Die berufliche Bildung sei so viel wert wie die akademische, betont die Politik. Zugleich rechnet sie die Lehrernot der Berufsschulen klein, kritisieren Experten. Sind Quereinsteiger die Lösung?
Das Oberstufenzentrum Kraftfahrzeugtechnik in Berlin. Foto: www.modernes-berlin.de.
EIGENTLICH KANN DAS nicht so kompliziert sein. In der Werkstatt hantieren sie auch ständig mit Autobatterien. Doch als Christian Göbel einen Schaltkreis an die Tafel zeichnet, sitzen die elf Jungs reglos da. Verziehen keine Miene, als ihr Lehrer erklärt, dass sie gleich mit dem Multimeter die Spannung messen. Und den Innenwiderstand. Was war noch mal der Innenwiderstand?
Zehn Jungs mit Kapuzenpulli, einer mit Basecap, kein Mädchen: die Klasse 117.14B des Oberstufenzentrums Kraftfahrzeugtechnik (OSZ KFZ) in Berlin-Charlottenburg . Also die eine Hälfte, denn heute ist Laborunterricht. Die elf wollen KFZ-Mechatroniker werden. Das heißt: Zwei Wochen arbeiten sie im Betrieb, lernen Reifen wechseln, Diagnosegeräte bedienen, Ersatzteile einbauen. Es folgt eine Woche Berufsschule, dann notieren sie Formeln, lösen Arbeitsblätter. Sie melden sich, damit der Lehrer sie dran nimmt. Oder ducken sich, damit genau das nicht passiert.
Es ist ein ständiges Wandern zwischen den Welten auf dem Weg in den Beruf, und dieses Wandern hat einen Namen, der – so behaupten zumindest die Politiker – international einen hervorragenden Klang hat: duale Ausbildung. Eine ziemlich einzigartige Verknüpfung von Theorie und Praxis, die am Ende hoch qualifizierte Facharbeiter hervorbringen soll. Kaum irgendwo ist die Jugendarbeitslosigkeit so niedrig wie in Deutschland.
Das ist die eine Hälfte der Geschichte. Die andere fand sich zuletzt häufiger in den Nachrichten. Die Berufsausbildung hat ein Imageproblem. Mehr als 50 Prozent eines Altersjahrgangs drängt an die Hochschulen, Firmen finden keine Azubis mehr. "Nach dem Pisa-Schock haben wir den Jugendlichen 20 Jahre lang erzählt, dass der wahre Mensch mit dem Abitur beginnt", sagt Petra Jendrich, die den Ausschuss für Berufliche Bildung der Kultusministerkonferenz leitet. Das sei in Unkenntnis der Kompetenzen, die eine duale Ausbildung vermittle, geschehen. Inzwischen habe ein Umdenken eingesetzt, doch das dauere.
Gleichzeitig bekommen viele Jugendlichen keinen Ausbildungsplatz. Mangels Qualifikation, oder weil die Betriebe zu wählerisch sind.
Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) betont gern die "Gleichwertigkeit" von akademischer und beruflicher Bildung. Zuletzt plädierte sie dafür, es solle bei den Ausbildungsabschlüssen einen "Berufsbachelor" und "Berufsmaster" geben. Die Hochschulen protestieren: Identische Bezeichnungen für unterschiedliche Kompetenzen führten zu Intransparenz. Auch in den Berufsschulen regt sich Widerstand. "Mehr Anerkennung schaffe ich nicht durch Titel, sondern indem Berufsschulen die politische Unterstützung bekommen, die sie brauchen", sagt Ronald Rahmig. Er ist Vorsitzender von "Berufliche Bildung Berlin", einer Vereinigung von Leitern berufsbildender Schulen. Aber im Hauptberuf leitet Rahmig das OSZ KFZ, an dem Christian Göbel unterrichtet.
Studien zeigen, dass das Imageproblem der Berufsschulen auch den Lehrermangel verschärft: Bis 2030 könnten 26 500 voll ausgebildete Pädagogen fehlen (siehe Kasten). Schon heute sind in Berlin 20 Prozent der neuen Berufsschullehrer Quereinsteiger ohne reguläres Lehramtsstudium. Noch höher liegt ihr Anteil an Schulen, die auf technische Berufe vorbereiten.
Christian Göbel ist im Dezember 51 Jahre alt geworden. Sein Referendariat hat er gerade erst abgeschlossen. Er ist gelernter KFZ-Mechaniker und Maschinenbau-Ingenieur, hat 19 Jahre in der Entwicklung gearbeitet. Irgendwann sei er an einen Punkt gekommen, an dem es nicht weiterging, sagt er. "Ich sollte Autos effizienter machen, meine Kollegen und ich kämpften um jeden Prozentpunkt Verbrauch, doch in mir drin wusste ich: Das Einzige, was wirklich hilft, ist weniger Autofahren." Die Sinnfrage wurde für Göbel immer drängender. Er wollte mit Menschen statt mit Maschinen arbeiten. Am OSZ, wo er einst selbst gelernt hatte, fing er als Vertretungslehrer an. Und stellte sich so gut an, dass er in das sogenannte Quereinsteigerprogramm aufgenommen wurde – mit der Bedingung, vor dem Referendariat ein berufsbegleitendes Studium für das erforderliche Zweitfach zu machen.
In die Zukunft gerechnet
Bis 2030 werde fast die Hälfte der rund 125 000 Berufsschullehrer in den Ruhestand gehen, berichtet die Bertelsmann-Stiftung und warnt: Nicht einmal jede zweite Stelle könne adäquat neu besetzt werden. Der Erziehungswissenschaftler Klaus Klemm, der die Berechnungen angestellt hat, kommt auf 26 500 fehlende Lehramtsabsolventen. Die Kultusministerkonferenz (KMK) gibt die Lücke in ihrer gerade aktualisierten Prognose dagegen mit 9000 Berufsschullehrern an.
