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Von Verantwortung und Verantwortungslosigkeit

Hoffentlich eine einmalige Entgleisung: Justizministerin Barleys gefährliche Wissenschaftsschelte.

Katarina Barley. Foto: INSM, CC BY-ND 2.0.

AUSGERECHNET KATARINA BARLEY. Die Nachfolgerin von Heiko Maas gilt unter den Mitarbeitern im Bundesjustizministerium als echter Gewinn: an der Sache interessiert, kenntnisreich, nicht in erster Linie auf den Show-Effekt aus. Umso mehr wundert, ja verstört, wie sich die promovierte Juristin vergangene Woche zur Arbeit von Forschern geäußert hat.

 

Anlass für Barleys Entgleisung war ein Gutachten zur Wohnungspolitik, das der Wissenschaftliche Beirat beim Wirtschaftsministerium vorgelegt hatte und in dem die Forscher den weitgehenden Verzicht auf den sozialen Wohnungsbau und die Streichung der Mietpreisbremse empfahlen. Barleys Kommentar: Es sei "unverantwortlich, wenn Wissenschaftler jetzt gegen den sozialen Wohnungsbau argumentieren und das den Markt regeln lassen wollen". Fragt sich: Von welcher Verantwortung sprach Barley eigentlich? Etwa eine den regierenden Parteien gegenüber?  

 

Und dann belehrte die Barley die Wissenschaftler auch noch: "Jeder weiß, dass der Markt von sich aus nur wenige bezahlbare Wohnungen schafft", sagte die Sozialdemokratin der Rheinischen Post. Klar, jeder. Nur diese weltfremden Wissenschaftler, die natürlich nicht.

 

Anfang dieser Woche bekam die Justizministerin Unterstützung von Finanzminister Olaf Scholz (ebenfalls SPD). Was die Wissenschaftler geschrieben hätte, sei "alles Quatsch" und "großer Kokolores", sagte Scholz der FAZ (leider nicht online).

 

Keine Frage: Auch amtierende Bundesminister haben das Recht auf eigene, auch auf zugespitzte Meinungen. Die müssen nicht mit der von Wissenschaftlern übereinstimmen, im Gegenteil: Gerade aus dem inhaltlichen Streit können auf allen Seiten neue Erkenntnisse wachsen. Doch wenn Mitglieder der Bundesregierung die Arbeit von Wissenschaftlern so respektlos herabwürdigen, wenn sie wissenschaftliche Erkenntnis mal schnell mit einem populistischen "Jeder weiß..." zu relativieren versuchen, dann spricht daraus nicht nur eine schwer erträgliche Distanz von Politikern zur Wissenschaft. Dann leisten sie der sonst auch von ihnen rhetorisch verurteilten Wissenschaftsfeindlichkeit Vorschub. Es bleibt zu hoffen, dass zumindest Justizministerin Barley ihre Worte inzwischen leidtun.

 

Noch ein Wort zum Thema Verantwortung. Wissenschaftler erfüllen ihre Verantwortung, wenn sie frei forschen und denken und keine Angst haben, aus beidem unbequeme Schlussfolgerungen zu ziehen. Regierungspolitiker tun ihre Pflicht, wenn sie die Legitimation von Wissenschaftlern schützen und nicht um kurzfristiger politischer Geländegewinne willen in Frage stellen.

 

Dieser Kommentar erschien heute zuerst im ZEITChancen Brief. 


Hinweis: In der ursprünglichen Version hatte ich den Wissenschaftlichen Beirat fälschlicherweise dem Wissenschaftsministerium zugeordnet. Er gehört aber zum Wirtschaftsministerium. Diesen Fehler habe ich korrigiert und bitte um Verständnis.  

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Kommentare: 11
  • #1

    1 Leser (Donnerstag, 30 August 2018 13:20)

    "Wissenschaftler erfüllen ihre Verantwortung, wenn sie frei forschen und denken und keine Angst haben, aus beidem unbequeme Schlussfolgerungen zu ziehen."

    D'accord. Nur mag man sich in diesem Fall durchaus fragen, ob das in dem vorliegenden Gutachten der Fall ist und ob die ewige Wiederholung des immergleichen Ökonomensermons von der Schädlichkeit staatlicher Eingriffe und der Regulierung des Marktes zum Wohle aller angesichts lebensweltlicher Evidenzen, die mittlerweile bis in die Mittelschicht reichen, nicht selbst politische Schlagseite hat. Zumal das Gutachten eben nicht (wie hier im Text fälschlicherweise behauptet) der Wissenschaftliche Beirat des Wissenschafts-, sondern des Wirtschaftsministeriums erstellt hat - das als CDU-geführtes Ressort in der Wohnungspolitik eine andere (und dem Gutachten sicher zugetanere) Position einnimmt als die SPD-Ressorts.

