Wie das DHV-Barometer seit bald zehn Jahren die Stimmungen der Wissenschaftsszene anzeigt: Bernhard Miller hat es sich genauer angeschaut. Ein Gastbeitrag.
DIE DIFFERENZIERTE DISKUSSION ist ein Wesensmerkmal wissenschaftlichen Meinungsaustausches. Ein Merkmal auch, dass sich wohltuend oft auf die politische und administrative Beschäftigung mit Wissenschaft überträgt. Dass indes bei aller Differenzierung manchmal auch die akzentuierende Zuspitzung ihren Wert hat, wissen nicht nur die Anhänger von Debatten im British Parliamentary Style.
So lädt zum Beispiel der Deutsche Hochschulverband (DHV) in seinem Barometer einmal im Monat dazu ein, sich klar Pro oder Contra zu einem (meist) wissenschaftspolitischen Thema zu positionieren. Aktuell geht es dort um die Frage: "Ja zur Halbierung der Anzahl wissenschaftlicher Publikationen?" Die Kunst besteht darin, Themen zur Abstimmung zu stellen, die für die wissenschaftliche Community eine wirklich hohe Relevanz haben. Eine Kunst, die die Autorinnen und Autoren des DHV-Newsletters, in dem das Barometer erscheint, mit seinen (nach eigenen Angaben) über 37.000 Lesern oft erfolgreich unter Beweis stellen. So entstehen Schlaglichter auf das Wissenschaftssystem. Ganz klar: Schlaglichter. Denn das Barometer ist eine Online-Abstimmung, der jede Repräsentativität abgeht. Jedes Schlaglicht ist also abhängig davon, wer zufällig von einem Thema erfährt und es hinreichend wichtig findet.
Aber abgesehen von der Frage nach der Repräsentativität verhält es sich so, wie neulich der ZEITChancen Brief seine Leserinnen und Leser erinnerte: Es macht den meisten Leuten einfach Spaß, auch mal ganz simpel mit "Ja" oder "Nein" die eigene Meinung kundzutun. Außerdem kann uns die Beteiligung an einem solchen Voting durchaus einen Eindruck vermitteln, wie sehr ein Thema mobilisieren kann. Und schließlich: es gibt diesen Druckfühler des deutschen Wissenschaftssystems seit bald zehn Jahren. Er bietet damit eine reichhaltige Übersicht über die Themen eines relativ langen Zeitraumes.
Grund genug, sich dieses Barometer einmal genauer anzuschauen. Angefangen hat alles mit einer "Frage des Monats" im Mai 2009. Ob man eine Resolution des DHV zur Abschaffung der obligatorischen Programmakkreditierung für einen richtigen oder falschen Vorstoß halte, wollte der Newsletter wissen. Später ging es um den Dipl.-Ing.: "Vorbild Mecklenburg-Vorpommern?". Ein anderes Mal lautete die Frage: "Berechtigte Kritik am Handelsblatt-Ranking?" Auch ob es "Kuschelnoten an deutschen Universitäten" gebe, wollte der DHV schon mal wissen.
Insgesamt sind bereits über 100 Fragen zusammen gekommen und archiviert worden. Im Mittel wurden dabei 239 Stimmen abgegeben. Das (mit einigem Abstand) meiste Interesse (895 Stimmen) verbuchte eine Frage zur Open-Access Pflicht bei BMBF-Förderung aus dem Herbst 2016. 79,7 Prozent befürworteten dabei eine solche Pflicht. Man könnte dies man vor dem Hintergrund bemerkenswert finden, dass der DHV noch 2010 in einer Resolution argumentierte: "Ein wissenschaftsfreundliches Urheberrecht kann nicht darin bestehen, Wissenschaftler zu verpflichten, ihre Werke kostenlos auf öffentlichen Datenbanken zu veröffentlichen." Aber womöglich ist das auch Hinweis auf eine Entwicklung.
