Der Mathematiker Jürgen Flachsmeyer über unnötig schlechten Unterricht, Lehrer, die nicht genügend Rücksicht nehmen – und Origami als Geheimtipp.
Foto: Anthony Jarrin / Pixabay - CCO.
Herr Flachsmeyer, Sie haben seit vielen Jahren eine Mission: Sie wollen zeigen, dass bei den meisten Menschen mehr Verständnis für Mathe erreicht werden kann. Warum ist Ihnen das so wichtig?
Es ist doch widersinnig: Die Mathematik und ihre junge Schwester Informatik sind mit unserer Geisteskultur, ja mit unserer gesamten aktuellen gesellschaftlichen Praxis aufs Engste verflochten, und doch empfinden viele Menschen den beiden gegenüber Abneigung oder, noch schlimmer, sogar Angst. Das kann mich als Mathematiker nicht kalt lassen.
Woher kommt denn diese Distanz zur Mathematik?
Der wichtigste Grund liegt meines Erachtens darin, dass die meisten Menschen der Welt vorwiegend emotional gegenübertreten und sich erst in zweiter Linie rational analytisch mit ihr auseinandersetzen. Bei diesem zweiten Schritt ist die Mathematik als die allgemeinste Strukturwissenschaft mit ihrer Methodik der eigentliche Kernpunkt. Ihre Verwurzelung im Abstrakten hat nur leider für viele Menschen von sich aus keine natürliche Anziehungskraft, sondern im Gegenteil sogar Abstoßungspotenzial.
Auch weil viele das Gefühl haben, schon immer eine Niete in Mathe gewesen zu sein.
Das sind Schutzbehauptungen. Sicher: Der Umgang und die Vertrautheit mit der Mathematik erfordern eine strikte Ausbildung und einen gehörigen Aufwand. Gleich den Künsten, die ebenfalls ein großes Übungspensum abverlangen. Doch das wäre für die meisten zu schaffen – wenn nicht die Unterrichtskultur für die Mathematik und die Naturwissenschaft in der Schule unter einem ernsthaften Mangel litte.
Wie würden Sie diesen Mangel beschreiben?
Wir müssen uns stärker um das Verstehen bei den Schülern bemühen, weil nicht Verstandenes abgewiesen wird. Doch viele Mathematiklehrer nehmen zu wenig Rücksicht auf die unterschiedlichen Denktypen. Langsame Denker werden fälschlich als weniger begabt eingestuft, man unterstellt ihnen eine geringere Leistungskraft. Mein Doktorvater war ein Beispiel für solch einen international sehr erfolgreichen, aber langsamen Denktypus. Er hatte Glück, gefördert zu werden, doch die meisten Schüler erfahren nicht diese Beachtung, sie erleben Misserfolge und wenden sich von der Mathematik ab. Der ausufernde Nachhilfe-Sektor ist ein beredtes Zeugnis vom Scheitern unseres Matheunterrichts.
Jürgen Flachsmeyer, 83, war über 30 Jahre lang Professor für Geometrie und Topologie an der Universität Greifswald.
Ist das nicht einseitig negativ dargestellt? Es gibt doch viele engagierte Mathelehrer, die hervorragende Arbeit leisten!
Ja, die gibt es. Aber im Kern vermiesen wir vielen Schülern die Mathematik und vergeuden noch dazu wertvolle Talente. Es gibt zahllose Familien, die unter den finanziellen Kosten der Nachhilfe leiden. Der gesellschaftliche Verdruss über die Mathematikschwäche junger Menschen ist groß. Die Bildungspolitiker müssten ernstlich aufgeschreckt sein.
Sind sie doch auch. Neulich hat zum Beispiel eine Kommission im Auftrag des Hamburger Bildungssenators umfangreiche Reformvorschläge für den Mathematikunterricht vorgelegt – mit bundesweit großer Beachtung.
