruchteil der kontaktierten Studierenden überhaupt erscheint.
    Es wäre also interessant zu erfahren, welche Konsequenzen ein Fernbleiben der Studierenden bei Ihrem Modell hat.

    Was mir daran Sorgen macht, ist das Problem vieler algorithmischer, auf maschinellem Lernen basierender Methoden, dass sich am Ende nämlich nicht wirklich überzeugend darstellen lässt, welche Kriterien zu einer schlechten Prognose führen. Wenn womöglich die Exmatrikulation droht, weil ein statistisches Optimierungsverfahren ergeben hat, dass manche Kombinationen aus biographischen Daten, Studienaktivitäten und Klausurnoten als hohes Risiko gelten, andere nur unwesentlich verschiedene aber nicht, hinterlässt das zumindest bei mir ein ungutes Gefühl. Bei einer Klausur ist die Grenze zwar auch scharf, aber die Kriterien sind von vornherein klar.

    Persönlich würde ich wohl eher versuchen, Learning Analytics zu nutzen, um Studierenden fortlaufend Feedback zu geben und sie frühzeitig auf Möglichkeiten hinzuweisen, individuelle (fachliche) Schwachstellen anzugehen. Gerade hier hat sich ja an den meisten Hochschulen in den letzten Jahren eine Menge getan und sehr wahrscheinlich wäre schon viel gewonnen, wenn die Unterstützungsangebote optimal genutzt würden.

  • #2

    tmg (Mittwoch, 27 Juni 2018 15:08)

    Lieber Herr Härterich,

    Sie schreiben in Ihrem Kommentar:

    ''Wenn womöglich die Exmatrikulation droht, weil ein statistisches Optimierungsverfahren ergeben hat, dass manche Kombinationen aus biographischen Daten, Studienaktivitäten und Klausurnoten als hohes Risiko gelten, andere nur unwesentlich verschiedene aber nicht, hinterlässt das zumindest bei mir ein ungutes Gefühl. ''

    Hier scheint mir ein Missverständnis vorzuliegen. Von Exmatrikulation als mögliche Folge der diskutierten algorithmischen Risikoeinschätzung ist doch in dem Beitrag von Herrn Krieg und Herrn Nacken nirgends die Rede. Es geht lediglich darum, die berechneten Riskowerte als Auslöser für eine Einladung zu einem (verpflichtenden) Gespräch zu nutzen. Das halte ich für eine äußerst interessante Idee, die unbedingt einen Testlauf verdient.

  • #3

    Student (Mittwoch, 27 Juni 2018 16:10)

    Am Konzept eines "datengetriebenen Algorithmus" gibt es mindestens vier grundsätzliche problematische Eigenschaften.

    1) Menschen fühlen sich unwohl wenn sie von einem unbekannten Algorithmus auf eine "Informationseinheit" reduziert zu werden. Dies ist ein soziologisches Problem und lässt sich mit den besten Algorithmen (vermutlich) nicht lösen. Die Schufa Holding ist das bekannteste Beispiel für dieses Phänomen. Letztendlich macht die Hochschule in diesem Falle nichts anderes: möglichst viele Daten zu sammeln um eine positive oder negative Prognose abzugeben.

    2) Ein Algorithmus bzw. eine Prognose anhand vergangenen Daten festigt ein vorhandenes Werte- und Entscheidungsmodell. Es könnte sein, dass eine Person mit einem Abiturschnitt von 3,5 an der RWTH Aachen eine denkbar schlechte Prognose für ein erfolgreiches Studium hat. Es könnte aber auch daran liegen dass die RWTH Aachen sich auf Exzellenz konzentriert und keine Angebote für Studierende hat die sich nicht alles selbst erarbeiten können (Theorien, keine Behauptung). D.h. im schlechtesten Falle manifestieren sich die vorhandenen systemischen Bedingungen, wobei eine Änderung dieser Bedingungen auch eine Antwort sein könnte. Dies ist eine Frage des Change-Management und der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Sie lässt sich mit Algorithmen nicht lösen, aber vielleicht können Daten unterstützen. Zumindest muss politisch die Frage gestellt werden ob wirklich die Schuld bei den Studierenden zu suchen ist wenn sie sich einem System nicht anpassen. Diejenigen zu filtern die unerwünscht sind erscheint mir eine zu einfache Lösung.