Auch zu den anderen Top-Themen werden die meisten Leserinnen und Leser dieses Blogs schon Diskussionen geführt haben. Hier also die Liste der zehn Fragen mit er höchsten Beteiligung im DHV-Barometer seit 2009:
Naturgemäß, die Meinungen zu diesen zehn Themen gingen auseinander: 88,7 Prozent Ja zur Beibehaltung des Dipl.-Ing. als Ausweis wissenschaftlicher Exzellenz (TU9), 84 Prozent Nein zur Umstellung der TUM-Masterstudiengänge auf Englisch bis zum Jahr 2020. Wie bei den zitierten Beispielen sind auch insgesamt ausgewogene Meinungsbilder selten, wie der Blick über die Top Ten hinaus zeigt. Nur bei zehn Barometern bewegen sich Zustimmung und Ablehnung um die 50 Prozent. Nie aber war das Meinungsbild so inkonklusiv, wie bei der Frage, ob Plagiate bei Doktorarbeiten verjähren sollten (50,1 Prozent Ja bei 581 Antworten). Insgesamt aber polarisieren die Fragen: Im Mittel vereint die Mehrheitsposition drei Mal so viele Stimmen auf sich wie die unterlegene. Auch die folgende Liste der zehn besonders kontroversen Barometer-Themen spiegeln wichtige Fragen der vergangenen Jahre.
Auch wenn die Barometer-Brille also kaum ideal geschliffen ist, um einen unverzerrten Blick zu ermöglichen - sie erinnert daran, dass manch Etabliertes keineswegs Konsens ist. Die zwei Themen, die aus der Kontroversen-Liste herausstechen, sind (kaum überraschend) die Hochschulfinanzierung mit verschiedenen Schattierungen sowie die Qualitätssicherungsverfahren (vertreten in der Liste durch den Heidelberger Aufruf wider die Akkreditierung nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes sowie durch die Empfehlungen des Wissenschaftsrates von 2011 zu Steuerung und Bewertung von Forschungsleistungen).
Der Themenkomplex Akkreditierung ist auch über die Liste der kontroversen TopTen hinaus ein regelmäßiger Gast im DHV-Newsletter. Das Meinungsbild zur oben zitierten allerersten Ausgabe des Barometers (Abschaffung der Programmakkreditierung) lag dabei im erkennbaren Trend: 91,7 Prozent der 457 Antworten waren dafür. Insgesamt war Akkreditierung fünf Mal im Druckmesser des DHV präsent.
Die positivste Sicht hatten die Antwortenden dabei auf die Frage, ob Mainz als erste systemakkreditierte Universität ein Vorbild sei (67,9 Prozent fanden ja). Neben der Akkreditierung hatten aber auch andere Qualitätssicherungsinstrumente im Barometer einen schweren Stand: das Forschungsrating und der Kerndatensatz Forschung des Wissenschaftsrates ebenso wie U-Multirank des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE) wie auch die Ankündigung der EU, ein solches Ranking einzuführen.
Bedauerlich, dass sich nicht sagen lässt, wie nah (oder nicht) diese Zahlen der wahren Wahrnehmung kommen – oder inwiefern sie ein besonderes Merkmal der DHV-Newsletter-Community sind. Festhalten lässt sich aber: Qualitätssicherung (mutmaßlich sogar das Wort) mobilisiert in der Gruppe der DHV-Leserinnen und Leser verlässlich.
Dass viele Themen im Barometer kontrovers sind, hat ohne Zweifel mit dem geübten Auge der Verantwortlichen und gelegentlich auch mit der Formulierung der Fragen zu tun. Für die Themenwahl braucht es aber zunächst Impulse. Woher bekommen die Newsletter-Macher sie? Welche Akteure im Wissenschaftssystem sind besonders erfolgreich darin, Agendasetzung zu betreiben?
Zählt man die Nennungen der verschiedenen Institutionen in den Barometer-Fragen, zeigt sich schnell, dass viele der vielleicht erwartbaren Impulsgeber dort tatsächlich eher selten genannt werden: Die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) ist ebenso wie die Kultusministerkonferenz (KMK) lediglich drei Mal Agendasetzer gewesen (und bei einem kontroversen Thema, siehe oben). Die Positionen oder Verfahren der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) waren vier Mal Anlass einer Frage – verwunderlich angesichts der vielen Diskussionen in der Wissenschaftsszene um gute wissenschaftliche Praxis, Hochschulfinanzierung und Drittmittelförderung.