Das ist ja sehr lobenswert, auf die praktische Umsetzung darf man gespannt sein. Doch auch wenn ich den Hamburgern natürlich Erfolg wünsche: In den meisten Ländern ist eher Verdrängung als Verarbeitung angesagt, und nicht nur die Politiker agieren so, wir alle tun es. Seit Jahrzehnten stellt beispielsweise die Bruchrechnung in Deutschland einen großen Stolperstein dar. In einer Talkshow machte sich neulich ein bekannter Moderator darüber lustig, dass man beim Teilen von zwei Zahlen den Schülern Widersinniges beibringe, weil 30 geteilt durch ½ das Resultat 60 ergibt. Es sei doch klar, dass beim Teilen von Quantitäten das Ergebnis einer Teilung kleiner als die Ausgangsgröße werde. "So etwas Unvernünftiges wie 30: (½) = 60 kann ich natürlich nicht erklären! In Mathematik war ich schon immer schlecht", verkündete er, und was machten die Zuschauer? Sie klatschten frenetisch.
In der Tat ist es gesellschaftlich salonfähig, seine schlechten Mathekenntnisse zum Besten zu geben. "Ich konnte noch nie richtig schreiben", so kokettieren Prominente dagegen selten.
Der Schriftsteller, Lyriker und Kulturkritiker Hans Magnus Enzensberger hat einmal mit Esprit die Kluft zwischen den großen Kulturleistungen der Mathematik und der herrschenden Mathematik-Ignoranz in der Gesellschaft beschrieben und sah selbst bei gebildeten Leuten "eine Art intellektueller Kastration". Man kann sie den Leuten vorwerfen oder sich fragen, wie sie mit unserer Lehrerbildung zusammenhängt. Ich habe zum Beispiel in meiner Forschung Mathematiklehrer der gymnasialen Unterstufe befragt, und die konnten oft auch nicht richtig erklären, wieso die Bruchrechnung zu dem eben zitierten Ergebnis kommt. Ich lasse an dieser Stelle nochmal Enzensberger sprechen: "Der Unterricht fördert letzten Endes den mathematischen Analphabetismus."
Kleiner Exkurs: Wie würden Sie denn die Lösung der Rechenaufgabe erklären?
Wenn a gleich 1 ist (aufgefasst als ein Ganzes) und b eine natürliche Zahl, so bedeutet der Stammbruch 1/b, dass man das Ganze in b gleichgroße Teile zu zerlegen hat. Damit kommt man durch Vielfachbildung zu den Brüchen a/b für die natürlichen Zahlen. Hingegen hat man das Teilen der Zahl a durch b im Falle, dass b kleiner als a ist, so aufzufassen: "Wievielmal steckt b in a drin?". Der Ausdruck "geteilt" kann also nicht immer im Sinne des Feststellens von Teilstücken aufgefasst werden! Im Grunde kommt es darauf an, dass man fleißig übt. Dass die Lehrkräfte einem dafür die Zeit lassen. Und eine Portion Kopfrechnen sollte man auch noch beherrschen, selbst im Zeitalter der Computer.
Ich gebe zu, die Erklärung muss ich mir auch nochmal in Ruhe durch den Kopf gehen lassen. Aber zurück zum Matheproblem unserer Gesellschaft. Ist das typisch deutsch?
Von wegen. Neulich bot ich im Rahmen einer Hochschuldidaktik-Tagung einen spontanen Workshop "Lebendige Mathematik" an, und es kam nur ein einziger Teilnehmer. Der war Professor an einer amerikanischen Universität und berichtete, dass dort ebenfalls die meisten Grundschüler die Mathematik mit Argwohn betrachten. Unsere Gesellschaft ist halt so: Man möchte mehr locker plaudern als konzentriert nachdenken. Das war zwischendurch mal anders.
Wann genau?
Nach dem Sputnik-Schock Ende der 1950er Jahre. Als der sowjetische Satellit Sputnik im Orbit piepte, legten die Vereinigten Staaten vor Schreck ein großangelegtes Mathematik-Programm auf. Erstrangige Forscher der Mathematik und mustergültige Pädagogen etablierten mit großem staatlichen Engagement eine tiefgreifende Neuordnung des Schulunterrichts. Dieser Enthusiasmus schwappte auch nach Europa. Leider hat man es damals übertrieben, so dass irgendwann die Überforderung einsetzte.
Und die führte wozu?
