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Willkommen im neuen Schuljahr – trotz allem!

In dieser ersten Schulwoche erfahren Eltern und Schüler, wie sich der Personalmangel an der eigenen Schule auswirkt. Vor allem die prekäre Situation an den Grundschulen ist Anlass, grundlegende Veränderungen zu fordern. Eine Berliner Perspektive von Daniela von Treuenfels.

Foto: Screenshot der Berliner GEW-Website.
Foto: Screenshot der Berliner GEW-Website.

DIE GUTE NACHRICHT zuerst: Die Bildungsverwaltung hat es geschafft, alle freien Stellen, 2400 an der Zahl, zum neuen Schuljahr zu besetzen. Das ist ein Erfolg; angesichts eines bundesweiten Lehrermangels gelingt das derzeit nicht in allen Bundesländern. 2700 Personen wurden in Berlin eingestellt. Zwei Drittel von ihnen, und das ist die Kehrseite der Medaille, haben kein Lehramtsstudium absolviert. "Unter den eingestellten Lehrkräften befinden sich 738 Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger sowie 915 sogenannte Lehrkräfte ohne volle Lehrbefähigung (LovL), einschließlich rund 100 Masterstudierende Lehramt", gibt Senatorin Sandra Scheeres (SPD) bekannt. 

 

Das ist, vorsichtig ausgedrückt, erst mal schwer zu verdauen. Aber bevor jetzt die Ersten böse Briefe schreiben, eine Demo organisieren oder sich in den sozialen Netzwerken austoben: Heißen Sie die Neuen willkommen. Gehen Sie davon aus, dass alle Quereinsteiger sich auf ihren neuen Beruf freuen, dass sie sich freuen, mit den Kindern zu arbeiten und die Absicht haben, sie so gut es geht beim Lernen zu begleiten. Viele von ihnen haben schon als Vertretungskräfte gearbeitet oder in Willkommensklassen geflüchtete Kinder unterrichtet. Überlegen Sie sich, ob Sie mit Ihren Kindern darüber sprechen, dass die Klassenlehrerin möglicherweise "keine richtige Lehrerin" ist. Je nach Alter könnte das zu Verunsicherung führen. 

 

Können denn Quereinsteiger überhaupt "richtige Lehrer" werden? Der Kieler Bildungsforscher Olaf Köller meint: Ja. Anhand einer simplen Formel erklärte er einmal vor Fachpublikum, was einen guten Lehrer ausmacht: Zu 40 Prozent Fachwissen, 40 Prozent fachdidaktische Kompetenz, und 20 Prozent Begeisterung. Vor Quereinsteigern, fügte Köller hinzu, müsse sich niemand fürchten. Fachwissen sei vorhanden, denn sie hätten ja studiert. Begeisterung könne man voraussetzen. Und den Rest könne man lernen. Sehr beruhigend.

Ein wohlwollender kritischer Blick in Richtung Seiten- und Quereinsteiger ist also das erste Gebot der Stunde. 

 

Bestehen die Versprechungen den Praxistest?

 

Das zweite besteht darin, die vermeintlichen Lösungen und Versprechungen der Verwaltung auf ihre Alltagstauglichkeit  zu prüfen. In den ersten acht Wochen der Unterrichtstätigkeit "wird den Quereinsteigern eine erfahrene Lehrkraft – das kann ein Ausbilder, ein Pensionär oder ein externer Coach sein – an die Seite gestellt", lautet das Versprechen von Senatorin Scheeres. Wird das überall umgesetzt? Auch an der Schule, an der Sie unterrichten oder die Ihr Kind besucht? Ist die Betreuung gut und ausreichend? Wenn Sie den Eindruck haben, hier wird jemand alleine gelassen, sprechen Sie die Schulleitung an. Über den Bezirkselternausschuss gibt es die Möglichkeit, über die jeweiligen Vertreter sich mit anderen Schulen auszutauschen.

 

Quereinsteigern werden ganzjährig wöchentliche Workshops und zweimal im Jahr Kompaktwochen zu konkreten Unterrichts- und Erziehungsthemen angeboten. Neben ihrer berufsbegleitenden Fort- und Weiterbildung müssen sie 18 Stunden in der Woche unterrichten und nebenbei noch studieren. Die meisten müssen ein weiteres Fach belegen und sich pädagogisches Wissen aneignen. Viele erleben dies als sehr belastend. Hier könnte gefragt werden, ob und wie auf die Gesundheit der angehenden Lehrer geachtet wird. Auch hier gilt: Im Zweifel die Schulleitung ansprechen und gegebenenfalls die Schulaufsicht um Unterstützung bitten.

