Der Bologna-Prozess war die Gelegenheit, Studium und Universität ganz neu zu denken. Leider wurde sie vielerorts verpasst. Die Europäischen Universitäten bieten nun eine zweite Chance – wenn die Hochschulen zündende Ideen entwickeln. Sieben Thesen von Ulrich Grothus.
Foto: Silvia & Frank/Pixabay/cco.
IM SEPTEMBER 2017 hat der französische Staatspräsident Macron bei seiner programmatischen Rede zur Zukunft der Europäischen Union in der Sorbonne unter anderem vorgeschlagen, "Europäische Universitäten" zu schaffen. Anders als die meisten der anderen, größeren und kontroverseren, Vorschläge in Macrons Rede ist dieser einer Realisierung seitdem näher gerückt:
Am 28. Februar endet die Ausschreibungsfrist für vier bis sechs Pilotvorhaben, für die die Europäische Kommission in drei Jahren 30 Millionen Euro ausgeben will. Eine zweite Runde von Pilotvorhaben soll im nächsten Jahr folgen. Es geht dabei nicht um die Neugründung von Universitäten, sondern um Netzwerke von bestehenden Universitäten aus mindestens drei Ländern, die ganz neue Formen der Kooperation ins Werk setzen sollen.
Ulrich Grothus ist Präsident des europäischen Dachverbands nationaler Agenturen für Internationalisierung im Hochschulbereich (ACA). Bis Juni 2018 war er Stellvertretender Generalsekretär des Deutschen Akademischen Austauschdienstes. Foto: ACA/A. Büssemeier.
In der nächsten Generation des Erasmus-Programms (von 2021 an) sollen etwa 20 Europäische Hochschulnetzwerke gefördert werden. Von 150 bis 200 Millionen Euro jährlich ist die Rede. Zum Vergleich: Heute wird in Erasmus+ im Hochschulbereich etwas über eine Milliarde im Jahr ausgegeben. Schon jetzt haben sich mit Blick auf das Projekt eine Reihe von Hochschulkonsortien in Positur geworfen. Bisher kennt man freilich mehr Besetzungslisten als Drehbücher mit radikalen und innovativen Ideen, wie Europäische Hochschulen im 21. Jahrhundert aussehen könnten. Solche Ideen werden aber gebraucht, wenn Universitäten denn wirklich die Zukunft unserer Union mitgestalten sollen – und wenn man dafür eine Menge Geld ausgeben will, das bei bewährten Teilen des traditionellen Erasmus-Programms fehlen würde.
Die zündenden Ideen müssen aus den Hochschulen selbst kommen. Vielleicht können ein oder zwei der folgenden Thesen dabei anregen.
Zuerst, und fast trivial: auch "Europäische Universitäten" müssen zuallererst gute, möglichst exzellente Hochschulen in Forschung, Lehre und gesellschaftlichen Dienstleistungen sein.
Dabei können Sie sich, zweitens, auf die Vielfalt unseres Kontinents als Ressource stützen. Wir müssen, wie die Innovationszentren an den beiden Küsten Nordamerikas, Gewinn daraus ziehen, dass Menschen unterschiedlichster Herkunft gemeinsam lernen und gemeinsam forschen. Dazu gehören unbedingt nicht nur deutsche, französische und niederländische Perspektiven, sondern auch griechische, polnische und ungarische. Ein Aspekt der europäischen Vielfalt ist die Vielsprachigkeit. Macrons Erwartung ist vernünftig, dass alle Studierenden in Europa – erst recht diejenigen, die an einer europäischen Universität studieren – zwei Fremdsprachen so erlernen, dass sie damit beruflich und als Bürger kommunizieren können.
