Erstaunlicher Erfolg: Innerhalb einer knappen Woche unterstützen über 32.000 Menschen eine Petition für eine entschiedenere Leseförderung.
DEN KULTUSMINISTERN KANN diese Petition nicht gefallen. Der Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) dafür umso mehr. Seit vergangener Woche ist die "Hamburger Erklärung" bei Change.org online, gestartet hat sie die Hamburger Kinderbuchautorin Kirsten Boie. Auch die anderen 24 mehr oder weniger prominenten Erstunterzeichner sind in der Hansestadt zu Hause, darunter der Dirigent Kent Nagano, der Fernsehmoderator Ulrich Wickert, der Kinderliedermacher Rolf Zuckowski und der frühere Erste Bürgermeister Klaus von Dohnanyi. Ihre Erklärung trägt den Titelzusatz "Jedes Kind muss lesen lernen!", und um dieses Ziel zu erreichen, fordern Boie und ihre Mitstreiter eine gesamtstaatliche Anstrengung bei der Leseförderung. Unverbindliche Absichtserklärungen, schreiben sie, reichten nicht mehr aus, die Politik müsse endlich handeln. Die Petition stößt auf eine erstaunliche Resonanz, innerhalb von sechs Tagen ist die Zahl der Unterstützer auf mehr als 32.000 hochgeschnellt.
"Seit dem vergangenen Dezember", steht da, "wissen wir: Knapp ein Fünftel der Zehnjährigen kann nicht so lesen, dass der Text auch verstanden wird." Ehrlich gesagt wussten wir das schon vor Dezember 2017, als die jüngste Ausgabe der internationalen Grundschul-Vergleichsstudie IGLU – mit für Deutschland enttäuschenden Ergebnissen – erschien. Denn wenn die Nachricht neu wäre, könnte man der Politik nicht, wie Unterzeichner es tun, ein Verschleppen der Problematik vorwerfen. Tatsächlich stagnieren die Lesekompetenzen seit längerem, während die Grundschüler in vielen anderen entwickelten Ländern sich deutlich steigern konnten. Weshalb Deutschland im direkten Vergleich von einer vorderen Position immer weiter nach hinten durchgereicht wird und, wie die "Hamburger Erklärung" kritisiert, mittlerweile unter EU- und OECD-Schnitt liegt.
Fatale Wirkungslogik
Bis auf ihren dramaturgisch geschickten, aber eben nicht ganz zutreffenden Kunstgriff mit dem vergangenen Dezember ist die Problembeschreibung der 25 jedoch auch fachlich nicht von der Hand zu weisen. Bildung (oder in diesem Fall spezieller: Lesekompetenz) und soziale Herkunft sind in Deutschland eng miteinander verknüpft, und geringe Lesekompetenz führt wiederum zu einer verminderten gesellschaftlichen Teilhabe und ausbleibenden beruflichen Perspektiven. Arm bleibt bildungsfern bleibt abgehängt bleibt arm: Plastischer als anderswo lässt sich diese fatale Wirkungslogik beim Lesenlernen beobachten. Und unser Bildungssystem versagt weiterhin dabei, sie zu durchbrechen. "Der Verweis auf gewachsene Probleme in der Schülerschaft reicht nicht aus", mahnen die Erstunterzeichner zu Recht. "Auf die Analyse muss die Lösung folgen, und diese Lösung darf nicht länger an Elternhäuser und Ehrenamtliche delegiert werden. Nur die Schule erreicht wirklich alle Kinder."
Warum Karliczek die Petition im Gegensatz zu ihren Kollegen aus den Ländern gefallen dürfte? Weil die Form, in der die Unterzeichner ihre öffentlichkeitswirksamen Forderungen präsentieren, ein (ihnen selbst womöglich gar nicht bewusstes) Plädoyer für den geplanten Nationalen Bildungsrat ist. Das fängt schon damit an, dass die 25 ihre offizielle Online-Petition erstaunlicherweise nicht etwa an die Kultusministerkonferenz oder deren derzeitigen Präsidenten Helmut Holter (Linke) adressiert haben, sondern an Karliczeks Ministerium. Zwar wird das auch nach der geplanten Grundgesetzreform nicht wirklich für die Schulen zuständig sein, doch das Signal der Hamburger ist klar: Die Länder haben es allein nicht geschafft, ihre Bildungsprioritäten in Ordnung zu bringen, jetzt muss der Bund ihnen dabei helfen.
Genau diese Erwartungen – genauer: diese Hoffnungen – verbinden viele auch mit dem Bildungsrat. Er wird sie höchstens teilweise erfüllen können, weil er den Bildungsföderalismus und dessen Zuständigkeiten nicht auf den Kopf stellen wird und es auch gar nicht soll. Aber, und das ist das eigentlich Wirkungsvolle an der "Hamburger Erklärung", die den Bildungsrat explizit nicht einmal erwähnt: Mit Karliczek als Adressatin erhöht schon die öffentliche Forderung nach mehr Entschiedenheit in der Bildungspolitik den Druck auf die Länder, bei dem neuen Gremium nicht zu mauern, nicht von vornherein seine Marginalisierung zu betreiben, sondern sich auf eine wirklich neue Qualität der Bund-Länder-Zusammenarbeit (nicht zu vergessen die Kommunen!) einzulassen.
