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Hört auf, auf den Kultusministern von früher herumzuhacken!

Hätten sie es besser wissen und den Lehrermangel verhindern können? Vielleicht. Sicher ist: Die heutigen Bildungspolitiker haben es in der Hand, künftige Krisen zu verhindern. Doch bislang tun sie wenig dafür.

Krissa Corbett Cavouras: "teacher's desk", CC BY-NC-ND 2.0.

IRGENDWER MUSS JA schuld sein an dem Desaster. Fast 40.000 Lehrer fehlten, hat der Präsident des Lehrerverbandes, Hans-Peter Meidinger, neulich hochgerechnet. Ein bisschen über den Daumen gepeilt, das räumte er selbst danach ein, aber allein die Zahl reichte, um die Empörung über den gefährlichen Mangel an Pädagogen auf eine noch höhere Betriebstemperatur zu steigern. Als nächstes steuerte der Vorsitzende der CDU-/CSU-Bundestagsfraktion, Volker Kauder, das Schlagwort vom "Bildungsnotstand" bei, und mein geschätzter Kollege Christian Füller forderte in der WELT "am besten einen Untersuchungsausschuss, der die Schulminister der Jahre 2010ff. vorlädt und fragt: Wie konntet ihr die Statik der Bildungsrepublik nur so verkommen lassen?"

 

Wie praktisch für die aktuellen Kultusminister, dass sich die öffentliche Wut immer stärker auf ihre Vorgänger konzentriert. Gern unterstützen die Bildungspolitiker des Jahres 2018 das sich allmählich festsetzende Narrativ, es sei das Planungsversagen der Bildungspolitiker der Jahre 2008, 2009 oder 2010 gewesen, das sie jetzt zu immer verzweifelteren Notmaßnahmen (Stichwort: 35, 50 oder, je nach Bundesland bis zu 70 Prozent Quereinsteiger bei den Neueinstellungen) zwinge. Ein Narrativ, das sie – nebenbei bemerkt –  schon im Vorfeld von allen aktuellen und möglicherweise noch bevorstehenden bildungspolitischen Fehlentscheidungen freispricht.

 

Nur ist die Sache auf den zweiten Blick komplizierter. Ja, es gab Bildungsforscher wie Klaus Klemm, die angesichts der anstehenden Pensionierungswellen sehr frühzeitig Alarm schlugen. Allerdings waren die Botschaften aus der Wissenschaft, die die Kultuspolitiker der Nullerjahre erreichten, teilweise widersprüchlich. Klemm etwa warnte zwar 2009 tatsächlich davor, bis 2015 würden 80.000 Lehrerstellen unbesetzt bleiben. Aber Klemm war es auch, der noch 2006 von "Horrorzahlen der KMK" sprach, deren damaligen Prognosen einer drohenden Pädagogenknappheit seien übertrieben: Es werde zu einem zumindest quantitativen Ausgleich zwischen Lehrerstellen und Bewerbern kommen, selbst ein Lehrerüberschuss sei möglich – bei gleichzeitigem Mangel vor allem in den MINT-Fächern. 

 

Die Lücke, die Klemm ein paar Jahre später ausmachte, entstand dann dadurch, dass die Länder nach dem Bildungsgipfel von 2008 bessere Betreuungsrelationen versprochen hatten – was rechnerisch die Zahl der benötigten Lehrer enorm erhöhte. 

 

Wie eine zielführende 

Vergangenheitsbewältigung aussähe

 

Klar kann man den Kultusministern von 2010 vorwerfen, dass sie sich angesichts der ambivalenten Studienlage jene Voraussagen herausgesucht haben, die ihnen möglichen Ärger mit den Finanzministern ersparten. Aber das ist ein Vorwurf, der sich mit acht oder zehn Jahren Abstand recht bequem machen lässt.

 

Womöglich wäre ja eine andere Form der Vergangenheitsbewältigung die zielführendere. Die Kultusminister von heute könnten sich fragen, was sie selbst aus der aktuellen Misere lernen können. 

 

Dass ihnen so ein Planungsfehler wie jener ihrer Vorgänger nicht nochmal passieren werde, ist dabei das naheliegendste Versprechen, aber auch das unrealistischste. Mit bemerkenswerter Offenheit hat dieses Dilemma neulich Berlins Wissenschaftstaatssekretär Steffen Krach (SPD) im Interview hier im Blog formuliert: Das mit der unfassbaren Fehleinschätzung seitens der Politik und der Verwaltung" von einst sage sich so leicht, und natürlich hoffe er, dass sie in Berlin jetzt bei der Vorausplanung der Lehramts-Studienplätze richtig lägen. "Aber wer weiß, welche Vorhaltungen ich mir im Jahr 2027 dazu anhören muss, was ich alles nicht vorhergesehen habe?"

