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"Europäische Wissenschaft auf Weltniveau"

Frédérique Vidal, Frankreichs Ministerin für Hochschulbildung, Forschung und Innovation, über Europäische Universitäten, Technologieangst und Künstliche Intelligenz – und über die deutsch-französische Achse in der Wissenschaft.

Frau Ministerin, in Europa wurde lange von einer deutsch-französischen Achse gesprochen. Gibt es die noch, und gibt es sie in der Hochschulpolitik?

 

Ich möchte mit einer persönlichen Bemerkung anfangen. Meine deutsche Kollegin Anja Karliczek ist jetzt ein halbes Jahr im Amt, und schon bei unserem ersten Treffen Ende März 2018 hatte ich das Gefühl, dass unsere Herangehensweise und unsere Ziele sich ähneln. 

 

Woran machen Sie das fest?

 

Anja Karliczek war auf Einladung von Präsident Macron hier, als unsere nationale französische Strategie zur Künstlichen Intelligenz präsentiert wurde. Sie hielt eine Rede, und darin betonte sie, wie wichtig die Zusammenarbeit Deutschlands und Frankreichs ist, um Forschung und Innovation in Europa einen neuen Schub zu geben. Womöglich noch wichtiger aber ist, dass meine deutsche Kollegin genau wie ich das Thema Künstliche Intelligenz in einen gesellschaftlichen Kontext stellt. Die Amerikaner betrachten KI und Big Data vor allem vor dem Hintergrund ihrer wirtschaftlichen Bedeutung, die Chinesen sehen darin Möglichkeiten, ihre Bevölkerung besser zu überwachen. Dazwischen brauchen wir ein europäisches Modell, das gleichzeitig dem menschlichen und dem technologischen Fortschrittt dient, ein europäisches Verständnis der neuen Technologien. 

 

"Die Menschen müssen fühlen,
dass Forschung das Leben besser macht"

 

Viele Menschen in Europa haben Angst vor KI, sie fürchten die Auswirkungen auf ihr Leben. 

 

Zumindest wissen viele Menschen nicht, was sie von den neuen Technologien halten sollen. Wissenschaft hat eine Berechtigung aus sich selbst heraus, aber darüber hinaus ist es wichtig, dass die Ergebnisse von Forschung möglichst allen Menschen zugutekommt. Dass sie fühlen, dass Forschung das Leben besser macht. Und in der Vermittlung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft können wir als Politik eine wichtige Rolle spielen, das ist meine Überzeugung, und ich bin froh, dass Anja Karliczek das ebenfalls als eine ihrer Kernaufgaben begreift. 

 

Es ist ein Jahr her, dass Präsident Macron an der Sorbonne seine Rede zu Europas Zukunft hielt. Er sagte ein paar wenige Sätze, in der er seine Vision "europäischer Universitäten" beschrieb. Hand aufs Herz: Wie sehr hat sie seine Initiative überrascht?

 

Ehrlich? Überhaupt nicht. Wir waren uns schon im Wahlkampf einig, dass Universitäten und Forschungseinrichtungen eine zentrale Rolle dabei spielen werden, die Bürger wieder mit Europa zu versöhnen. Wenn es ein Feld gibt, das per Definition international ist, dann ist das die Forschung. Auf der Suche nach neuen Erkenntnissen reden Forscher nicht nur mit den Kollegen in ihrem Labor, sie reden mit Kollegen überall auf der Welt. Und derzeit gibt es wenige europäische Programme, die so unbestritten und rundherum als Erfolg gesehen werden wie Erasmus. Erasmus ist nicht nur ein Austausch von Menschen, es ist seit vielen Jahren ein Vehikel, um die europäische Idee zu weiterentwickeln.

 

Aber Erasmus gibt es ja nun schon. 

 

Und Erasmus ist auch nur der Anfang! Es muss für immer mehr Studierende selbstverständlich sein, quer durch Europa zu reisen. Und nicht nur für Studierende, sondern genauso für Professoren und sogar für das Verwaltungspersonal der Hochschulen. Und selbst das reicht noch nicht. Es geht nicht nur darum, die europäische Bindung zu stärken, sondern auch darum, Europas Wissenschaft insgesamt attraktiver zu machen. Wenn Sie mit jungen Leuten in China oder Brasilien reden, dann sagen die meisten nicht: Sie wollen in Italien studieren, in Frankreich oder in Deutschland. Sondern sie wollen nach Europa. Und diese europäische Studienerfahrung werden wir ihnen mithilfe der Europäischen Universitäten geben können.

 

Also Erasmus 2.0?

 

Noch mehr als das. Wir wollen erstmals Lehre, Forschung und Innovation, Studierende, Forscher und Startup-Gründer miteinander verschränken. Bislang sind das, was die Zuständigkeiten auf EU-Ebene angeht, getrennte Welten. Wir glauben, dass die Europäischen Universitäten geradezu berufen sind, all das zu vereinen. Und dass sie Absolventen hervorbringen werden, die überall in Europa zu Hause sein werden. Die eine neue Perspektive auf Europa mitbringen und hoffentlich dabei helfen, wahrhaft europäische Hightech-Konzerne zu schaffen.