  • #2

    Jan-Martin Wiarda (Donnerstag, 30 August 2018 13:36)

    @1 Leser: Vielen Dank für den Hinweis auf meinen Fehler. Sie haben völlig Recht. Es handelt sich um den Wissenschaftlichen Beirat des Wirtschaftsministeriums (was ich eigentlich auch wusste). Aber wenn man immer so viel über Wissenschaftsministerien schreibt, dann schreibt das Kleinhirn mit. Ich bitte um Entschuldigung. Wobei (bezogen auf Ihren letzten Satz) auch das BMBF CDU-geführt ist. Ich werde den Fehler gleich im Text korrigieren und einen Hinweis anfügen.

    Beste Grüße
    Ihr Jan-Martin Wiarda

  • #3

    Florian Bernstorff (Donnerstag, 30 August 2018 13:37)

    Auch mir erscheint das eine ganz ungehörige Entgleisung zu sein, die sich leider in ein wachsendes Mosaik wissenschaftsfeindlicher Äußerungen von SPD-Politiker*innen einfügt. Da war doch auch das Wahlkampfmobbing vom damaligen Kanzler Schröder gegen Paul Kirchhoff. Und kürzlich verstieg sich sogar der Staatsekretär im Wissenschaftsministerium von Rheinland-Pfalz, Professor (!) Dr. (!) Salvatore Barbaro zu der Aussage im SWR-Interview , man wolle ja gar nicht, dass die Studierenden später promovierten, sonder freue sich, wenn diese in die Wirtschaft gingen.

    Und dies als Rechtfertigung für miserable Drittmitteleinwerbungen der rheinland-pfälzischen Hochschulen.

    Mir macht das Sorgen.

  • #4

    Raphael Wimmer (Donnerstag, 30 August 2018 14:11)

    Auch wenn ich Ihnen grundsätzlich zustimme, scheinen die genannten Politiker in diesem Fall das richtige Bauchgefühl gehabt zu haben: https://www.welt.de/finanzen/immobilien/article181343630/Mietpreisbremse-Oekonomen-machen-bei-Kritik-schweren-Fehler.html

  • #5

    Leser 1 (Donnerstag, 30 August 2018 15:03)

    @Jan-Martin Wiarda: Danke, ich kenne das zu Genüge, wenn das Kleinhirn übernimmt. Deshalb auch nur zur Präzisierung des letzten Satzes: Ja, auch das BMBF ist CDU-geführt, aber in den politischen Entscheidungsprozessen um Mietpreisbremse und sozialen Wohnungsbau selbst nicht Akteur in der Weise wie es das BMWi ist.
    Beste Grüße.

  • #6

    Jan-Martin Wiarda (Donnerstag, 30 August 2018 15:23)

    @Raphael Wimmer:
    Es geht aber eben nicht um Bauchgefühl und auch nicht darum, ob die Studie ggf. wissenschaftlich fehlerhaft war. Es geht um die Art der Auseinandersetzung, und es geht darum, dass keine der im WELT-Artikel genannten Kritikpunkte als sachliche Kritik auch von Ministern Barley angeführt wurden.

  • #7

    Leser #2 (Donnerstag, 30 August 2018 16:12)

    @Herr Wiarda:
    Naja, ich will nicht polemisch sein. Aber Ihr Verständnis von Wissenschaft erscheint mir etwas zu naiv zu sein. Zwar gibt es dieses Idealbild, dass die Wissenschaft der einen objektiven Wahrheit verpflichtet sei. Das mag für die Naturwissenschaften noch einigermaßen gelten (obwohl die Debatte um den Klimawandel dem auch widerspricht). Aber spätestens bei den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften muss man sich von dieser Annahme verabschieden.

    Wir wissen ja alle, dass es in den Wirtschaftswissenschaften verschiedene Denkschulen gibt, die ihre Annahmen hoffentlich empirisch untermauern. Diese Denkschulen sind vor allem in den Wirtschaftswissenschaften natürlich auch politisch bzw. normativ motiviert (marktradikale/-liberale vs. marktkritische bzw. wohlfahrtsstaatliche Ansätze). Und Wissenschaft ist gerade ein Vehikel/Instrument, um politische Ziele durchzusetzen.

    Es ist daher keine Wissenschaftsfeindlichkeit, wenn Barley oder Scholz ein Gutachten anzweifeln. Sie könnten auch X wissenschaftliche Gutachtan anführen, die ihren Standpunkt stärken. Es gilt: "He who pays the piper calls the tune". Man denke nur daran, wie politisch umkämpft die Besetzung (eigentlich neutraler) Expert/-innen-Kommissionen ist.

