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Bestrafung als Teil des Protestes

Warum Verweise und Bußgelder den Klimademonstrationen nützen. Ein Gastbeitrag von Stefan Kühl.

Climate Strike – Schulstreik in Berlin. Foto: Leonhard Lenz / Wiki / cco - 1.0.

DIE ERSTEN SCHULLEITUNGEN verkünden, dass sie zukünftig Bußgelder gegen Eltern durchsetzen werden, die ihre Kinder nicht an der Teilnahme der Klimademonstrationen hindern. Bei aller Sympathie für die Sache ‒ so der Tenor ‒ könne man nicht dulden, dass die Schulpflicht an Freitagvormittagen faktisch außer Kraft gesetzt werde. Wenn Schüler protestieren wollen, sollten sie dies bitte in ihrer unterrichtsfreien Zeit machen.

 

Dabei wird übersehen, dass der Erfolg der Klimaproteste damit zusammenhängt, dass diese als Streik während der Unterrichtszeit stattfinden. Erst dadurch, dass Schüler sich punktuell der Schulpflicht verweigern, erhalten sie überhaupt öffentliche Aufmerksamkeit. Sie verfügen damit über Protestmöglichkeiten, die den Studenten, die diese Demonstrationen unterstützen, nicht in gleicher Weise zur Verfügung stehen, weil sich letztlich niemand dafür interessiert, ob sie an einem Freitag an einer Vorlesung beziehungsweise Übung teilnehmen oder nicht.

 

Die Schüler nutzen dabei für ihre Proteste geschickt aus, dass sie zu den wenigen Gruppen gehören, die noch mit Zwang zur Mitgliedschaft in einer Organisation verpflichtet werden. Dass die Schulpflicht ursprünglich nicht wegen lernresistenten Schülern, sondern wegen Eltern eingeführt wurde, die ihre Kinder lieber zum Arbeiten als zum Unterricht schicken wollten, ändert nichts daran, dass die Schüler durch die Missachtung der Schulpflicht einen außergewöhnlich effektiven Hebel haben.


Stefan Kühl ist Professor für Soziologie an der Uni Bielefeld und forscht über Organisationen mit Zwangsmitgliedschaften.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Foto: privat.



Die Prinzipienfrage

 

Nachdem die Proteste anfangs weitgehend ignoriert wurden, werden Verantwortliche jetzt zunehmend unruhig. Dabei ist klar, dass es bei den Bestrafungen nicht um den konkret verpassten Unterricht geht. Es gehört ein erhebliches Maß an Fantasie dazu, zu glauben, dass zwei verpasste Stunden Mathematik, Biologie oder Geografie an einem Freitag verhindern, dass aus einer Schülerin eine zukünftige Ingenieurin für alternative Antriebstechniken oder eine auf Klimawandel spezialisierte Meteorologin wird. Das Gegenteil trifft zu. Bekanntermaßen hat ein Engagement in Protestbewegungen eine motivierende Wirkung auf die Berufswahl, die selbst von sehr guten Lehrern nur schwer zu erzielen ist.

 

Man braucht sich bloß die Juristin anzuschauen, deren Berufswahl auf Erfahrungen mit Polizeigewalt im Zuge von Friedensdemonstrationen zurückgeht, den in der Umweltbewegung sozialisierten Ingenieur, der alternative Techniken der Färbung von Kleidung entwickelt oder die Schriftstellerin und Politikerin, die darin Möglichkeiten sieht, ihre in nationalistischen Bewegungen gesammelten Erfahrungen zu einem Beruf zu machen.

 

Der Grund für die Sensibilität mit der einige Schulleiter aber auch Politiker auf die Klimastreike reagieren, ist ein anderer. Die offene Verweigerung der Schulpflicht stellt in der Wahrnehmung die formale Ordnung der Schule insgesamt in Frage. Organisationen reagieren generell sensibel, wenn Mitglieder sich offen weigern, auch nur eine Anweisung, eine Regel oder eine Aufforderung auszuführen. Wer auch nur "einer Vorschrift aus Prinzip die Anerkennung verweigert", so schon der Soziologe Niklas Luhmann, rebelliert nicht nur gegen diese eine Vorschrift, sondern "gegen alle formalen Erwartungen" der Organisationen.

 

Man kann diese Sensibilität gegen einzelne Verweigerungen wie durch ein Brennglas bei Armeen mit Wehrpflicht beobachten. Die explizite Aussage eines Soldaten, dass er nicht bereit sei, den Hof zu putzen oder sich am Exerzieren zu beteiligen, löst nicht deswegen erhebliche organisatorische Unruhe aus, weil ein sauberer Kasernenhof eine Grundbedingung für eine erfolgreiche Kriegsführung ist, sondern weil die Ablehnung auch nur dieser einen kleinen Anweisung als Rebellion gegen alle formalisierten Erwartungen der Organisation interpretiert werden muss und dadurch die Fähigkeit der Armee zur Kriegsführung abnimmt.