 

"Wir befinden uns an einem kritischen Punkt
in der europäischen Geschichte
"

 

Und all das steckte in den paar Sätzen, die Präsident Marcron gesagt hat?

 

Es ist das, was wir gemeinsam mit Deutschland, der Europäischen Kommission und anderen Partnern daraus entwickelt haben. Wir befinden uns an einem kritischen Punkt der europäischen Geschichte. Jetzt ist der Zeitpunkt, allen Bürgern Europas gegenüber stark zu betonen, dass Europa ihnen Nutzen bringt. Immer weniger Menschen erinnern sich an den Krieg. Immer mehr Menschen glauben, es sei besser, unter sich zu bleiben. Die Nationalisten nutzen das aus. Da reicht es nicht mehr aus, wenn wir von unseren gemeinsamen Werten und Wurzeln sprechen. 

 

Sondern?

 

Wir müssen besser als in der Vergangenheit konkret erklären, wie und warum Europa uns alle stärker macht. Wir können uns dafür entscheiden, die Augen zu verschließen und so zu tun, als sei Europa der Ursprung aller Probleme. Oder wir können es als Quelle von Lösungen begreifen für die Probleme von heute und morgen. Wir setzen auf Letzteres, ganz klar. Wir müssen allen Menschen klarmachen, wie wenig wir innerhalb nationaler Grenzen bewerkstelligen können – und wie viel, wenn wir mit unseren europäischen Partnern zusammenarbeiten. Wir sind 66 Millionen Franzosen, es gibt 330 Millionen Amerikaner und 1,4 Milliarden Chinesen. Das sagt doch alles.

 

Wie wehren Sie sich gegen den Vorwurf, dass mit den Europäischen Universitäten ein neues westeuropäisches Eliteprojekt entsteht, das Deutschland und Frankreich unter sich ausmachen?

 

Indem wir zeigen, dass das nicht stimmt und wir stehen. Auch darin bin ich mit Anja Karliczek einig. Die Europäischen Universitäten werden als Netzwerke für zweierlei stehen: für eine demokratisch verfasste Wissenschaft auf Weltniveau und für den Anspruch, ganz Europa zu repräsentieren. 

 

"Als Vorbild kommt mir der
Europäische Forschungsrat in den Sinn"

 

Ist das nicht ein Widerspruch in sich? Alle sollen mitmachen, und daraus soll Exzellenz entstehen?

 

Ich kann da keinen Widerspruch erkennen. Es gibt herausragende Studierende, Forscher und Hochschulen überall in Europa. Manchmal mögen es auch nur exzellente Teile einer Hochschule sein, und das ist das Tolle an unserem Konzept: Ein Netzwerk kann aus Volluniversitäten bestehen oder aus einzelnen Fachbereichen. Jedes Land, ob Ost oder West, muss die gleiche Chance haben. Wichtig ist darüber hinaus: Wir bewegen uns in einem globalen Wettbewerb. Bei der wissenschaftlichen Qualität dürfen wir also keine Kompromisse machen. Als Vorbild kommt mir daher am ehesten der Europäische Forschungsrat in den Sinn, der auch Europa als Ganzes im Blick hat, aber seine Auszeichnungen dennoch nicht per Proporz vergibt. 

 

Direkt nachdem Präsident Macron im vergangenen September seine Idee präsentierte, begann in Deutschland eine sechs Monate lange, schmerzhafte Regierungsbildung. Hat Ihnen Deutschlands Unterstützung in diesem wichtigen ersten halben Jahr der Konzeptentwicklung gefehlt?

 

Auf Arbeitsebene war der Dialog mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung die ganze Zeit da. Deutschland und Frankreich haben eine Kultur der Zusammenarbeit entwickelt, bei der Künstlichen Intelligenz, im Kampf gegen Antibiotikaresistenzen oder bei der neuen Ionenbeschleunigeranlage FAIR, das ist eingespielt. Und auch bei der Idee der Europäischen Universitäten waren viele weitere Partner von Anfang an hilfreich, die Niederländer zum Beispiel oder die Iren, die angesichts des BREXIT besondere Hoffnungen in die Idee setzen.

 

Und was bleibt dann noch von der speziellen deutsch-französischen Beziehung?

 

Unsere beiden Länder sind in der Lage, im Zweifel zu zweit voranzugehen, um andere durch dieses Vorbild zu inspirieren. Damit meine ich, dass wir eine Idee auf bilateraler Ebene ausprobieren, und wenn die Erfolg hat, dann kommen die anderen hinterher. Gerade die Forschungscommunity lässt sich zum Glück nichts vorschreiben. Die müssen Sie überzeugen. Im konkreten Fall der Europäischen Universitäten haben Anja und ich uns darauf verständigt, den Aufbau der Netzwerke zusätzlich zum Geld der Kommission mit jeweils 10 Millionen Euro pro Jahr zu fördern. Auch das ist ganz klar als Signal zum Nachahmen gedacht.

 

Das hört sich so an, als sei das Geld als Starthilfe für Europa gedacht. Konkret pampern Deutschland und Frankreich damit aber die eigenen Universitäten für den Wettbewerb.

