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"Die Praxis zieht auf der Überholspur an den Schulen vorbei"

Die Bildungsforscherin Kristina Reiss über den sinnvollen Einsatz digitaler Medien im Unterricht, den Einfluss von Bedenkenträgern und über Politiker, die zwar verstanden haben – jetzt aber auch mal Tempo machen müssen.

Foto: Wokandapix / Pixabay - cco.

Frau Reiss, namhafte Bildungsforscher haben unter Ihrer Federführung eine Stellungnahme zur "Schule in der digitalen Transformation" veröffentlicht. Steht da irgendwas Neues drin?

 

Wenn Sie im Thema sind, natürlich nicht. Aber mir scheint, manche Sachen kann man im Hinblick auf ihre politische Umsetzung nicht oft genug sagen. Wir sind seit Jahrzehnten dabei, immer neu und dringend auf die Digitalisierung zu reagieren. Wir reden davon, wie überfällig es wäre, digitale Medien in Schule und Unterricht zu nutzen, wann immer es sinnvoll ist, und am Ende passiert in der Regel viel zu wenig.

 

Die Stellungnahme ist als acatech-Impulspapier verfasst. Die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften hatte auch die Expertengruppe zusammengebracht, zu der neben Ihnen unter anderem Birgit Eickelmann, Hans Anant Pand und Olaf Köller gehören. Alles bekannte Namen im Forschungsgeschäft. Und deren Stimmen hatten bislang keine Durchschlagkraft?

 

Doch, denn die Erkenntnis, dass wir handeln müssen, ist ja angekommen. Auch in der Politik. Das belegt nicht zuletzt die Strategie "Bildung in der digitalen Welt", die die Kultusministerkonferenz vor zwei Jahren beschlossen hat. Wir scheitern oft am fehlenden Geld, klar. Aber am Ende scheitern wir auch an Bedenkenträgern. Wir scheitern auch am fehlenden Geld, klar. Es wird schwierig, wenn einflussreiche Leute lautstark warnen, mit der Digitalisierung zögen Industrieinteressen in die Schulen ein. Ich will die Lobbyismus-Gefahr gar nicht kleinreden, klar wittern Unternehmen ein Geschäft. Doch vor lauter Bedenken treten wir immerzu auf der Stelle.


Kristina Reiss ist Professorin für Didaktik der Mathematik an der Technischen Universität München, leitet dort seit 2009 den Heinz Nixdorf-Stiftungslehrstuhl für Mathematikdidaktik und ist seit 2014 Dekanin der TUM School of Education. Sie ist Vorstandsvorsitzende des Zentrums für internationale Bildungsvergleichsstudien, ZIB. Seit 2016 ist sie als Kuratorin des Deutschen Museums tätig. Foto: Astrid Eckert/TUM.



Mein Eindruck ist, wir treten eher auf der Stelle, weil die Politik sich Gefechte um verfassungsrechtliche Zuständigkeiten liefert, anstatt über die Inhalte der Digitalisierung zu reden. Heute trifft sich zum ersten Mal der Vermittlungsausschuss, der eine Lösung im Bund-Länder-Streit um die Grundgesetzänderung und den Digitalpakt bringen soll.

 

Ich finde es berechtigt, wenn Bund und Länder über ihre Zuständigkeiten streiten, wenn über verwaltungstechnische Fragen verhandelt wird, aber irgendwann sollte es dann auch einmal gut sein. Die Schulen in Deutschland sind in der Gefahr, international abgehängt zu werden. 

 

Das sagt sich so schnell. Können Sie das belegen? 

 

Die Empirie ist klar. Wenn Sie Deutschland mit anderen Ländern vergleichen, die eine ähnliche Wirtschaftsstärke haben, ist die digitale Ausstattung der Schulen anderswo deutlich besser. Ich führe an dieser Stelle gern Singapur an. Nein, Deutschland und Singapur sind kulturell nicht vergleichbar, 


Deutschland soll auch nicht Singapur werden. Aber die Selbstverständlichkeit, mit der digitale Medien dort in den Schulen zum Einsatz kommen, ist beispielhaft.

 

Das mag so sein. Aber wer sagt denn, dass es die Bildung wirklich besser macht, nur weil wir immer und überall Tablets und Smartphones einsetzen?

 

Das ist genau das Missverständnis, das uns zu schaffen macht. Der selbstverständliche Einsatz digitaler Medien bedeutet ja eben nicht, dass ich sie immer und ständig nutze. Sondern nur dort, wo sie einen Mehrwert bringen. 

 

Können Sie dafür ein Beispiel geben?

 

Ich habe in einer Klasse in Singapur beobachtet, wie Schüler die Wärmeleitfähigkeit erforschten. Zu Beginn stellte der Lehrer zwei Schüsseln hin, eine aus Plastik, eine aus Metall, in beide kamen Eiswürfel. Die Schüler gaben einen Tipp ab, in welcher Schüssel das Eis schneller schmilzt. Alles total analog. Dann aber haben sie auf ihren Tablets eine Simulation angesehen, was in den Schüsseln passiert. Verglichen wurde mit der realen Situation. Hypothesen entwickeln und sie dann überprüfen ist ein wichtiger Aspekt beim Lernen. Schauen Sie: Wenn Sie Kindern und Jugendlichen etwas erklären wollen, geht das über Anschauung, über Hands-On-Erfahrung viel besser, als wenn sie nur trocken erklären. Es bleibt dann einfach mehr hängen.