    Daher: Wer Wissenschaft per se als apolitisch versteht, verschleiert damit womöglich die politischen Ziele von Wissenschaftler/-innen. Denken wir doch nur an die Finanzkrise und das Versagen der orthodoxen Ökonomie mit ihren marktradikalen Modellen bei der Prognose dessen, was dann eingetreten ist.

    Diese Denkschulen (Markt vs. Staat) prallen natürlich auch in der wissenschaftlichen Bewertung der Wohnungspolitik aufeinander. Der Markt wird es schon richten vs. Marktversagen muss durch staatliche Intervention korrigiert werden.

  • #8

    #8 (Donnerstag, 30 August 2018 16:52)

    Lesetipp zur Kulturgeschichte der Wirtschaftswissenschaft: Joseph Vogel: Das Gespenst des Kapitals.

  • #9

    Jan-Martin Wiarda (Donnerstag, 30 August 2018 17:33)

    @ Leser #2
    Das ist meines Erachtens aber genau der Punkt: Es wäre völlig okay gewesen, wenn Barley oder Scholz die von Ihnen genannten X Studien angeführt hätten. Haben sie aber nicht. Sondern die inhaltliche Ebene komplett gemieden.

    Womöglich ist meine Sichtweise, was Wissenschaft angeht, an der Stelle naiv. Aber das nehme ich dann mal als Kompliment.

    Beste Grüße
    Ihr Jan-Martin Wiarda

  • #10

    Mannheimer Studi (Freitag, 31 August 2018 15:26)

    Für interessierte Leser: Die Frage ist von twitternden Ökonomen heftig diskutiert worden und mittlerweile hat sich sogar Barley über ihren Twitter Account dazu geäußert.

  • #11

    Interessierter Leser (Sonntag, 09 September 2018 20:35)

    Sehr geehrter Herr Wiarda,

    ich lese Ihre Artikel stets mit großem Interesse. Ihre Kritik an der Bundesjustizministerin kann ich allerdings nicht nachvollziehen.

    1. Viele Prophezeiungen des Sachverständigenrats aus der Vergangenheit sind nicht eingetreten. Haben Sie beispielsweise erhebliche negative Beschäftigungseffekte beobachtet, mit denen im Jahresgutachten 2013/14 vor der Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns gewarnt wurde? Dass die vorhergesagten Effekte nicht eingetreten sind, liegt nicht an unvorhersehbaren Entwicklungen. Vielmehr sind viele Empfehlungen des Sachverständigenrats aus Modellen ableitet. Diese Modelle sind zwar in sich schlüssig formuliert, unterliegen aber Annahmen und spiegeln Denkschulen wider - nicht aber die komplexe Wirklichkeit.

    2. Auch der Sachverständigenrat untermauert seine Empfehlungen nicht immer durch eindeutige empirische Belege. Auf diesen Umstand ist bereits durch Sondervoten eines Sachverständigenratsmitglieds in Jahresgutachten hingewiesen worden.

    3. Aus den vorgenannten Gründen könnte man kritisch diskutieren wie „wissenschaftlich“ der Sachverständigenrat tatsächlich vorgeht. Eine Evidenz vergleichbar naturwissenschaftlicher Studien besitzen seine Gutachten jedenfalls nicht.

    4. Der Sachverständigenrat nimmt eine Beratungsfunktion wahr. Politische Verantwortung für die Folgen der Umsetzung seiner Empfehlungen übernimmt er nicht. Eine Bundesministerin bzw. einem Bundesminister trägt jedoch ein deutlich höheres Maß an (persönlicher) Verantwortung. Insofern muss es möglich sein, dass Frau Barley sich politisch zu Aussagen des Sachverständigenrats äußert – auch ohne auf Studien zu verweisen, wie Sie es fordern. Gerade Ihnen dürfte doch bewusst sein, dass ein an Medien gerichtetes Statement nicht in Form eines wissenschaftlichen Papers vorgelegt wird, sondern kurz, deutlich und ggf. pointiert vorgetragen wird.

    Im Ergebnis erachte ich den von Ihnen geäußerten Vorwurf der Wissenschaftsfeindlichkeit als unangebracht. Auch wenn Sie der Bundesministerin Arroganz gegenüber Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vorwerfen, lässt sich teilweise auch eine Arroganz von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gegenüber der Politik beobachten. Wie bewerten Sie beispielsweise in diesem Kontext den Titel des bereits erwähnten Jahresgutachtens 2013/14 "Gegen eine rückwärtsgewandte Wirtschaftspolitik". Dieser ist auch sehr zugespitzt formuliert und soll offenbar eine deutliche (politische) Botschaft vermitteln...