 

Intelligenter Umgang mit Verweigerung

  

Deswegen bilden gerade Organisationen, die ihren Mitgliedern nicht die Wahl lassen, in der Organisation zu verbleiben oder diese zu verlassen, ein hohes Maß an Intelligenz aus, um mit Regelverstößen umzugehen. Man zieht die Verantwortung für die Regelverstöße nicht sofort in der Zentrale zusammen, sondern überlässt die Handhabung der Verstöße den unmittelbar Vorgesetzten. Diese können dann selbst überlegen, ob sie die Verstöße überhaupt zur Kenntnis nehmen, vorgeschobene Entschuldigungen akzeptieren oder offiziell Bestrafungen aussprechen, die aber faktisch weitgehend wirkungslos bleiben.

 

Insofern ist es vermutlich eine kluge Politik der Kultusministerien, den Schulen keine rigide Vorgehensweise gegen die Streikenden vorzuschreiben, sondern es den einzelnen Schulen selbst zu überlassen, wie sie mit den fehlenden Schülern umgehen wollen. Dabei wählen die meisten Schulen aus guten Gründen eine Vorgehensweise, die auf den Einsatz des zur Verfügung stehenden Bestrafungsapparats verzichtet, gleichzeitig aber die auf der Schulpflicht basierende formale Ordnung aufrechterhält.

 

Das Fehlen von Schülern wird zwar nicht offiziell erlaubt, aber stillschweigend geduldet, Fehlstunden können durch die Beteiligung an Diskussionen über Klimaschutz kompensiert werden oder es werden Verwarnungen ausgesprochen und dabei mitkommuniziert, dass aus diesen keine Konsequenzen folgen werden.

 

Die Beatmung der Protestbewegung

  

Wir wissen, dass Protestbewegungen – man denke nur an die Friedensbewegung, die Frauenbewegungen oder auch nationalistische Bewegungen – nach einer gewissen Zeit in sich zusammenfallen. Sicherlich, das Ergebnis von Protestbewegungen ist die Bildung professionell organisierter Lobbyorganisationen und die Entstehung von Parteien, die das Thema in die Parlamente treiben. Aber die Protestbewegung selbst – und das scheint fast ein ehernes Gesetz von Bewegungen zu sein – verliert zunehmend an Bedeutung und ist irgendwann kaum noch in der Lage eine nennenswerte Anzahl an Personen für ihre Proteste zu mobilisieren.

 

Eine rigide Vorgehensweise gegen Protestbewegungen wirkt für diese jedoch wie eine permanente Beatmungsmaßnahme. Insofern tragen Politiker, die harte Bestrafungen der Protestierenden fordern, und Schulleiter die alle rechtlich möglichen Wege die Schulpflicht durchsetzen, nutzen, entscheidend zum anhaltenden Erfolg dieser Protestbewegung bei.

 

Den größten Gefallen, den Politiker und Schulleiter den Schülern tun könnten, wäre die Bestrafungen weiter eskalieren zu lassen. Insofern können die protestierenden Schüler nur hoffen, dass bald die ersten von ihnen aufgrund ihrer Proteste aus der Schule entfernt, die ersten Eltern zu Bußgeldern verurteilt und die ersten Politiker über Beugehaft gegen Schüler oder Eltern zur Durchsetzung der Schulpflicht phantasieren würden.

 

Eine Kurzfassung dieses Beitrags strahlte heute Morgen das Deutschlandradio aus. 

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Kommentare: 2
  • #1

    Udo Michallik (Sonntag, 28 April 2019 12:35)

    Das können wir so sehen. Es gibt nicht wenige, die die Sichtweise von Stefan Kühl teilen. Das kann ich respektieren. Aber wie immer im Leben hat jede Medaille zwei Seiten und nicht immer ist Komplexitätsreduktion tauglich als Maßgabe für politisches Handeln. Darum soll es in der Erwiderung gehen.