Der Mathematikunterricht kehrte zur alten Oberflächlichkeit zurück. Der Schulstoff in Mathematik sei heillos überladen, schimpfte zum Beispiel vor einigen Jahren ein bekannter Pädagoge bei einem Vortrag. Einer seiner konkreten Vorschläge lautete damals: Auf den Lehrsatz des Pythagoras über das rechtwinklige Dreieck könne man verzichten. Das stieß bei den anwesenden Eltern auf Zustimmung. Ich habe dagegengehalten.
Was haben Sie gesagt?
Ich sagte: Wir haben alle heute Morgen das elektrische Licht eingeschaltet. Damit wir das können, brauchte es ingenieurtechnisches Können und Wissen.
"Man braucht eine gewisse
Geisteskultur in der Gesellschaft"
Und die Schulen müssen die Grundlagen dafür legen, zum Beispiel indem sie die komplexen Zahlen vermitteln, die für die Berechnung von Energie und Schaltkreisen nötig sind. Doch müssen komplexe Zahlen in der Schule gar nicht mehr behandelt werden. Besagter Pädagoge sagte, für solche Dinge hätten wir doch "unsere Spezialisten". Aber auf welchem intellektuellen Mistbeet sollen die denn heranwachsen, bitte schön? Dazu braucht man eine gewisse Geisteskultur in der Gesellschaft und auf so einer elementaren Stufe wie dem Pythagoras keine Aussonderung von Spezialisten. Nicht jeder kann alles durchschauen, aber der Pythagoras ist ein Angelpunkt für die Ausmessung der Welt.
Das brauchen wir später nie wieder, ist tatsächlich so ein Satz, mit dem Schüler allzu komplexe Mathematikoperationen ablehnen.
Das mag ja sogar stimmen, doch in der Schulzeit brauchen sie es zum geistigen Training. Man muss später immer wieder objektiven Zwängen richtig begegnen können. Die erfordern ein logisch stringentes Vorgehen. Dieses muss man an konkreten, noch leicht überschaubaren Geistesdingen üben, ganz entsprechend wie im Sportunterricht. Dort übt man zum Beispiel Hochsprung, den man später in seinem Leben auch meist nicht mehr ausübt, aber man hat seinen Körper vorher zur allgemeinen Leistungsfähigkeit trainiert.
Inzwischen stößt die Digitalisierung in immer mehr Lebensbereiche vor. Welche Folgen muss das für den Mathematik-Unterricht haben?
Mathematik und Informatik müssen zum Allgemeingut einer guten Schulausbildung werden, sonst werden sich viele Menschen letztlich auf die Software ohne rechten Einblick verlassen und der Autorität der Computer blindlings vertrauen. Welche schädlichen Folgen das hat, können wir schon beim Umgang vieler Schüler mit ihrem Taschenrechnern beobachten. Der wird schon bei simplen Multiplikations- und Divisionsaufgaben herangezogen, und was dann auf dem Display steht, wird auch nach falschem Tastendruck in apodiktischer Gewissheit akzeptiert. Dabei würde oft eine einfache Überschlagsrechnung reichen, um misstrauisch zu werden.
Sie haben am Anfang gesagt, das Vermittlungsproblem der Mathematik liege in ihrer Verwurzelung im Abstrakten. Was könnte guter Mathematikunterricht dagegen tun?
Wir müssen die Schüler mit neuen Formen der Veranschaulichung gewinnen. Ein praktisches Beispiel ist die Verquickung von Origami, also traditionellen japanischen Papierfalttechniken, und der Mathematik. Auch die Verbindung von Gotik und Kreisgeometrie kann für Schüler spannende Einblicke bieten, motivieren kann sie, dass wir den Zusammenhang der Kunst von Leonardo da Vinci oder Albrecht Dürer mit der Elementargeometrie aufzeigen. Wir zeigen, wie die Mathematik konkret in unserem Kulturleben und in unserer Geschichte und Gegenwart wirkt und wie ästhetisch sie sein kann. Leider finden derartige Vorschläge in den Kultusministerien kaum Interesse.
Erklären Sie bitte das Origami-Beispiel noch etwas genauer.
