Die Kultusministerkonferenz hat im Moment gleich zwei Probleme auf einmal: Mal wieder gibt es Ärger ums Abi. Und von der Öffentlichkeit fast unbemerkt scheren zwei Länder aus einer gemeinsamen Vereinbarung aus. Was hat zu all dem KMK-Präsident Alexander Lorz zu sagen? Ein Gespräch.
R. Alexander Lorz. Foto: Kultusministerium Hessen.
ALEXANDER LORZ IST dieses Jahr Chef der Kultusministerkonferenz (KMK). Doch im Augenblick ist Lorz, im Hauptberuf Hessens Kultusminister, froh, dass sein Bundesland in KMK-Angelegenheiten nicht immer zu den Vorreitern zählt. "In Hessen haben die Schüler schon vor Ostern ihr Abitur geschrieben, weil wir uns an dem bundesweiten Abiturtermin bislang nicht beteiligen", sagt er. "Wir wählen zwar auch Aufgaben, die aus dem gemeinsamen Pool stammen, aber aufgrund des eigenen Prüfungstermins teilen wir diese nicht mit anderen Ländern."
Weshalb Lorz auch nicht das Rechtfertigungsproblem teilt, das die meisten seiner Ministerkollegen gerade haben: Weil sie das diesjährige Mathe-Abi zu schwer fanden, hatten zuerst bayerische Abiturienten eine Online-Petition gestartet, die mittlerweile rund 71.000 Unterschriften erhielt. Die Schüler in anderen Bundesländern, die wie die Bayern am 3. Mai, dem bundesweiten Termin, ihre Prüfungen abgelegt hatten, folgten mit jeweils eigenen Aktionen, allerdings auch mit deutlich geringerer Unterschriftenzahl. Ihre Forderung war immer die gleiche: Die Benotung müsse hochgesetzt werden.
Das Medienecho war gewaltig, jeder hatte dazu eine Meinung und äußerte sie auch. Die Empörung wuchs, und immer wieder wurde gefragt: Wo kamen die von Schülern im Freistaat kritisierten Geometrie- und Stochastik-Aufgaben her?
Eine brisante Frage, weil sich die Bundesländer auf den Weg zu einem vergleichbaren Abitur gemacht haben und seit 2017 ein Teil der Aufgaben in den Hauptfächern aus einem gemeinsamen Pool stammt. Mehr noch: Fast alle Bundesländern wählen für den gemeinsamen Teil exakt dieselben Poolaufgaben, weshalb sie auch die Abi-Klausurtermine angeglichen haben. Fast alle Länder. Nur Rheinland-Pfalz nicht. Und Hessen.
Inzwischen ist laut Kultusministerkonferenz zwar klar, dass zumindest die im Freistaat kritisierten Aufgaben nicht aus dem Pool kommen, sondern offenbar rein bayerische Urheber haben.
Trotzdem bricht der KMK-Präsident nicht gerade in Begeisterungsstürme aus, wenn man ihn nach dem Aufgabenpool fragt. Auch "wir in Hessen werden wahrscheinlich irgendwann" auf den gemeinsamen Termin einschwenken, dann werde man auch teilweise dieselben Abituraufgaben anwenden wie die anderen Länder. "Aber", fügt Lorz hinzu, "das dauert noch ein paar Jahre."
Der KMK-Präsident nennt sich selbst
einen "überzeugten Bildungsföderalisten"
Jeden Januar übernimmt ein anderer Landeskultusminister die Präsidentschaft im gemeinsamen Club, die Reihenfolge ist vertraglich festgelegt – was auch bedeutet, dass die Kultusministerkonferenz nicht immer automatisch von ihrem größten Fan geleitet wird. Trotzdem sind es auf den ersten Blick erstaunliche Sätze für einen KMK-Präsidenten, unter dessen Regie die Kultusminister ihren grundlegenden Neuanfang voranbringen wollen, den sie vergangenes Jahr versprochen hatten.
Nicht aus Begeisterung, sondern weil das Gremium nicht aus der Krise herauskommt: Die Große Koalition im Bund hatte in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt, einen Nationalen Bildungsrat einrichten zu wollen, um mehr Vergleichbarkeit und Harmonisierung ins Bildungssystem zu bringen. Im Mai 2018 hatte Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) die Pläne erstmals konkretisiert. Bildungsforscher warnen davor, dass Deutschlands Schüler nach einem Jahrzehnt mit besseren Ergebnissen bei internationalen Vergleichstests wie Pisa wieder zurückfallen könnten. Und dann ist da der wilde Mix von Ländern, die in zwölf oder 13 Jahren zum Abitur führen, die ein zwei- oder dreigliedriges Schulsystem von zum Teil sehr unterschiedlicher Ausprägung haben. Und dann ist da die Sache mit dem Abitur. Ende 2017 hatte sogar das Bundesverfassungsgericht den Bundesländern bescheinigt, die bundesweiten Abiturnoten seien nicht vergleichbar. Woraufhin die Kultusminister eilig schworen, das Abitur schon bis 2021 bundesweit "annähernd vergleichbar" zu machen.