Vorschläge für mehr Transparenz, Qualität und Vergleichbarkeit im Bildungswesen soll der Bildungsrat vorlegen und auf diese Weise dazu beitragen, sich über "die zukünftigen Ziele und Entwicklungen" zu verständigen, so hat es GroKo-Koalitionsvertrag beschrieben. Und genau um diese zukünftigen Ziele und Entwicklung – und um deren koordinierte Bearbeitung – geht es auch in der "Hamburger Erklärung": Es sei umso wichtiger, dass "JETZT" (Schreibweise: sic) in die Bildungspolitik investiert werde, steht da. Die 16 Ländern, die Deutschland seit 2001 im Ranking überholt hätten, bewiesen, "dass und wie es möglich ist, die Lesefähigkeit aller Kinder zu steigern."
Schließlich listet die Erklärung eine Reihe von "Punkten" auf, für die die Politik in allen Bundesländern, Bundesbildungsministerin Karliczek und – hier werden sie dann doch genannt, aber eben in dieser Reihenfolge – Kultusministerkonferenz und die Bildungsminister aller Länder "Sorge zu tragen" hätten. Dauerbrenner wie frühzeitige Fördermaßnahmen in Kleingruppen sind genauso dabei wie die Einrichtung von deutlich mehr Studienplätzen für die Lehrerausbildung, mehr Schulbibliotheken und mehr Lesungen.
Die Umsetzung würde richtig Geld kosten
Keine wirklich neuen, dafür aber viele Maßnahmen, die richtig Geld kosten, und wohl weil das so ist, unterläuft den wackeren Unterzeichnern gegen Ende ihrer Erklärung ein Schlenker, der missverständlich wirkt. "Das Lesen darf nicht den derzeitigen (kosten)intensiven Bemühungen um die Digitalisierung der Schulen zum Opfer fallen." Wollen die 25 wirklich einen Zielkonflikt zwischen Leseförderung und Digitalisierung aufmachen?
Vermutlich nicht. Vermutlich schreiben sie den Satz nur, weil der geplante fünf Milliarden Euro schwere "Digitalpakt" die auf absehbare größte Bundesinvestition in die Schulen darstellen dürfte. Nach dem Motto: Wenn die Politik für die Digitalisierung klotzen kann, muss sie es auch woanders tun. Doch die Formulierung bleibt unglücklich, da sie unnötig in eine ideologische Debatte hineinführt, die zurzeit erbittert und dabei recht ergebnislos geführt wird.
In der Gesamtschau ist es dennoch eine bemerkenswerte Petition mit einer bemerkenswert engagierten Initiatorin und einer Gruppe mächtiger Erstunterzeichner, die das Thema "Leseförderung" pünktlich zum Start des neuen Schuljahres öffentlichkeitswirksam in Szene setzen – und die Erwartungen an eine entschiedenere und effektivere Bildungspolitik gleich mit. Am Weltkindertag am 20. September wollen sie die gesammelten Unterschriften an Karliczek übergeben und auch der Kultusministerkonferenz.
Den Verfechtern des Bildungsrates dürfte die unverhoffte Unterstützung wie ein Geschenk des Himmels erscheinen. Denn obgleich die "Hamburger Erklärung" und die Welle ihrer Unterstützer das Aufregerpotenzial exakt derjenigen Misstände zeigen, bei deren Bearbeitung der Bildungsrat helfen soll: Die Forderung nach dem Gremium an sich ist bislang in Expertenkreisen steckengeblieben. Nichts zeigt das deutlicher als ein erneuter Blick auf die Plattform Change.org: Die ebenfalls dort (und zwar schon vor dem GroKo-Koalitionsvertrag initiierte) Petition "Bildungsrat für Bildungsgerechtigkeit" läuft seit acht Monaten, unterschrieben haben gerade mal gut 6000 Leute. Dafür brauchte die "Hamburger Erklärung" 12 Stunden.
Die Geschichte hinter der Petition und mehr zu den Motiven der Initiatorin Kirsten Boie können Sie in der FAZ vom vergangenen Donnerstag nachlesen.
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tmg (Montag, 20 August 2018 09:25)
Doch, Herr Wiarda, man muss schon Vogel Strauss spielen, um nicht zu erkennen, dass diese Petition auch eine klare Ansage gegen den Digitalisierungswahn an Schulen beinhaltet. Lesen und Schreiben können sind ein sine qua non für eine gesellschaftliche Teilhabe - das Wischen auf einem tablet nicht. Unter anderem brauchen wir auch Journalisten, die erkennen, dass eine Formulierung wie '' ... nicht ganz zutreffenden Kunstgriff ... " sprachlich sinnlos ist.