 

Das stimmt so nicht. Um die Netzwerke in Gang zu bringen, brauchen Sie Wissenschaftler, die einander besuchen können, die Austauschbeziehungen aufbauen können. Dafür ist das Geld gedacht. Davon profitieren alle Partner im jeweiligen Netzwerk, nicht nur die deutschen oder die französischen. Wie ich schon sagte: Es geht darum, etwas Neues für Europa in Gang zu bringen, wir müssen den Beweis liefern, dass die Idee einen Mehrwert bringt. Und wenn Deutschland und Frankreich das Geld haben, das Projekt voranzubringen, dann müssen Sie das tun – als Wertschätzung und zur Konsolidierung Europas. 

 

Das Ziel ist "eine gemeinsame
europäische Agentur für Innovation"

 

Vor kurzem hat Deutschland aber allein eine Agentur für Sprunginnovation gegründet. Es gab auch mal Überlegungen, ein gemeinsames Projekt mit Frankreich auf die Beine zu stellen. Chance verpasst?

 

Aber Deutschland ist doch nicht allein. In Frankreich verfolgen wir ganz ähnliche Ziele, und in einem zweiten Schritt wollen wir, dass die nationalen Anstrengungen in einer gemeinsamen europäischen Agentur für Innovation gipfeln. Aber es ist richtig und wichtig, dass wir nicht darauf warten, sondern dass diejenigen Länder, die dazu die Ressourcen haben, zeigen, dass die Idee, mehr Forschungsergebnisse in marktfähige Produkte zu übersetzen, funktionieren kann. Denn das ist nicht wirklich unsere Stärke in Europa, wir haben eine exzellente Forschungsbasis, aber die Transformation gelingt uns nicht ausreichend. Genau aus demselben Grund haben wir das Thema Innovation ja auch ins Konzept zu den Europäischen Universitäten hineingeschrieben. 

 

Premierminister Édouard Philippe hat vor kurzem den ehemaligen Straßburger Unirektor Alain Beretz zum nationalen Beauftragten für die Europäischen Universitäten ernannt. Mit welchem Ziel? 

 

Alain Beretz war zuletzt der für Forschung und Innovation zuständige Abteilungsleiter meines Ministeriums, und er hat die Idee der Europäischen Universitäten mit vorangetrieben in den vergangenen Monaten. Seine Aufgabe ist es, dabei mitzuhelfen, dass aus dem Projekt schneller Realität wird. In dem Zusammenhang sollte man auch erwähnen, dass er Rektor der zum Universitätsnetzwerk EUCOR gehörenden Universität Straßburg war.

 

In EUCOR haben sich fünf Universitäten aus Frankreich, Deutschland und der Schweiz  als "Europäischer Campus" organisiert, darunter Straßburg und auf deutscher Seite Freiburg und Karlsruhe. 

 

Und die Präsenz der Schweiz ist für die Ausschreibung zu den Europäischen Universitäten jetzt eine Herausforderung, weil die Netzwerke mindestens drei EU-Staaten repräsentieren müssen. Aber das werden sie lösen. Und auch dabei kann Alain helfen. Wir haben es da leichter als Deutschland mit seiner föderalen Struktur. Ich hoffe, dass Alain auch dem BMBF Unterstützung geben kann, und – warum sollte er nicht auch einen Counterpart auf deutscher Seite bekommen?

 

Sie sagten vorhin, die Europäischen Universitäten sollen Lehre, Forschung und Innovation miteinander verschränken. Die Pilotausschreibung, die im Oktober startet, läuft aber allein über das Erasmus-Programm.

 

Wie Sie sagen: Das ist nur das Pilotprogramm. Das Ziel wird sein, daraus einen Austausch der Menschen und der Ideen zu entwickeln.  

 

Im Vergleich zum Europa-Enthusiasmus von Präsident Macron wirkt Kanzlerin Merkel gehemmt. Gleichzeitig kippt die politische Stimmung in vielen EU-Staaten nach rechts.

 

Daher ist es so wichtig, die Stimme zu erheben. Deutschland hat Europa durch sein Engagement über Jahre große Dienste geleistet, Deutsche und Franzosen sollten jetzt gemeinsam weitergehen. Wir wollen Europa wieder mehr Wertschätzung verschaffen, und um glaubwürdig zu sein und von anderen mehr zu fordern zu können, müssen wir in einem ersten Schritt Frankreich besser machen. Auch daran arbeiten wir. 


Dieses Interview erschien in gekürzter Fassung zuerst im DSW Journal 3/2018 des Deutschen Studentenwerks.


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Kommentare: 2
  • #1

    Name (Freitag, 26 Oktober 2018 13:51)

    Das erste "zu" streichen: Jetzt ist der Zeitpunkt, allen Bürgern Europas zu stark zu betonen, dass Europa ihnen Nutzen bringt.

  • #2

    Jan-Martin Wiarda (Freitag, 26 Oktober 2018 14:20)

    Vielen Dank für den Hinweis! Ist korrigiert. Viele Grüße Ihr Jan-Martin Wiarda