    3) Aus Korrelation folgt keine Kausalität. Anhand vorhandener Daten ergeben sich nur Korrelationen, z.B. dass die Abiturnote mit dem Studienerfolg korrelieren würde. Daraus lässt sich nicht folgern dass eine Person mit schlechter Abiturnote schlecht studiert. Dies ist ein methodisches Problem und es irritiert mich aus wissenschaftlicher Sicht dass dies in Diskussionen so wenig berücksichtigt wird. Der richtige Schluss aus der Korrelation zur Abiturnote wäre daran zu arbeiten dass die Abiturnote besser wird.

    4) Wirkungsanalyse. An einer wissenschaftlichen Arbeit zur Wirkungsanalyse wäre ich sehr interessiert. Anekdotisch würde ich sagen hilft so etwas nicht, zumindest bezweifle ich dass sich dadurch eine signifikante Änderung ergibt. Die Studierenden zu konfrontieren dass es schlecht aussieht führt nicht dazu, dass sie am nächsten Tag andere Menschen sind. Den Studierenden die Information grundsätzlich zu geben ist sinnvoll zur Vermeidung eines unwissentlichen Problems. Aber die Konfrontation im Zwang ohne Bereitschaft der Gegenseite erscheint historisch keine Lösung zu sein. Dies ist ein soziologisches/psychologisches Problem welches durch Algorithmen nicht gelöst werden kann.

    Unter Berücksichtigung dieser Punkte könnte der Eindruck entstehen solche Algorithmen dienen im Ende mehr dazu den Hochschulen Erklärungsmöglichkeiten gegenüber der Gesellschaft zu geben dass Studienabbrecher vorherbestimmt sind statt sich nachhaltig mit den Ursachen auseinander zu setzen (die ganz sicher nicht alle durch die Hochschule beeinflusst werden können).
    Auf der anderen Seite lässt sich natürlich sagen besser wie nichts. Ob das genug ist weiß ich nicht.

  • #4

    Jörg Härterich (Donnerstag, 28 Juni 2018 08:11)

    Sehr geehrter tmg,

    ich hatte nur darauf hingewiesen, dass "nicht verpflichtende" Gespräche erfahrungsgemäß nur wenig angenommen werden und hätte gerne erfahren, was im konkreten Fall "verpflichtend" bedeutet. Ein "verpflichtendes Gespräch", das man ohne Konsequenzen schwänzen kann, ist in meinen Augen kein verpflichtendes Gespräch.

  • #5

    Theo (Donnerstag, 28 Juni 2018 23:07)

    Seltsam, dass an der RWTH Aachen niemand etwas von "verpflichtenden Gesprächen" weiß.
    Und ansonsten: Sie lernen es nicht.

  • #6

    Jörg Härterich (Freitag, 29 Juni 2018 07:39)

    Sehr geehrter Theo,
    im obigen Artikel von Prof. Krieg (Prorektor für Lehre der RWTH Aachen) und Prof.Nacken (RWTH-Rektoratsbeauftragter für Blended Learning) steht wörtlich "Dazu laden wir die Studierenden zu einem verpflichtenden Gespräch ein,[...].", zumindest zwei nicht unwesentliche Mitglieder der RWTH scheinen also etwas davon zu wissen.
    Über die Modalitäten dieser Gespräche wollte ich gerne Näheres erfahren, weil dies m.E. ein ganz entscheidender Punkt bei dem beschriebenen Ansatz ist.

  • #7

    Theo (Freitag, 29 Juni 2018 21:28)

    Sehr geehrter Herr Härterich,
    ich denke es spricht für sich, dass zwar seit Mittwoch die Frage nach dem Verpflichtungsgrad im Raum steht, diese Frage aber bisher unbeantwortet geblieben ist.