Doch der CDU-Politiker Lorz sagt, für ihn "als überzeugten Bildungsförderalisten" sei die Abitur-Debatte ein "Paradebeispiel dafür, dass nicht alles automatisch besser läuft, nur weil es zentral organisiert wird. Durch die Vereinheitlichung nimmt man einzelnen Ländern auch immer die Chance, sich positiv abzuheben."
Warum VERA 3 ein Problem
für die KMK ist
Auch wenn Lorz die umstrittenen Aufgaben verteidigt und die Kritik der Abiturienten als "widersprüchlich" (siehe Kasten unten) bezeichnet: Ein leidenschaftliches Plädoyer für mehr Harmonisierung klingt erstmal anders. Dabei könnte die Tatsache, dass die angeblich zu schwierigen bayerischen Aufgaben offenbar nicht aus dem gemeinsamen Pool stammten, sogar ein gewichtiges Argument mehr werden für mehr Einheitlichkeit.
Während die Abi-Debatte die Zeitungs-Schlagzeilen beherrschte, blieb eine andere politische Weichenstellung fast unbemerkt. Dabei ist eigentlich sie es, die das Problem der KMK auf den Punkt bringt. Trotzdem berichtete bislang nur die FAZ über die Entscheidung von Bremens Bildungssenatorin Claudia Bogedan (SPD), die verpflichtende Teilnahme der Bremer Schulen an den zentralen Vergleichsarbeiten für Drittklässler (VERA 3) auszusetzen, und zwar in beiden VERA-3-Fächern Deutsch und Mathematik.
Bogedan war nicht die erste Kultusministerin mit dieser Idee. Anfang des Jahres hatte bereits ihr niedersächsischer Kollege Hendrik Tonne (ebenfalls SPD) angekündigt, VERA 3 für Drittklässler auszusetzen – als Teil eines 11-Punkte-Plans zur "Bürokratie"-Entlastung der Lehrer.
Die Vergleichsarbeiten sollen sowohl den Lehrern als auch der Schule und dem Bundesland insgesamt ermöglichen, die Leistungen ihrer Schüler im nationalen Vergleich einschätzen zu können. Sie sind elementarer Bestandteil der KMK-Strategie, zu mehr Vergleichbarkeit zu kommen, weswegen sich die Kultusminister auch darauf verständigt hatten, sie zum bundesweiten Standard zu machen.
Das Ausscheren der beiden Länder, argumentieren Bildungsexperten, schade den Schulen in Niedersachsen und Bremen, weil ein länderinterner Vergleich nur bei einer hohen Anzahl teilnehmender Schüler möglich sei. Vor allem aber schadet es dem Ansehen der KMK, weil sie wieder einmal als zahnloser Tiger hinüberkommt.
Entsprechend energisch reagiert KMK-Präsident Lorz. "Natürlich ist das ein Verstoß gegen die entsprechende Vereinbarung, aber in der KMK gibt es keine Zwangsmittel – erst recht nicht bei einer Entscheidung, die im Gegensatz zur Abiturdebatte von einer breiten Öffentlichkeit gar nicht wahrgenommen wird."
Haben die Bremer
nicht einmal Bescheid gesagt?
Soll heißen: Wenn die Kultusminister schon keine juristische Grundlage haben, Bremen und Niedersachsen zum Einlenken zu bewegen, könnte ihnen die öffentliche Empörung helfen – doch die fällt bei dem Thema flach. Es ist eine der zahlreichen Widersprüche, mit denen die KMK klarkommen muss: In Umfragen plädieren die meisten Menschen in Deutschland regelmäßig für mehr Einheitlichkeit, doch die praktische Bildungspolitik, an der sich diese Einheitlichkeit entscheidet, geht an ihnen vorbei.
Wie sehr die KMK gelegentlich von ihren eigenen Mitgliedern missachtet wird, kann man auch daran erkennen, dass Bogedan es nach Aussage ihres hessischen Kollegen, immerhin KMK-Präsident, auch nicht für nötig gehalten hat, die Kollegen von ihrer Entscheidung zu informieren. "Es gab meines Wissens keine Vorab-Information oder Konsultation mit der KMK, sonst hätte ich das erfahren", sagt Lorz und kündigt an: "Natürlich wird das Thema sein in den KMK-Gremien." Es werde auch auf der nächsten Ministerkonferenz erörtert werden. "Aber öffentliche Schelte bringt an der Stelle wenig."