 

In den Grundschulen ist die Situation besonders prekär. Von den 1240 Neueinstellungen haben nur 180 Lehrkräfte eine klassische Ausbildung. Zieht man von denen noch die 30 Pädagogen ab, die zu DDR-Zeiten lediglich eine Lehrbefähigung für die unteren Klassen erworben haben, wie die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) das tut, kommt man auf 12 Prozent: Nur jede achte neue Grundschullehrkraft hat also die geforderte Ausbildung. Rund 400 von ihnen sind (so Sandra Scheeres in der Berliner Abendschau) "Lehrer ohne volle Lehrbefähigung" (LovL), das heißt sie haben ein Fach studiert, das an Berliner Schulen nicht unterrichtet wird. Besonders betroffen sind die Schulen in sozialen Brennpunkten, sie haben es ohnehin schwer, Personal zu bekommen. Wie das dann im Alltag konkret aussieht, hat das Kollegium der Sonnen-Grundschule in einem Hilfeersuchen an die Bildungsverwaltung dargestellt (das Schreiben der Lehrer im Wortlaut finden Sie hier). 

 

Den Druck auf die Politik aufrechterhalten

 

Zum Thema Quereinsteiger hat sich aktuell auch der Bildungswissenschaftler Jörg Ramseger von der Freien Universität in einem Gastbeitrag im Tagesspiegel geäußert. Darin forderte er, Lehrer ohne vollwertige Ausbildung keinesfalls in den unteren Klassen einzusetzen. Und er ging noch weiter: Deutsch- und Mathelehrer sollten aus ihren Zweitfächern Kunst und Musik abgezogen werden, um den Bedarf an fachgerechtem Unterricht in der Primarstufe sichern zu können. Etwas provokant fügte er hinzu: Wenn die Schule sich auf das Wesentliche konzentriere und alles Unqualifizierte weglasse, könnten die Kinder nach vier Stunden nach Hause gehen. 

 

Ramseger hat, salopp gesagt, den Kanal voll. Und das völlig zu Recht. Darum folgt das dritte Gebot der Stunde: die Politik zum sofortigen Handeln zu bewegen.

 

Seit vielen Jahren schon zeigen unterschiedliche Bildungsstudien die immer gleichen Befunde: Es macht einen Unterschied, ob Schüler von einem fachlich und didaktisch versierten Pädagogen unterrichtet werden oder ob ein Lehrer ohne diese Qualifikationen vor der Klasse steht. Die unterschiedlichen Wissensstände der Schüler lassen sich messen. Das ist laut IQB-Bildungstrend 2016 besonders bei Schülerinnen und Schülern nicht-gymnasialer Schulformen der Fall, bei denen "bedeutsame Kompetenznachteile" im fachfremden Unterricht festgestellt wurden. Für die Grundschule konnte diese Studie diese Unterschiede nicht belegen. Der Bildungsbericht 2014 dagegen spricht von "bedeutsamen" Auswirkungen von fachfremdem Unterricht auch im Primarbereich. Die Forschungslage ist insgesamt nicht eindeutig, was unter anderem mit der unterschiedlichen Ausbildung der Grundschullehrer in den verschiedenen Bundesländern begründet wird. Am deutlichsten sind die Unterschiede in Mathematik, aber auch im Fach Deutsch lässt sich der negative Effekt von fachfremdem Unterricht nachweisen.

 

Fachfremder Unterricht ist an Berliner Grundschulen weit verbreitet, und das in einem geradezu skandalösen Ausmaß. Beispiel Neukölln: Das Fach Deutsch wurde in diesem Bezirk im Schuljahr 2017/2018 zu 33 Prozent fachfremd unterrichtet, Mathematik zu 47 Prozent, und im Kernfach Naturwissenschaften stehen in 53 Prozent der Unterrichtsstunden Lehrer vor der Klasse, die das Fach nicht studiert haben. Zahlen für Friedrichshain-Kreuzberg: Deutsch 25 Prozent, Mathe 42, NaWi 47 Prozent. Mitte: 39 / 50 / 42 Prozent. Reinickendorf: 36 / 51 / 45 Prozent Spandau: 26 / 43 / 38 Prozent.

 

Das hat Folgen. Ein Viertel der Berliner Viertklässler kann laut IGLU-Studie 2016 nicht sinnerfassend lesen. Das bedeutet: die Kinder, die einen Text gelesen haben, können hinterher nicht sagen, was drinsteht. Zwei Drittel (68 Prozent) der Berliner Sekundarschüler bleiben in den Vergleichsarbeiten 2016 in Klasse 8 im Fach Mathematik unter den Mindeststandards (Gymnasien: 12 Prozent), also innerhalb der nach unten offenen Kompetenzstufe 1. 