Meine Grundhaltung ist: Durch mehr Verstehen kommt mehr Lernfreude, durch mehr Lernfreude kommt mehr Erfolg! Wie erreicht man mehr Verstehen? Durch die eigene Hand! Es gibt eine passende chinesische Spruchwortweisheit:
„Ich höre und vergesse, ich sehe und
erinnere mich, ich tue es und verstehe“
Das ist es. Wir müssen die Schüler zu Mithelfern im Lernprozess machen, und das gelingt zum Beispiel mit Origami. Form- und farbschöne Gebilde, die durch eigene Hände entstehen, schaffen Freude und eröffnen die Bereitschaft zur geistigen Verarbeitung. Schon vier Jahre alte Kitakinder können dessen Grundtechniken erlernen. Mit dem Schuleintritt müsste die handwerkliche Tätigkeit des Papierfaltens systematisch angepackt werden. In Japan ist dem so. Dort und in Israel setzt man Origami sogar für therapeutische Zwecke bei Inklusionskindern ein. Origami-Objekte sind flache und zugleich räumliche Figuren. In der fünften Klasse nimmt kommt dann die Mathematik der Figuren hinzu. Die Verquickung mit dem Papierfalten macht so manchen Schüler zum kleinen Entdecker. So kann aus der Pflicht die Freude quellen.
Sie fordern mehr Geduld mit den Schülern, mehr Zeit zum Üben und Wiederholen. Woher soll diese Unterrichtszeit kommen?
Die übliche Unterrichtszeit bietet in sich einen gewissen Vorrat, weil man bei Erfolg nicht mehr gegen so viel unverstandenes Wissen und unbeherrschtes Können anrennen muss. Außerdem öffnet sich eine Brücke zur Nachmittagsbeschäftigung und zu den Eltern, weil auch die nicht mehr so sehr vom mathematischen Tun der Schüler abgeschreckt werden, sondern zu einem Teil selber mittun können. Nochmal zum Origami: In Japan ist das Papierfalten eine moderne Haus- und Familienkultur.
Führt mehr Tiefe, die Sie fordern, nicht zu noch mehr Druck und Abneigung gegenüber der Mathematik?
Nein! Besseres Verstehen mindert den Druck.
Wie lange forschen Sie schon zum Thema Mathematik-Abneigung in unserer Gesellschaft?
Das bewegt mich schon seit meiner ganzen Berufsausübung und jetzt im Ruhestand.
Wie engagieren Sie sich persönlich für ein neues Verständnis von Mathematik und Matheunterricht?
Ich besuche Kongresse und Tagungen, aber viel wichtiger ist das praktische Engagement: Meine Frau und ich besuchen noch immer regelmäßig in den Matheunterricht nahe gelegener Schulen. Eine von Origami inspirierte Aufgabe, die ich den Schülern dann zum Beispiel stelle, geht so: Zuerst sollen sie ein Origami-Blatt zweimal nacheinander parallel zu den Kanten falten. Das Blatt hat, wenn man es wieder öffnet, vier kongruente Quadrate. Dann sollen die Schüler ein zweites Blatt nehmen und diagonal falten, wieder zweimal, so dass das wieder geöffnete Blatt in vier kongruente rechtwinklige und gleichschenklige Dreiecke unterteilt ist.
Grafik: Maike Bollmer.
Das klingt jetzt noch nicht so lebenspraktisch.
Abwarten. Nun sollen sich die Schüler vorstellen, dass wir zwei quadratische Tafeln Schokolade so aufgeteilt hätten. Wäre das fair? Hätte jeder der Schüler, an die eins der acht Stücke verteilt wurde, die gleiche Menge Schokolade bekommen? Mathematisch gesehen läuft die Frage darauf hinaus, ob alle Stücke den gleichen Flächeninhalt aufweisen. Das erscheint auf den ersten Blick nicht so, weil die dreieckigen Teile einen größeren Umfang haben. Aber in Wirklichkeit ist der Flächeninhalt tatsächlich gleich.
"Die Schüler haben das an
diesem Beispiel sofort intus"
Und das lässt sich sogar ganz leicht beweisen mit dem Verfahren „Siehe!“ Man zieht eine Zusatzlinie im Dreiecksteil und im Quadratteil. Dann sieht man, dass beide Teile jeweils aus kongruenten Teilen bestehen. Sie waren gewissermaßen nur anders zusammengelegt. Damit hat man den Schülern die Invarianz des Flächeninhaltes und auch automatisch die Invarianz des Volumens, der Masse gegen Formänderung dargeboten. Die Schüler haben das an diesem Beispiel sofort intus. Und solche Erklärungen bietet das Origami haufenweise!
