Die Bundesregierung hatte dem Bundestag neue Berechnungen zu den Erstakademikern in den Begabtenförderwerken vorgelegt. Die stimmten aber nicht.
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MICHAEL MEISTER ÄUSSERTE sich zufrieden. Die von den Begabtenförderwerken ergriffenen Maßnahmen hätten "zu einer sichtbaren Veränderung der Zusammensetzung der Geförderten geführt", antwortete der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesbildungsministerium auf eine Kleine Anfrage der FDP-Fraktion.
Und der CDU-Politiker Meister präsentierte Zahlen: Zwischen 2010 und 2017 sei der Anteil der neu aufgenommenen Stipendiaten aus Nicht-Akademikerhaushalten von 29 auf 35,6 Prozent gestiegen. Ein beeindruckendes Wachstum.
Allerdings hatte die Sache einen Haken: Das Bundesbildungsministerium hat sich verrechnet. Herausgefunden hat den Irrtum das Büro des FDP-Bildungsexperten Jens Brandenburg, dem die vom BMBF gelieferten Werte irgendwie komisch vorkamen. Brandenburgs Leute unterzogen die aktuellen Angaben des Ministeriums mithilfe weiterer Zahlen, die das BMBF zuvor geliefert hatte, einem Logik-Check. >>
Wer fördert wen wie?
Die 13 Begabtenförderwerke unterstützen besonders leistungsstarke Studierende "finanziell und ideell". Das bedeutet, dass die Geförderten abhängig vom Einkommen der Eltern analog zum BAföG derzeit bis zu 735 Euro monatlich erhalten. Einkommensunabhängig bekommen alle Stipendiaten im Monat 300 Euro als Studienkostenpauschale ausbezahlt. Der ideelle Teil der Förderung besteht in Seminaren, Summer Schools und individueller Betreuung und Coachings. Den weitaus größten Teil der Kosten trägt der Bund, einen kleineren Teil übernehmen die Länder.
2017 nahmen die Förderwerke 6700 neue Studenten als Stipendiaten auf, insgesamt befanden sich in dem Jahr knapp 30.000 Studenten in der Förderung, zusätzlich wurden rund 4000 Doktoranden gefördert. Am größten ist die überparteilichen und überkonfessionelle Studienstiftung des Deutschen Volkes mit fast 1200 Neuaufnahmen.
Die übrigen Förderwerke stehen den im Bundestag vertretenen Parteien nahe oder den Religionsgemeinschaften. Es gibt auch die Stiftung der Deutschen Wirtschaft und die zum
Deutschen Gewerkschaftsbund gehörende Hans-Böckler-Stiftung. Das BMBF betont, dass herausragende Studienleistungen bei der Aufnahme genauso wichtig seien wie gesellschaftliches und soziales Engagement. Soll heißen: All das muss zusammenkommen, bevor eine Förderung in Frage kommt. Die Betonung der akademischen Leistungen unterscheidet die Förderwerke in dieser Intensität vom Deutschland-Stipendium.
Das hat die Bundesregierung 2011 eingerichtet. Es soll zwar auch "begabte und leistungsfähige" Studierende erreichen, doch spielt hier das gesellschaftliche Engagement eine noch größere Rolle. Als die damalige Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) das Deutschland-Stipendium startete, beschwor sie eine "neue Stipendienkultur in Deutschland". Die Stipendien in Höhe von 300 Euro monatlich werden zur Hälfte von privaten Geldgebern, Wirtschaftsunternehmen, Stiftungen oder Vereinen finanziert. Die Hochschulen entscheiden allein über die Auswahl, doch die privaten Mittelgeber können "beratend" mitwirken. Derzeit gibt es rund 26.000 Deutschland-Stipendiaten.
>> Das Ergebnis: 2010 waren nicht 29 Prozent der Neu-Stipendiaten sogenannte Erstakademiker, sondern bereits 33,7 Prozent. Und unter den gleichen Bedingungen fortgeschrieben ergibt sich für 2017 ein Wert von 35,2 Prozent. Womit das beeindruckende Wachstum in diesem Zeitraum von über sechs auf unter zwei Prozentpunkte zusammenschmilzt. Schaut man noch genauer in die Zahlen, erkennt man sogar, dass der Anteil der Erstakademiker nach einem zwischenzeitlichen Wachstum auf 38 Prozent (2012) in den vergangenen Jahren leicht gefallen ist.
Jens Brandenburg spricht von einer "verzerrten Auswertung" durch einen "flüchtigen Rechenfehler" im Ministerium. "Die Entwicklung ist gar nicht positiv", sagt der Oppositionspolitiker. "Die Maßnahmen der Bundesregierung haben in diesem Sinne eben nicht zu einer sichtbaren Veränderung der Zusammensetzung der Geförderten beigetragen."
BMBF räumt Irrtum ein
Auf Nachfrage bestätigt das Ministerium von Anja Karliczek: "Bei der Überprüfung der Berechnung mussten wir leider feststellen, dass ein Fehler vorliegt, der auf einem Büroversehen beruht." Das BMBF werde die Angaben gegenüber dem Bundestag korrigieren, verspricht eine Sprecherin, die aber auf eine weiterhin "leichte Steigerung" von 2010 bis 2017 verweist.
Staatssekretär Meister bekräftigt in einem neuen Statement, ein Studium solle nicht an finanziellen Hürden scheitern. "In Deutschland soll sich jeder frei für einen Ausbildungsweg entscheiden können, unabhängig vom Einkommen der Eltern oder davon, ob die Eltern studiert haben oder nicht." Mit der im Kabinett beschlossenen BAföG-Novelle wolle man mehr Studierende erreichen. Die Begabtenförderung ziele auf die Förderung von "besonders herausragenden, begabten Studierenden. Das BMBF unterstützt die Begabtenförderungswerke dabei, stärker auch auf Studierende aus nicht-akademischen Elternhäusern zuzugehen".