Und dann lässt sich Lorz, der beim Thema Abi vor allem den Bildungsföderalismus hochhob, doch noch zu einem Plädoyer pro mehr Ländergemeinsamkeiten hinreißen. Was vielleicht auch zeigt, wie ernst die Lage ist.
Er halte die Vergleichsarbeiten "für ein ganz wesentliches Element der von der Öffentlichkeit geforderten größeren Vergleichbarkeit zwischen unseren Schulen, die auch uns Bildungspolitikern ein Anliegen ist", sagt der KMK-Präsident. Was nicht heiße, dass man sie nicht noch besser machen könne, aber ihre "ersatzlose Abschaffung" sei ganz sicher der schlechteste Weg. "Wie, wenn nicht über Vergleichsarbeiten, soll man denn sonst die Vergleichbarkeit herstellen und prüfen?"
Der Bund drängelt währenddessen
beim Bildungsrat
Fragen, die die Kultusminister dringend untereinander klären sollten. Denn während sie miteinander ringen, erhöht der Bund den Druck in Sachen Bildungsrat. Diese Woche schon steht die nächste Verhandlungsrunde an, und bis auf die Stimmenverteilung in dem neuen Gremium sind dem Vernehmen nach praktisch alle Fragen geregelt. Parallel wird das von Kultusministern gern verwendete Argument, eigentlich sei ja die KMK der Bildungsrat und ein neues Gremium im Grund überflüssig, durch das Gezerre um VERA 3 ad absurdum geführt. "Natürlich: Hilfreich sind solche Dinge nicht, wenn einzelne Länder ausscheren", bestätigt Lorz, doch er hoffe auf einen "katalytischen Effekt". Vielleicht führe die VERA-3-Debatte dazu, "dass wir uns in der KMK am Ende mehr auf Gemeinsamkeiten besinnen".
Ein rhetorisch schöner Wunsch, dem die empirische Grundlage zurzeit jedoch zu fehlen scheint. Vielleicht auch deshalb sendet Lorz schon mal eine Botschaft Richtung Bundesbildungsministerium. Er lasse sich nicht unruhig machen in den anstehenden Verhandlungen, "das wissen die Kollegen im Bund auch". Der KMK-Präsident verspricht weiter konstruktive Verhandlungen, doch man werde nichts übers Knie brechen.
Die noch zu klärenden Fragen, wie der Bildungsrat zu seinen Entscheidungen kommen soll und wer dabei wie viele Stimmen erhält, sind für Lorz offenbar aber nicht die Kleinigkeit, als die der Bund sie in internen Gesprächen darstellt. "Man könnte sagen, wir definieren jetzt die Eindringtiefe."
Warum Lorz die Kritik der Abiturienten "widersprüchlich" findet
KMK-Präsident Lorz betont, "zum Glück" stelle bei der Abitur-Debatte keiner das Ziel der Vergleichbarkeit an sich in Frage, sondern nur die Umsetzung in diesem konkreten Fall. "Das ist etwas komplett Anderes."
Gleichzeitig verteidigt Lorz den Schwenk zur sogenannten Kompetenzorientierung, den die Bildungspolitik vor allem mit der Einführung der bundesweiten Bildungsstandards vollzogen hat. Er sei ja kein Mathematiker und wolle sich deshalb kein fachliches Urteil über den Schwierigkeitsgrad der kritisierten Abituraufgaben anmaßen, aber: "Wenn manche jetzt behaupten, die Kompetenzorientierung sei schuld, muss ich dem widersprechen. In unserer modernen Welt kommt es nicht mehr so sehr auf das Auswendiglernen von Fakten an, die per
Knopfdruck jederzeit zur Verfügung stehen." Lorz, der bis zu seinem Einstieg in die Politik 2012 Juraprofessor und Dekan an der Universität Düsseldorf war, fügt hinzu: "Der Erwerb von Wissen bleibt wichtig, aber entscheidend ist heute, dass die Schüler lernen, dieses Wissen anzuwenden, dass sie damit umgehen lernen."
Zudem habe die Kritik, die Abituraufgaben seien zu anspruchsvoll gewesen, für ihn etwas Widersprüchliches: "Wie oft wird uns Bildungspolitikern vorgeworfen, das Abi sei viel zu einfach geworden und werde angeblich jedem hinterhergeworfen. Und plötzlich ist die Erregung groß, weil die Aufgaben zu schwierig waren."
Ralph Alexander Lorz ist 53 Jahre alt und seit 2014 Kultusminister in Hessen.
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