Sie sind über 80. Was motiviert Sie, weiterzumachen?
Ich bin seit 2000 im Ruhestand und damit am Lebensabend meines Daseins. Ob mein Wissen noch für die Jugend genutzt werden kann? Das Entstehen einer Interessengemeinschaft von Eltern, Pädagogen, Studenten und Bildungsforschern in Sachen Mathematik via Origami ist mein Wunschtraum.
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David J. Green (Freitag, 25 Januar 2019 08:09)
Zum Kaffeetrinken sind mehr Gäste gekommen als erwartet, und ich habe nur 30 Stücke Kuchen bestellt. Wie viele Gäste kann ich mit Kuchen versorgen, wenn ich jedem Gast nur ein halbes Stück gebe?
Die Erkenntnis, dass Abstraktion ein recht hilfreiches Werkzeug ist, ist ein wünschenswertes ERGEBNIS des Schulbesuchs im Fach Mathematik: Sie darf nicht zu einer notwendigen Voraussetzung FÜR diesen Schulbesuch verkommen.
Klaus Diepold (Montag, 28 Januar 2019 11:51)
Die Mathematik wird oft als zu emotionslos dargestellt. Wenngleich die Mathematik wenig Emotionen beinhaltet, so sind es die Menschen die die Mathematik tragen, die Emotionen vermitteln.
Ich habe jahrelang im Rahmen von Mathenachhilfe im Freundes und Familienkreis die mathematischen Themen mit den Geschichten der Menschen verknüpft, die Matheamtik betrieben haben. Da sind so viel Blut, Schweiss und Tränen, aber auch Freude und Liebe enthalten, was den Mathemtikschülern ungeheuer hilft ihre Angst vor der Abstraktion zu verlieren.
Ich bin mal gespannt, ob die KollegInnen, die ständig ein Pflichtfach Informatik fordern die Sache besser angehen, damit Informatik nicht die Funktion als meistgehasstes Fach von der Mathematik übernimmt.
Vater (Montag, 28 Januar 2019 16:46)
Aus (ja) leidvoller eigener Erfahrung und nun der meiner Kinder komme ich leider zur Einschätzung, dass die Mathematik-Didaktik oft daran leidet, zu viel auf 'Verstehen' zu setzen. Klingt etwas paradox... aber gerade Kinder (so wie ich eines war), die in Mathe nicht sehr gut sind, haben oft Probleme, komplexe Herleitungen von mathematischen Phänomenen zu verstehen. Und einmal den Faden verloren, ist das nur schwer selbst zu erarbeiten. Mir hat auf dem Gymnasium letztlich ein altes Realschule Mathelehrbuch geholfen: da stand einfach nur drin, wie 'es' (Dreiecksberechnung, Ableitungen...) ging, klare Formeln, einige Beispiele, mehr nicht. Ich habe das immer als sehr viel einfacher zu verstehen erlebt als die komplexen Herleitungen, die sich auch in dem Artikel finden.
Laubeiter (Mittwoch, 30 Januar 2019 10:18)
"Unsere Gesellschaft ist halt so: Man möchte mehr locker plaudern als konzentriert nachdenken." Herr Flachsmeyer klingt wie ein Unzufriedener, der Wandel beklagt. Das Gespräch mit Flachsmeyer ist für mich deshalb lesenswert, weil überwiegend im journalistischen Plauderton handfeste Angaben vermittelt werden. Ich plädiere also für einen Matheuniterricht mit beidem, Plaudern und Konzentrieren.
tutnichtszursache (Donnerstag, 31 Januar 2019 02:32)
2 Aspekte:
1) es ist akzeptiert, zu sagen, „ich kann kein Mathe“. Das wäre noch nicht schlimm, würden die, die das sagen, nicht auch irgendwann daran glauben.