Forschung muss, drittens, auch in europäischen Hochschulnetzwerken eine zentrale Rolle spielen. Europäische Universitäten können und müssen nicht in allen Fächern und in Forschungsfeldern auf die gleiche Weise intensiv kooperieren. Erst recht nicht sollten sie ihre Forschungskooperation auf ihre Partner im jeweiligen Netzwerk beschränken. Es müssen also die Forschungsfelder identifiziert werden, wo die Bedingungen für Kooperationen in einem Netzwerk besonders gut sind und wo besonders großer Gewinn aus der Vielfalt der beteiligten Partner gezogen werden kann. Es wird darauf ankommen, Studierende mit ihren neuen, natürlich oft noch nicht ausgegorenen Ideen an Forschung und Innovation zu beteiligen.
Europäische Universitäten sind global,
nicht eurozentristisch
In jedem internationalen Kooperationsprojekt spielt, viertens, Mobilität eine zentrale Rolle. Unter einer Europäischen Universität stellt man – und ausdrücklich auch Präsident Macron – sich eine Hochschule vor, wo alle Studierenden von den Lehrangeboten in mehreren Ländern profitieren können. Nun kann man nicht einfach darauf vertrauen, dass sich die Studierenden ihr jeweiliges Curriculum schon aus dem Menü-Angebot der Netzwerk-Universitäten zusammensuchen werden. Die Vorstellung einer "automatischen Anerkennung" ist eine wundervolle Idee, aber keine funktionierende Praxis. Die Frage ist ja nicht nur, welche erbrachten Studienleistungen anerkannt werden, sondern vor allem: wofür. Es sind also Curricula und Studienorganisationsformen zu entwickeln, die mobile Studierende tatsächlich nutzen können und die wissenschaftlich Sinn machen.
Aber was macht nun, fünftens, ein Curriculum "europäisch"? Da gibt es öfter die Vorstellung, an Europäischen Universitäten müsste "die europäische Idee" oder "die europäische Identität" gelehrt werden. Für eine wissenschaftliche Einrichtung ist es aber unabdingbar, dass sie ihren Studierenden keine auch noch so begründete politische Position oder Idee vorschreibt und "beibringt". Sie muss ihnen vielmehr ermöglichen, über das Für und Wider politischer und sozialer Ideen und über die vielen möglichen Wege ihrer Ausgestaltung und Realisierung in einem offenen politischen Dialog zu diskutieren. Dazu müssen die Studierenden – nicht nur an "Europäischen Universitäten" – auch die nötigen positiven Kenntnisse erwerben, um sich als Berufstätige und als Bürger in der Europäischen Union, also im eigenen Gemeinwesen, zu bewegen. Sie müssen also außer mehreren europäischen Sprachen auch die europäischen Institutionen und die verschiedenen politischen Systeme ebenso kennenlernen wie die unterschiedlichen technischen Normen und die verschiedenen nationalen Fachkulturen.
Auch dabei dürfen wir aber, sechstens, unter dem Rubrum "Europäische Universität" keinen neuen Eurozentrismus zu etablieren. Europa braucht nach wie vor, trotz und sogar wegen der Krise, in der sich unsere Union befindet, junge Menschen, die sich in der ganzen Welt bewegen können. Wir brauchen Studien- und Forschungsmöglichkeiten, die für Studierende und Wissenschaftler aus der ganzen Welt attraktiv sind. Wir müssen europäische Universitäten ganz entschieden global konzipieren und nicht auf einer europäischen Insel.
Europäische Universitätsnetzwerke könnten schließlich, siebtens, auch neue curriculare Modelle entwickeln, die inhaltlich gar nichts mit Europa oder der europäischen Zusammenarbeit zu tun haben. Wir könnten zum Beispiel mehr dafür sorgen, dass Studierende auch weit jenseits ihrer eigenen Disziplin lernen: wie erhalten und vertiefen Studierende der Sozialwissenschaften eine naturwissenschaftliche und technische Allgemeinbildung, die für die Analyse und Behandlung zahlreicher gesellschaftlicher Fragen eigentlich unabdingbar ist.
Der Bologna-Prozess hätte eigentlich eine Chance geboten, wie sie nur einmal alle 50 Jahre vorkommt, Studium und Universität ganz neu zu denken. Diese Gelegenheit ist meist nicht ergriffen worden. Vielleicht eröffnet die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Europäischen Universitäten eine zweite Chance.
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