Eine merklich andere Tonalität als zu vor. Jens Brandenburg setzt derweil die 35,2 Prozent Erstakademiker-Quote bei den Förderwerken in Bezug zu der sozialen Zusammensetzung der durch das sogenannte Deutschland-Stipendium geförderten Studierenden. Von diesen stammen 48 Prozent aus Nicht-Akademikerhaushalten, was ein ziemlich genaues Abbild der Gesamtstudierendenschaft ist.
Die Frage ist allerdings, ob dieser Vergleich nicht wiederum ein wenig hinkt. Denn wie Meister ausführt, ist die Zielgruppe der Begabtenförderwerke eben eine besondere: die extrem leistungsstarken Studierenden. Beispiel Studienstiftung, das mit Abstand größte Begabtenförderwerk. Gut 30 Prozent ihrer Neu-Stipendiaten stammten in den vergangenen Jahren aus Familien, in denen die Eltern nicht studiert hatten. Ist das ein schlechter Wert?
Nicht, wenn man weiß, dass 30 Prozent auch der Anteil ist, den Erstakademiker unter den fünf Prozent Abiturienten mit den besten Abschlussnoten erreichen. Es gibt also eine soziale Schieflage, aber sie entsteht – wie so oft – bereits vor dem Studium. Und der Studienstiftung gelingt es immerhin, sie nicht noch größer werden zu lassen.
Deutlich wird aus den aktuellen Zahlen des Begabtenförderwerkes auch die Aufholjagd, die die Studienstiftung in den Jahren nach 2007 hingelegt hat. Damals stammten lediglich 21 Prozent der in die Förderung aufgenommenen Studierenden aus Nicht-Akademikerhaushalten, wofür die Studienstiftung viel Prügel einstecken musste. Woraufhin sie ihre Aufnahmeprozeduren veränderte – und die Zahl der Nicht-Akademiker in wenigen Jahren um fast die Hälfte steigerte.
Was die Studienstiftung alles unternommen hat
So wurde die Aufnahmekommissionen heterogener zusammengesetzt, die Kommissionsmitglieder werden vorab in Seminaren auf die geringere Aufnahmechance von Erstakademikern hingewiesen und, wie die Studienstiftung es formuliert, "für Stereotype und Beobachterverzerrungen sensibilisiert". Zudem wurde einigen Organisationen, die sich besonders um Chancengerechtigkeit bemühen (die START-Stiftung zum Beispiel), ein Extra-Vorschlagsrecht eingeräumt. Ein Botschafterprogramm schickt Stipendiaten in die Schulen, um Schülern, Lehrern und Schulleitern die Möglichkeiten in der Studienstiftung zu erklären. Und schließlich können sich Studierende seit 2010 über einen Auswahltest selbst bewerben und müssen nicht mehr auf einen Vorschlag warten.
Trotzdem sähen sie bei der Studienstiftung Bereiche, wo noch Luft nach oben sei, sagt Generalsekretärin Annette Julius. Ostdeutsche Gymnasien machten seltener Gebrauch von ihrem Vorschlagsrecht als westdeutsche. Und: "Zu viele junge Menschen nutzen trotz Vorschlag die Chance auf eine Bewerbung nicht." Beide Probleme, sagt Julius, erwiesen sich allerdings trotz spezieller Maßnahmen als "erstaunlich hartleibig".
Und doch erscheint es vor dem Hintergrund des bemerkenswerten Aufholprozesses nicht mehr so erstaunlich, dass die Entwicklung bei allen Förderwerken insgesamt in den vergangenen Jahren
stagnierte. Zwar ist mit dem Avicenna-Studienwerk für muslimische Studierende und Doktoranden 2014 ein neues Förderwerk hinzugekommen, das mit zuletzt knapp 80 Prozent einen besonders hohen
Erstakademiker-Wert erreicht, doch ist es zahlenmäßig zu klein, um bei den Gesamtzahlen spürbar ins Gewicht zu fallen.
Insofern hat Michael Meister mit seiner ursprünglichen Einschätzung auch irgendwie Recht: All die Maßnahmen haben gefruchtet. Allerdings größtenteils bereits vor 2010. Jens Brandenburg wiederum gebührt Lob: Er hat die Aufgabe eines Oppositionspolitikers, die Regierung zu kontrollieren und zu hinterfragen, in diesem Fall hervorragend ausgefüllt. Ein weiteres merkliches Wachstum bei den Erstakademikern in den Begabtenförderwerken wird es wohl erst dann geben, wenn sie auch bis zum Abitur besser gefördert werden. So dass ihr Anteil unter den Abiturbesten endlich auf ein akzeptables Niveau steigt.
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Florian Bernstorff (Donnerstag, 02 Mai 2019 11:16)
Die Zahlen verwirren mich etwas. Der Anteil an Erststudierenden unter allen Studierenden müsste doch Schwankungen unterworfen sein (und angesichts der derzeitigen Bildungsdemografie tendenziell über die Zeit immer weiter sinken). Lässt sich Erfolg oder Misserfolg dann tatsächlich an der absoluten Quote der Erstakademikerinnen* überhaupt messen? Müsste nicht eigentlich der Anteil der Stipendiatinnen an der Gesamtzahl der Erstakademiker ins Verhältnis zur Gesamtförderquote gesetzt werden, um Unter- oder Überrepräsentanz dieser Gruppe in den Förderwerken beurteilen zu können?
(*männliche und weibliche Bezeichnungen sind willkürlich gesetzt)