2) es stimmt aber nicht! (Fast) jede/r kann Mathe. Erfahrungen aus gegebener Mathenachhilfe: Irgendwo, irgendwann in der Schulzeit kam der Punkt, an dem jemand mental „ausstieg“. Da meist Weiteres darauf aufbaute, herrschte ab dann Unverständnis und Frust. Wenn man aber diesen Ausstiegspunkt in der Nachhilfe gefunden hatte und es gelang, das Verständnis nachzuholen, ließen sich mitunter ganze Schuljahre schnell aufholen.
bookofproofs (Sonntag, 01 September 2019 19:57)
Ich habe das Interview mit Prof. Flachsmeyer gerade entdeckt, ein paar Monate, nachdem es hier publiziert wurde. Ich gebe ihm in jeder Hinsicht recht! Ich selbst hatte Mathe vor 25 Jahren studiert und bin seitdem ebenfalls über den Matheunterricht, so wie ich ihn noch erlebt hatte und meine Kinder ihn jetzt erleben, äußerst frustriert. Ich hatte in der Schule sehr oft die Antwort auf das "Warum" vermisst. Diese Antwort hatte ich leider erst im Studium erhalten. Ich habe Mathematik eher zufällig als Studienfach gewählt, auf jeden Fall nicht, weil der Mathematikunterricht das notwendige Interesse dafür in mir geweckt hatte. Und das sagt schon alles über den Mathematikunterricht aus, so wie ich ihn erlebt hatte. Wie Prof. Flachsmeyer, finde ich, das Schulsystem sollte gerade mehr auf das Verstehen der Mathematik setzen und nicht auf das bloße Auswendiglernen von Rechenregeln und Formeln. Ich würde sogar noch eins draufsetzen: Neben dem Verstehen er Mathematik vermisse ich im Matheunterricht das Erlernen der Kompetenz, logisch zu denken. Diese Fähigkeit sollte in der Schule wie Lesen und Schreiben beigebracht werden. Daher setze ich mich selbst dafür im Internet ein, das Verstehen der Mathematik und die Fähigkeit, logisch zu denken und mathematische Beweise führen zu können, zu fördern. Leider ist meine Seite nur auf Englisch (https://www.bookofproofs.org), aber ich hoffe so, ein noch breiteres Publikum weltweit erreichen zu können, weil ich weiß, dass der Matheunterricht woanders als in Deutschland nicht viel besser ist.
Gerhard Storm (Freitag, 17 April 2020 19:29)
Flachsmeyer stimme ich in allen Punkten zu. Zu Recht legt er seine Hand in die mathematische Wunde, die vielen, ich vermute sogar dem Gros der Mathematik Lernenden in jungen Jahren zugefügt wurde. Mein eigener mathematischer Werdegang war glücklicherweise dadurch gekennzeichnet, dass ich bald merkte, dass Mathematik nicht verzeiht, wenn die mathematischen Regeln nicht verstanden wurden, der Mathematik-Lehrer aber dennoch - getrieben vom Lehrplan - zum Weitergehen im Stoff drängt. Um das dadurch regelmäßig für viele entstehende Abgehängtsein in Mathematik zu vermeiden, bedarf es eines großen Übungsaufwands, wie Flachsmeyer richtig erwähnt. Somit muss Mathematikunterricht eine Mischung sein von Verstehen aller erlernten mathematischen Vorgehensweisen u. Formeln einerseits u. fast stupider Einübung derselben mittels einer Vielzahl von Rechenbeispielen. Ich gehöre, Gott sei Dank, zudem noch zu jenen Schülern, die von ihren Lehrern fast täglich mit Kopfrechenübungen eingedeckt wurden. Die Übungen wurden aber so angenehm gestaltet, dass am Ende die ganze Klasse Kopfrechnung als eine Art Sport betrachtete u. selbst die Schwächeren nicht abschreckte. Später habe ich mir diverse Rechenvorteile, man kann auch sagen Tricks, angeeignet, welche das Rechnung ungemein erleichtern. So kann man mit solchen in Sekundenschnelle z.B. das Ergebnis folgender Multiplikationen nennen: 45x45, 95x95 u. ä.. Der Schnellrechentrick lässt sich leicht ermitteln, indem man die Multiplikation (10a+5)x(10a+5) durchführt. Übrigens, so mancher Mathematikgeschädigter hat meine Tricksereien zum Anlass genommen, sich nach vielen Jahren der mathematischen Abstinenz die Tricksereien zu verstehen. Leider machen fast alle Mathe-Lehrer keinen pädagogischen Gebrauch hiervon.