Auch die Akademien tauchen nur viermal auf. Ihre Vorschläge (Lockerung Embryonenschutz [Leopoldina], mehr Berufungen von Praktikern in den Technikwissenschaften [acatec] sowie Stärkung der Doppelbetreuung bei Promotionen [Union der Akademien]) wurden übrigens allesamt knapp zwei Drittel der Stimmen abgelehnt. Die Forderung der Jungen Akademie nach 1000 Bundesprofessuren hingegen fand 53 Prozent Befürworter unter den Teilnehmenden. Außer bei der Bundesprofessur war das Interesse an den Akademie-Fragen allerdings unterdurchschnittlich.
Überraschend oft, immerhin drei Mal, taucht der Historikerverband als Impulsgeber auf und kann sich zu dieser Prominenz, die keiner anderen Fachgesellschaft zuteilwird, sicherlich beglückwünschen lassen. Die Max-Planck- (2) und Fraunhofer-Gesellschaft (1) hingegen sind seltener, die Helmholtz- und Leibniz-Gemeinschaft gar nicht als Themengeber genannt.
Starke zwölf Mal ist (teils vermittelt durch Stellungnahmen der Historiker) der Wissenschaftsrat mit seinen Empfehlungen Gegenstand des Barometers. Sie werden ebenso oft befürwortet wie abgelehnt. Auch vergleichbar intensiv mit jeweils knapp über 80 Prozent. Seiner Rolle als Impulsgeber für die wissenschaftspolitische Debatte wird der Wissenschaftsrat also, zumindest wenn es nach dem Barometer geht, gerecht. Schließlich: Mehr Präsenz als der Wissenschaftsrat zeigen im Barometer nur noch die Wissenschaftsministerinnen und -minister, insofern man die Politik denn als eine Gruppe beschreiben möchte. 13 Mal haben Ministerinnen oder Minister Vorschläge unterbreitet, die Eingang in das DHV-Barometer gefunden haben. Auffällig dabei ist, dass sich die Präsenz des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) stark gewandelt hat: Während die bis 2013 amtierende Bundesministerin Annette Schavan relativ häufig genannt wurde (sieben Mal) sind ihre beiden Amtsnachfolgerinnen (bis heute) im Barometer unsichtbar geblieben.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Entwicklungslinien im deutschen Wissenschaftssystem nachzuzeichnen. Das DHV-Barometer ist dabei wahrscheinlich nicht die schlechteste: Es erlaubt, die Wahrnehmung von Themen einzuschätzen. Gerade wenn Themen mehrfach auftauchen, können Muster erkennbar werden. Ungeachtet aller Interessen, die beim Fragen und Antworten zweifelsohne eine Rolle spielen, entsteht die Möglichkeit, solche Entwicklungslinien etwas systematischer zu verfolgen.
Wie viel wir aus den Bewertungen lernen können, muss hingegen offen bleiben. So oder so haben die pointierten Fragen auch für eine ausgewogene Debatte ihren Wert: Sie zwingen aufzuzeigen, wie weit – oder eben nicht – man mit schlicht dichotomen Antworten kommt. Ein höllischer Spaß eben.
Bernhard Miller ist Referent im Stab des Präsidenten von GESIS.
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Klaus Hekking (Freitag, 07 September 2018 09:17)
Geistige Selbstbefriedigung eines unterbeschäftigten Wissenschaftsbetriebs
CFL (Montag, 10 September 2018 09:45)
Wie haben Sie die "besonders kontroversen Barometer-Themen" ausgewählt? Soweit ich sehe, handelt es sich dabei ausschließlich um Themen, bei denen die Antwort sehr eindeutig ausfiel - mal bei "ja", mal bei "nein", aber immer waren sich mehr als 94% der Antwortenden einig. Daher erschließt sich mir nicht, wieso es sich dabei um besonders kontroverse Themen handelt.