 

Kompetenzstufe 1, das ist klingt wünschenswert und akzeptabel. Dahinter verbirgt sich jedoch politisches und pädagogisches Versagen, fein verpackt beispielsweise im "Kompetenzstufenmodell für den Mittleren Schulabschluss im Bereich Deutsch Lesen" des Instituts für Schulqualität Berlin-Brandenburg. Dort kann man nachlesen: "Die Schülerinnen und Schüler können in kurzen Texten hervorgehobene, einzelne Informationen auffinden und diese mit einfachem Alltagswissen miteinander verknüpfen. Sie erkennen in einfach aufgebauten Texten das Hauptthema und können Wichtiges von weniger Wichtigem unterscheiden." 37 Prozent aller Sekundarschüler in Berlin zeigen bei den Vergleichsarbeiten in Klasse 8, dass sie über das Grundschulniveau nicht hinausgekommen sind. Man muss von einem Massenphänomen sprechen: Betroffen sind 4040 Schüler eines einzigen Jahrgangs, die voraussichtlich in ihrem weiteren Schul- und Berufsleben erhebliche Schwierigkeiten haben werden.

 

Scheitern mit Ansage

 

Die "Level-One Studie" der Universität Hamburg schätzte 2011 die Zahl der erwachsenen funktionalen Analphabeten auf 7,5 Millionen: "Das heißt, dass eine Person zwar einzelne Sätze lesen oder schreiben kann, nicht jedoch zusammenhängende – auch kürzere – Texte. Betroffene Personen sind aufgrund ihrer begrenzten schriftsprachlichen Kompetenzen nicht in der Lage, am gesellschaftlichen Leben in angemessener Form teilzuhaben. So misslingt etwa auch bei einfachen Beschäftigungen das Lesen schriftlicher Arbeitsanweisungen."

 

Es ist ein Scheitern mit Ansage, nachvollziehbar anhand der Bildungskette. 14 Prozent der erwachsenen Bevölkerung (18 bis 64 Jahre) können nicht richtig lesen und schreiben. Anhand der Vergleichstests, Bildungsstudien und Schulabschlüsse wissen wir: Diese dramatisch hohe Zahl wird nicht abnehmen. Und uns ist die Ursache bewusst: Zu Beginn der Schulzeit geht etwas ganz grandios schief. Was in den ersten Schuljahren versäumt wurde, kann später nur sehr schwer aufgeholt werden. Wer so weitermacht, macht sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig.

 

Das sind die Wahrheiten, die der Politik in aller Deutlichkeit vorgehalten werden müssen. Denn das Empörende ist: Es passiert nichts. Die Erkenntnisse der Wissenschaft zerschellen regelmäßig an den Türen von Verwaltung und Lehrerzimmern. Erstere ist zunehmend damit beschäftigt, den Mangel zu verwalten: die größten personellen Löcher zu stopfen, Ausbildungskapazitäten hochzufahren und nebenbei noch in großem Stil Gammelschulen zu reparieren. Von den Milliardeninvestitionen in neue Schulbauten für Kinder, mit denen irgendwie keiner beizeiten gerechnet hat, ganz zu schweigen. Die Berliner Amtsstuben sind mit diesen Aufgaben derzeit ausgelastet bis überfordert.

Also kommt es auf die Menschen in den Lehrerzimmern an, die vor Ort Kinder unterrichten und betreuen.

 

Woraus das vierte Gebot der Stunde folgt: selbst aktiv werden. Eltern haben die Möglichkeit, an den Schulen ihrer Kinder etwas zu bewegen. Sie sollten ihre Chance nutzen und vehement für ein Verbot von fachfremdem Unterricht in der Schuleingangsphase eintreten – ein Anliegen, mit dem man sich wenig Freunde macht. De facto liefe eine Umsetzung der Forderung nämlich auf eine Abschaffung des Klassenlehrerprinzips hinaus, ein geliebtes Dogma vieler Grundschullehrerinnen. Zur Einmischung in pädagogische Fragen kämen auch noch Ansprüche an organisatorische Veränderungen mit allen Zumutungen, die damit verbunden wären. Schulleitungen müssten Strukturen und Abläufe ändern, möglicherweise gegen den Widerstand des Kollegiums. Eine Schule, die dann immer noch zu wenig Fachlehrer hat, müsste sich an die Senatsverwaltung wenden.

 

Damit läge der Ball wieder bei Sandra Scheeres. Wo er hingehört. 

 

Daniela von Treuenfels ist freie Journalistin in Berlin und Herausgeberin von berlin-familie.de.

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