 

Also alles ist gut in den Schulen, sobald alle Schüler ein eigenes Tablet haben?

 

Das verlangt keiner. Die meisten Schülerinnen und Schüler haben zu Hause ihre eigenen Rechner, sie haben ihre Smartphones. Aber wenn Sie im Unterricht zielgerichtet zusammenarbeiten wollen, brauchen sie einen gemeinsamen Standard, sie brauchen kontrollierte Lehrmaterialien, damit die Lehrkräfte in der Hand haben, was gemacht wird. Dafür reichen wenige Tablet-Wagen pro Schule, die Sie von einem Klassenzimmer ins nächste schieben können.

 

Was bedeutet all das jetzt konkret? Welche Impulse geben Sie in Ihrem Impulspapier?

 

Wir möchten, dass die Kinder und Jugendlichen einen souveränen Umgang mit digitalen Medien lernen. Dass sie auch die dafür nötige Kritikfähigkeit entwickeln. Und das geht nur über praktisches Handeln, das geht nicht, wenn sie nur darüber reden.

 

Und was ist mit den Lehrern? Die besitzen diese Souveränität doch oft auch nicht.

 

Und darum ist die Fortbildung so entscheidend. Wir haben im vergangenen Jahr an der TU München eine Meta-Analyse gemacht, die klar zeigte: Der sinnvolle Einsatz digitaler Medien setzt voraus, dass die Lehrkräfte die notwendigen Kompetenzen haben. Die Länder müssen hier signifikant in die Fortbildung investieren.

 

Nur in die Fortbildung? Der Monitor Lehrerbildung hat vergangenes Jahr gezeigt, dass während alle von Digitalisierung reden, sie vielerorts immer noch ein Lehramtsstudium absolvieren können, ohne darin auch nur einmal mit dem Thema digitale Medien in Berührung gekommen zu sein.

 

Ich glaube, die Situation an den Universitäten ist mittlerweile nicht mehr so schlimm, wie solche Erhebungen befürchten lassen. Es mag zu wenig Lehrveranstaltungen geben, die sich von ihrem Titel her explizit, also für eine Studie auswertbar, mit digitalen Medien und deren Einsatz beschäftigen, aber natürlich gibt es sehr viele Vorlesungen und Seminare, in denen die Digitalisierung immer wieder Thema ist und auch praktisch behandelt wird.

 

"Die Situation in den Universitäten ist nicht mehr so schlimm, wie Erhebungen befürchten lassen"

 

In meiner Vorlesung stelle ich den Studierenden zum Beispiel eine App vor, die zum Bruchrechnen eingesetzt wird, und dann reden wir darüber, welche didaktischen Prinzipien in dieser App umgesetzt sind und welche nicht.

 

Also alles fein im Lehramtsstudium?

 

Nein. Wir brauchen mehr explizite Veranstaltungen zu digitalen Medien, eine Behandlung als Querschnittsthema allein wird nicht reichen. Zumal es den Studierenden so schwer gemacht wird, einen Überblick über den Stand der Technik zu gewinnen.

 

Anfangs sagten Sie, seit Jahrzehnten reden wir über das richtige Zusammenspiel von Digitalisierung und Bildung. Was macht Sie optimistisch, dass es jetzt doch mal richtig losgeht, dass der Unterricht sich in den nächsten Jahren grundlegend wandeln wird?

 

Weil die Realität da draußen die Schulen überrollt. Die Praxis außerhalb der Schule hat einen solchen Sprung gemacht, dass sich die Schule nicht mehr wird heraushalten können. Als es in den 70er Jahren um das Programmieren im Unterricht ging, hatte kaum ein Schüler einen Computer zu Hause. Noch in den 80ern und 90ern Jahren war der Einsatz von Rechnern eine stationäre Angelegenheit, auch wenn sie inzwischen zu Hause verbreiteter waren. Doch so richtig gewandelt hat sich der Alltag der Kinder und Jugendlichen wohl erst, seit jeder ein Smartphone hat.

 

Weil sich die Lösung jeder Schulaufgabe schnell mal googeln lässt?

 

Das ist die Herausforderung, die in jedem Klassenzimmer allgegenwärtig ist. Wikipedia ist immer dabei. Aber jetzt kommt etwas weiteres hinzu. Lange Zeit hatten wir einen Stillstand in der Forschung um die Künstliche Intelligenz, doch der KI-Winter ist vorbei, und es wird immer klarer, dass junge Menschen chancenlos sein werden auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft, wenn sie nicht zumindest ein Grundverständnis haben von den neuen Technologien, die da entstehen. Sie müssen auch ein anderes Bewusstsein für den Umgang mit ihren Daten bekommen.

 

Jetzt muss die Politik also nur noch mitziehen, trotz aller Bedenken und Bedenkenträger?

 

Die Praxis zieht auf der Überholspur an den Schulen vorbei, und das hat die politische Ebene verstanden. Ich habe ganz klar das Gefühl, dass das Thema nicht mehr halbherzig angegangen wird. Das zeigt ironischerweise ausgerechnet der Streit über unsere Verfassung und um den Digitalpakt überdeutlich. Jetzt müssen Bund und Länder eigentlich nur noch das Tempo erhöhen.

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