 

Keine Frage, die Qualität von Prognosen lässt sich verbessern, etwa in Form jährlicher Aktualisierungen erwarteter Schülerzahlen und den daraus folgenden Lehrerbedarfsanalysen jeweils unter Einbeziehung der neueren bildungspolitischen Weichenstellungen. Hier eine bessere Grundlage künftiger Entscheidungen zu liefern ist eine zentral wichtige Aufgabe der Bildungspolitik. Aber wahr ist: Auch in Zukunft werden Kultusminister mit einer Vorwarnzeit von wenigen Jahren leben müssen – die nochmals verkürzt wird, sobald es zu unvorhersehbaren Ereignissen wie der Aufnahme von hunderttausenden Geflüchteten kommt. 

 

Was aber lässt sich dann lernen? Vor allem dieses: heute mutig zu sein.  Es gibt nämlich eine Maßnahme, die nicht einmal mehr Geld kostet und daher von den Bildungs- und Hochschulpolitikern in Eigenregie umgesetzt werden könnte. Sie ist allerdings ein extrem dickes Brett. Ich spreche von einer grundlegenden Reform des Lehramtsstudiums. Und zwar so, dass die Reaktionszeit kürzer wird. Jetzt wäre es an der Zeit, diese Reform zu diskutieren. 

 

Zwei Stufen auf dem Weg
zum Lehrerberuf

 

Einen beachtenswerten Vorschlag hat diesbezüglich vor über einem Jahr bereits der ehemalige Vorsitzende des Wissenschaftsrates, Manfred Prenzel, gemacht. Ein zukunftsträchtiges Modell der Lehrerbildung, schrieb Prenzel damals, würde aus zwei Stufen bestehen. "Stufe eins: Die Studierenden entscheiden sich für ein beliebiges Bachelor-Fach und studieren es, noch ohne pädagogische Anteile, fertig." Über Praktika und universitäre Orientierungsangebote könnten sie sich parallel an den Lehrerberuf herantasten. Stufe zwei beginne nach dem Bachelor, erst dann würden sich die Absolventen fürs Lehramt entscheiden und für ein zwei Jahre dauerndes Masterprogramm bewerben, "das sie mit der fachdidaktischen, pädagogischen und organisatorischen Kompetenz versorgt." Ein solcher Master ließe sich sogar sehr gut mit dem Referendariat, also der bisherigen zweiten Phase der Lehrerausbildung verzahnen, meinte Prenzel: "Dann würde die Lehrerbildung in Deutschland auch nicht mehr länger dauern als sonstwo auf der Welt."

 

Zeichnet sich ein höherer Bedarf an Lehrern ab, wäre die Reaktionszeit in einem solchen Modell mit einem Mal nur noch zwei oder drei Jahre – und nicht mehr sechs oder mehr. Gleichzeitig wäre die Fachlichkeit des Studiums gesichert – und die Unterrichtspraxis ebenfalls. 

 

Klingt stimmig, auf jeden Fall stimmiger als das kürzliche laute Nachdenken des amtierenden KMK-Präsidenten Helmut Holter (Linke) über ein für alle Schulformen identisches Lehramtsstudium. Eine Idee, die – nebenbei gesagt – durchaus diskussionswürdig ist, jedoch im Kampf gegen künftige Mangelsituationen allein wenig bringt. 

 

Immerhin war Holter mutig genug, überhaupt eine Veränderung vorzuschlagen. Als ich neulich einen anderen führenden Kultusminister nach Prenzels Vorschlag fragte, sagte er sinngemäß, der gegenwärtige Lehrernotstand sei nicht geeignet, jetzt neue Modelle auszuprobieren. Das hat mich sprachlos gemacht. Ja, das Brett ist dick. Aber wenn nicht jetzt, wann denn dann? 

 

Wenn wir in zehn Jahren über mögliche Versäumnisse der heutigen Kultusminister sprechen, werden sie sich genau an dieser Stelle nicht herausreden können. Sie haben die Gelegenheit, den Krisen von morgen und übermorgen durch einen Neustart in der Lehrerbildung von Anfang an vorzubeugen. 

 

Welche Krisen werden das sein? Lassen Sie mich am Ende auch mal eine Prognose wagen. Die Notmaßnahmen dieses und der nächsten Jahre führen dazu, dass massenhaft Quer- und Seiteneinsteiger auf reguläre Stellen kommen, ihnen aber die notwendige (und versprochene) hochwertige Qualifizierung versagt bleibt. Parallel stürmen junge Menschen ins Lehramtsstudium, weil die Länder – viel zu spät – zusätzliche Studienplätze schaffen. In sechs oder sieben Jahren klopft dann eine Generation gut ausgebildeter Referendaren in den Schulen an, die so zahlreich ist, dass sie angesichts all der im Notfallmodus auf Dauer besetzten Stellen nur teilweise in den Kollegien unterkommen wird: die nächste – absurde – Runde im Schweinezyklus. 

 

Noch ist es Zeit, ihn zu durchbrechen. Aber dafür müssten wir mit dem Bashing der Bildungspolitiker von einst aufhören und mit den Reformen losgelegen.  

