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Nach "Aus" kommt "Weiter"

Wir Deutschen rühmen uns für unser System beruflicher Bildung. Wenn wir es retten wollen, müssen wir endlich ernst machen mit dem Schlagwort vom "lebenslangen Lernen".

Foto: Pxhere, CC0
Foto: Pxhere, CC0

WIE ES MIT der beruflichen Bildung weitergeht, gilt als bildungspolitische Kernfrage angesichts von Digitalisierung und einer sich wandelnden Gesellschafts- und Wirtschaftsstruktur. Die Unternehmen klagen schon jetzt über einen ausgeprägten Nachwuchsmangel. Der dualen Ausbildung einen höheren Stellenwert einzuräumen, liege ihr "besonders am Herzen", sagt Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Doch sind ihre praktischen Möglichkeiten an der Stelle begrenzt. Mehr Azubis erhalten die Betriebe nicht durch wohlwollende politische Rhetorik, sondern indem sie potenziellen Bewerbern bessere Arbeitsbedingungen bieten, mehr Gehalt und – ja, auch das – indem sie aufhören, in vielen Branchen fast ausschließlich auf Abiturienten zu schielen.

 

Dass sie die berufliche Bildung zu einem ihrer Leitthemen gekürt hat, kann sich für Karliczek dennoch als politischer Glücksfall erweisen – wenn sie in der Angelegenheit ganzheitlich denkt. Vor einigen Tagen hat der Ökonom Thomas Straubhaar in der WELT eine bemerkenswerte Rechnung aufgestellt: Gut 90 Prozent aller Bildungsausgaben würden in die ersten 25 Lebensjahre gesteckt, bleiben weniger als zehn Prozent für die übrigen sechs Jahrzehnte Lebenserwartung, und das schon inklusive der betrieblichen Weiterbildung. Das ist die Realität in Sachen "lebenslanges Lernen". Dabei gilt bei einer Ausbildung viel stärker als bei einem Studium: Das heute erworbene Anwendungswissen ist angesichts des rasanten technologischen Fortschritts in wenigen Jahren nur noch die Hälfte wert. Nach "Aus" muss also "Weiter" kommen.

 

Wenn Anja Karliczek will, dass die berufliche Bildung in ihrer dualen, nicht-akademischen Prägung eine Zukunft hat, ja sogar gegen Studienangebote aller Art konkurrieren kann, sollte sie deshalb vorrangig über die Weiterbildung reden. Ihr SPD-Kollege im Arbeitsministerium, Hubertus Heil, hat aktionistisch eine "Qualifizierungsoffensive" vor allem für Beschäftigte kleiner und mittlerer Betriebe angekündigt, finanziert aus Überschüssen der Arbeitslosenversicherung. Doch es geht um Grundsätzlicheres: um notwendige Qualitätsstandards der Weiterbildungsangebote vor allem, um die passgenaue Beratung für Menschen jeden Alters und in jeder Lebenslage unabhängig von ihrem konkreten Job. Und – nicht weniger zentral – um ein inhaltlich stimmiges Zusammenspiel von Schulen, Volkshochschulen, Hochschulen und privaten Anbietern. Zweifellos das richtige Betätigungsfeld für diese Bundesbildungsministerin. Der schwarz-rote Koalitionsvertrag verspricht bereits eine "Nationale Weiterbildungsstrategie", doch selbst die, warnen einige, werde nicht reichen. Die Gewerkschaften fordern ein Bundesgesetz.

 

Die Welt beneide Deutschland um sein duales Ausbildungssystem, lautet eine häufig intonierte Selbstgewissheit. Ob sie stimmt oder angesichts der Systemkrise überhaupt noch gerechtfertigt ist, sei dahingestellt. Fest steht: Über Deutschlands Weiterbildungsangebote sagt so einen Satz bislang niemand. Zeit, dass sich das ändert.

 

Dieser Artikel erschien heute zuerst in meiner Kolumne "Wiarda will's wissen" im Tagesspiegel.

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Kommentare: 2
  • #1

    tmg (Montag, 30 Juli 2018 15:55)

    Lieber Herr Wiarda,

    Sie schreiben

    ''Mehr Azubis erhalten die Betriebe nicht durch wohlwollende politische Rhetorik, sondern indem sie potenziellen Bewerbern bessere Arbeitsbedingungen bieten, mehr Gehalt und – ja, auch das – indem sie aufhören, in vielen Branchen fast ausschließlich auf Abiturienten zu schielen.''

    Das ist eine bemerkenswerte verzerrte Darstellung der Ursachen des Nachwuchsproblems für Betriebe. Letztere
    MÜSSEN auf 'Abiturienten schielen', weil diejenigen, die früher (sinnvollerweise) einen Lehrberuf ergriffen haben, inzwischen Abitur machen.

  • #2

    Jan-Martin Wiarda (Montag, 30 Juli 2018 22:04)

    Liebe/r tmg,
    ich kann die Verzerrung nicht erkennen. Am Donnerstag veröffentliche ich zu dem Thema noch einen Artikel, der meine Sichtweise auf die Thematik Abiturienten-/"Akademikerwahn" recht gut wiedergibt. Ich bin gespannt auf Ihre Rückmeldung daraufhin!
    Beste Grüße für heute
    Ihr Jan-Martin Wiarda