Laut Bertelsmann-Stiftung kommt die erhebliche Diskrepanz dadurch zustande, dass die KMK in den nächsten Jahren deutlich mehr Lehramtsabsolventen als gegenwärtig erwartet, was angesichts der heutigen Zahl der Master-Studenten selbst bei optimistischster Betrachtung kaum realistisch erscheine.
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) kritisiert die KMK-Vorhersage ebenfalls –
aber auf anderer Grundlage: 2030 würden
240 000 Jugendliche mehr an den Berufsschulen lernen als von den Ministern prognostiziert. "Um jetzt zusätzliche Lehrkräfte zu gewinnen, müssen die Länder den Lehrerberuf an berufsbildenden
Schulen wieder attraktiver machen", sagt GEW-Vorstandsmitglied Ansgar Klinger.
Ob die Qualität von Berufsschulen durch Quereinsteiger wirklich sinkt, lasse sich allerdings bislang nicht belegen, sagt der Berufsbildungsforscher Reinhold Nickolaus. "Hier fehlen aussagekräftige Studien, die zügig in Auftrag gegeben werden sollten."
Die KMK-Ausschussvorsitzende Petra Jendrich wiederum fordert Betriebe auf, die über einen Mangel an Auszubildenden klagen, nicht nur auf die Abiturienten zu schielen. "Man kann Ausbildungsreife auch in der Ausbildung herstellen." Mehr Berufsschullehrer würde das nicht zwangsläufig erfordern: Wer keine Lehrstelle findet, landet schließlich auch in den Berufsschulen.
Während Göbel seine Geschichte erzählt, sitzt er in Ronald Rahmigs Büro. Bis auf den ausgebauten Autositz auf Rollen, der am Fenster steht, ist der Raum des Schulleiters schmucklos. Rahmig, der Bluejeans, Kinnbart und Pferdeschwanz trägt, kann gut zuhören, er kann aber auch wortgewaltig räsonieren. Von der digitalen Revolution, die seine Berufsschule auf Sicht fahren lässt. Davon, dass sie nicht wissen, wie in 20 Jahren der Beruf aussieht, für den sie heute ausbilden. Weswegen das eigentliche Ziel darin bestehe, den Schülern das Selbstlernen zu lehren. Apropos Schüler: "Die eigentlichen Gemeinschaftsschulen", sagt Rahmig, "das sind wir Oberstufenzentren."
1800 seiner Schüler befinden sich in der dualen Ausbildung, etwa 20 Prozent von ihnen haben Abitur. Weitere 100 bereiten sich auf die Hochschulreife vor. Umgekehrt durchlaufen 200 Jugendliche die ebenfalls am OSZ angesiedelte Berufsvorbereitung, weil sie zum Teil ohne Abschluss von der Oberschule abgegangen sind oder trotz Abschluss keine Lehrstelle gefunden haben. "Unser Auftrag ist vor allem ein pädagogischer", sagt Rahmig. Warum Berufsschulen in der Öffentlichkeit so wenig Aufmerksamkeit erfahren? "Weil wir trotz allem gut funktionieren."
Alarmismus liegt Rahmig nicht. Auch dann nicht, wenn es um die wachsende Zahl der Quereinsteiger geht. Erstens seien die kein neues Phänomen. "Zweitens machen sie unsere Schule sogar besser." Jeder von ihnen bringe aktuelles technisches Know-how mit. "Wir wollen und brauchen sie", sagt Rahmig und präzisiert: "Solange die Mischung stimmt." Die gerate gerade aus dem Gleichgewicht, die Quote der Quereinsteiger am OSZ liege schon bei einem Viertel. Ihre Betreuung in den Jahren des Berufseinstiegs fordere das übrige Kollegium. "Während die Politik so tut, als sei die Qualifizierung nach dem Referendariat abgeschlossen, und den Rest unserem Engagement überlässt."
Viele Quereinsteiger brechen ab, weil sie überlastet sind, trotz der Ermäßigungsstunden, die sie erhalten. Auch Christian Göbel stand zweimal in Rahmigs Büro, hatte seine Kündigung im Kopf schon formuliert. "Herr Rahmig hat sie mir beide Male ausgeredet." Inhaltlich habe er selten Probleme, aber pädagogisch stoße er an Grenzen: "je nach Klasse mehrmals die Woche." Spaß macht ihm der Job dennoch, er erfülle ihn, diese Feststellung ist Göbel wichtig. Inzwischen erhalten Quereinsteiger in Berlin in ihrem Aufbaustudium Pädagogikkurse. Das war bei Göbel noch anders.
In seinem Laborunterricht liest der Junge mit dem Basecap stockend die Aufgabe vor. "Beim Startversuch bemerkte der Meister, dass die Leuchtwirkung der Kontrollleuchten merklich nachließ. Er führte das auf den Innenwiderstand der Batterie zurück." Göbel zeichnet an die Tafel, er motiviert und lobt seine Schüler, hin und wieder tadelt er auch, aber nie schleicht sich ein zynischer Unterton in seine Stimme. Einige schreiben fleißig mit, andere halten nicht einmal einen Stift in der Hand.
Göbels Chef wird später sagen, dass man die Unauffälligen nicht aufgeben darf, jene, die in Theoriephasen einen leeren Blick bekommen. "Womöglich sind die beim Batteriewechsel die Geschicktesten."
Dieser Artikel erschien zuerst in der Süddeutschen Zeitung.
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