    Stefan Kühl streift diese Seite nur kurz, indem er auf den eigentlichen Wert der Schulpflicht abhebt, diesen Wert aber gleich wieder beiseiteschiebt und das Recht auf Protest als Mittel der Aufmerksamkeitsakquise über die Schulpflicht stellt. Ich möchte nur der Vollständigkeit wiederholen, bekräftigen und betonen: Die Schulpflicht ist ein Mittel zur Durchsetzung des Rechts auf Bildung für alle! Und: Der Wert dieses Rechtes oder der Anspruch darauf ist nicht verwirkt, wenn Mann oder Frau sich der Pflicht entziehen. Das zeichnet die Besonderheit des Rechts auf Bildung für alle aus. Daran muss sich der Staat und seine Repräsentanten im täglichen Handeln messen lassen. Im Amtseid von Ministern und Beamten heißt es in der Regel (nach Art. 56 GG): „Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde.“ Dem angelehnt sind die Amtseide der Landesminister und Beamten. Hier heißt es ausdrücklich: „das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes [der Länder, d. Verf.] wahren und verteidigen, …“. Es steht da nicht: „die Gesetze zu dehnen und zu interpretieren bzw. nach Sachlage auszulegen …“. Darum reagieren Organisationen so sensibel, wie Stefan Kühl es hervorhebt. Würden sie es nicht machen, in diesem Fall der Staat selbst, so nähme er sich und die Grundlage seines Handelns – die Gesetze – nicht ernst. Ich mag an diesem Beispiel nicht dramatisieren, aber es hätte ein Hauch von Anarchie und die ist bekanntlich das Gegenteil von Rechtsstaatlichkeit.

    Ich habe mich in der ZEIT vor einiger Zeit mit Thomas Kerstan und seiner Sicht auf den Unterrichtsausfall an unseren Schulen auseinandergesetzt. Hier kommt Stefan Kühl gerade richtig und sagt: „Es gehört ein erhebliches Maß an Fantasie dazu, zu glauben, dass zwei verpasste Stunden Mathematik, Biologie oder Geografie an einem Freitag verhindern, dass aus einer Schülerin eine zukünftige […] wird.“ Es sind ja nicht nur zwei Stunden, wenn jeden Freitag demonstriert wird. Das nur am Rande. Danke, sage ich und werde den Kultusministerinnen und -ministern diese Erklärung zur Beantwortung jeder Kleinen Anfrage der jeweiligen Oppositionsfraktionen hinsichtlich des Unterrichtsausfalls als Blaupause zur Verfügung stellen. Das ist doch aber das berühmte Paradoxon unserer satten Gesellschaft, für die das Recht auf Bildung glücklicherweise ein selbstverständliches Recht ist. Das gleiche libertäre und elitäre Bildungsbürgertum, das den Unterrichtsausfall als Todsünde der Bildungsbürokratie geißelt, fordert heute das Recht auf Protest in der Unterrichtszeit für oder gegen was auch immer ein. Übrigens ein treffliches Bild und Synonym für die öffentliche bildungspolitische Debatte überhaupt, die in ihrer Widersprüchlichkeit oft nicht zu überbieten ist.

    Und nun komme ich zur unerhörten Schlussfolgerung (Quadratur des Kreises) und nähere mich - och, wie langweilig - Stefan Kühl wieder an. Dabei verzichte ich mit Blick auf die Länge der Erwiderung auf einen Exkurs über die zahllosen partizipativen Möglichkeiten in unserer Demokratie, die genauso widersprüchlich wahr- oder eben nicht wahrgenommen werden (sind auch langweiliger und weniger aufregend als am Freitag während der Unterrichtszeit anarchisch und laut zu demonstieren). Wir sollten von den politischen Verantwortlichen und den Lehrern einfordern, dass sie die Schulpflicht durchsetzen. Das ist ihre Aufgabe, die wir ihnen qua Grundgesetz und Gesetze der Länder übertragen haben. Anstatt sich viele der Protestbewegung anbiedern, die Verletzung der Schulpflicht als Lappalie abtun, sollten die Gleichen diese Kraft und Fantasie dafür einsetzen, die Forderungen der Schülerinnen und Schüler ernst zu nehmen. Dass die berechtigt sind, hat niemand in Frage gestellt.

  • #2

    Christopher Temt (Dienstag, 30 April 2019 10:27)

    Mag sei, dass rigide Politiker zum Erfolg helfen, aber die wahren permanente Beatmungsmaßnahme erfolgen durch von den Eltern verursachten Naturkatastrophen, wie das Verschwinden des letzten Gletschers in Deutschland so um 2030 oder der Eisbären am Nordpol, die Hitze- und Dürrewellen in der Landwirtschaft, usw.

    Diese Protestbewegung hat für mich eine andere Qualität als zB die 68-Bewegung der Eltern, denn es dreht sich nicht nur um unterschiedliche Ideen und Vorstellungen über die Gestaltung der Gesellschaft, sondern um die Aufrechterhaltung ihrer ökologischen Basis, um eine gesundende Umwelt als Voraussetzung für ein würdiges Leben.