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Kommentare: 6
  • #1

    Edith Riedel (Montag, 03 September 2018 20:17)

    Aus den Fehlern der Vergangenheit lernt man. Dazu muss man sie aber identifizieren und nicht unbesehen hinter sich lassen. Mutig in die Zukunft - gerne. Aber bitte nicht ohne einen kritischen Blick auf die Fehler der Vergangenheit. Das beste Beispiel ist ja genannt: der nächste Schweinezyklus, für den mit den verzweifelten Einstellungen nicht qualifizierte Quereinsteiger_innen gerade die Grundlage gelegt wird.

  • #2

    Mannheimer Studi (Dienstag, 04 September 2018 08:31)

    Vorteil des Vorschlags: Man wird die hochnäsigen Kommentare mit der Behauptung Lehramtsstudis würden nur die Hälfte der Fachstudis leisten los.

    Nachteil des Vorschlags: Die Länder müssten sich dann um Absolventen mit oft guten Karriereaussichten bemühen, statt um Abiturienten, die noch nicht wissen wohin es geht. Hm, vielleicht ist das auch ein Vorteil... ;)

  • #3

    Martin Lommel (Dienstag, 04 September 2018 21:08)

    Grundlage müssten dann entweder Zweifach-Bachelor sein, die je 90 CP für ein Fach vergeben oder wir hätten dann in Zukunft Ein-Fach-Leher*innen, oder? Könnte man ja mal in den Bundesländern diskutieren, die ohnehin noch keine gestuften Studiengänge im Lehramt haben...

  • #4

    Mannheimer Studi (Mittwoch, 05 September 2018 09:32)

    "wir hätten dann in Zukunft Ein-Fach-Leher*innen, oder? "

    Lehrer mit nur einem Fach gibt es ja jetzt schon. Übrigens unterrichten Lehrer mit zwei Fächern auch mal nur eins von beiden, wenn es ein Mangelfach ist.

  • #5

    Ruth Himmelreich (Mittwoch, 05 September 2018 09:42)

    In meinem Bundesland haben wir von unserem KM vor über zehn Jahren schon einmal konkrete Lehrerbedarfsprognosen gefordert, mit den Argumenten, man wisse, wieviele Lehrer in den Ruhestand gehen und wieviele Schüler absehbar in 5 Jahren ins Schulsystem kommen.

    Antwort: Njet. Das ginge nicht, man könne nicht absehen, welche Reformen man in den nächsten Jahren angehen werde, die hätten schliesslich (siehe Gruppengrößen, Schulformen) einen großen Einfluss auf den Lehrerbedarf. Man kann jetzt auf die trägen Bürokraten schimpfen, aber sie waren nur realistisch. Die Reformen sind politikgesteuert, und es wird tatsächlich alle zwei Jahre irgendwas am Bildungssystem herumreformiert, weil eine Regierungspartei sich mit irgendeiner Superidee profilieren will. Nur, bis die revolutionäre Superidee Jahre später umgesetzt ist, hat man schon wieder neue.

    Herr Prenzel hat übrigens recht mit seiner Forderung. Aber die Beharrungskräfte in der Kultusverwaltung, die eine "richtige" Lehramtsausbildung vom Bachelor an wollen, sind groß, das bröckelt leider nur sehr allmählich.

  • #6

    Henning Feldmann, PSE Ruhr-Universität Bochum (Freitag, 14 September 2018 21:48)

    Man kann Prof. Prenzel und somit Herrn Wiarda ganz besonders in einer Sache vollkommen zustimmen. Ein sog. polyvalentes Lehramtsstudium, in dem das Fachstudium im Bachelor noch nicht lehramtsbezogen ausgerichtet ist und in dem im Rahmen eines fachübergreifenden Studienelements die Möglichkeit geboten wird, sich im Sinne der Berufsorientierung (z. B. im Rahmen von Orientierungspraktika) mit dem Berufsziel Lehramt auseinanderzusetzen (Stufe 1), um erst zum Master-Studium die endgültige Entscheidung für das Lehramt oder einen anderen Weg zu treffen (Stufe 2), wird an der Ruhr-Universität Bochum bereits seit 2004 praktiziert. Wir machen mit diesem Modell sehr gute Erfahrungen. Neben den von Prof. Prenzel skizzierten Steuerungsmöglichkeiten kommt das Bochumer Modell nicht zuletzt auch der immer wieder geäußerten Forderung nach fundierter Fachlichkeit im Lehramtsstudium nach ohne hierbei den Studierenden die erforderlichen fachdidaktischen und bildungswissenschaftlichen Inhalte vorzuenthalten. Vielmehr gelingt es auf diese Weise, im Bachelor die fachliche Basis zu legen, auf die sich die lehramtsspezifischen Elemente des Masters beziehen. Ergänzt durch eine fachwissenschaftliche Vertiefung und das Praxissemester entspricht das Bochumer Modell somit den Anforderungen an eine moderne Lehrerbildung, die den Studierenden die notwendige Flexibilität lässt, sich während des Studiums zu erproben und aus dieser Perspektive heraus ihre Entscheidungen zu treffen.