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Die Stunde der Kängurus

Mehr Chancengerechtigkeit, da sind sich viele Pädagogen einig, geht nur mit echten Ganztagsschulen. Warum gibt es dann so wenige? Über Eltern, Lehrer und die Tücken der Statistik.

"Ich mag keine Vorträge halten": Grundschullehrer Moritz Uibel lässt vor allem die Kinder reden, wenn sie im Sitzkreis der Känguru-Lerngruppe versammelt sind. Foto: JMW.

ES IST 14.30 UHR, und Moritz Uibel beschließt, dass es Zeit ist für einen Tempowechsel. Gerade hat er mit seiner Lerngruppe, den Kängurus, im Kreis an der Tafel gesessen, auf Hockern und Turnbänken, wie sie das immer zu Beginn einer Stunde tun. Doch Silas* zappelte, Sarah pikste Ceyda in die Seite, und Luca redete, obwohl er das Redekänguru nicht in der Hand hielt. Also ruft Moritz Uibel: "Wir schreiben jetzt eine Runde Blitz!" 20 Dritt- und Viertklässler stürmen zu ihren Tischen, holen den Arbeitsbogen heraus, auf dem "Blitzschreiben" steht, darunter 20 Wörter aus dem Bremer Grundwortschatz. "Uhr" zum Beispiel, "lang" oder "geben". "Die Zeit läuft", sagt Moritz Uibel.

 

Ein Mittwochnachmittag im Bremer Stadtteil Buntentor: Während für die meisten Kinder in Deutschland die Schule längst vorbei ist, haben sie bei Herrn Uibel noch zwei Schulstunden vor sich. Bis 16 Uhr geht der Unterricht an der Ganztagsgrundschule Buntentorsteinweg, doch statt Gemecker breitet sich Schweigen aus, nur die Füller kratzen übers Papier.

 

Es gibt da diese Fotos auf der Schul-Webseite, jubelnde Kids in blauen und pinkfarbenen Shirts, auf denen "So geht Schule heute" steht. Mittendrin: Angela Merkel. Das war 2015, als die Bremer einen zweiten Platz beim Deutschen Schulpreis gewannen. Die Grundschule am Buntentorsteinweg versuche, bis in "jede einzelne Lerngruppe hinein" zu gewährleisten, "dass Kinder mit unterschiedlichen Eigenschaften, Startbedingungen und Potentialen gemischt werden", stand in der Laudatio der Deutschen Schulakademie.

 

Immer wieder sind es Ganztagsschulen, die die Preise für die besten Schulen abräumen, was auf den ersten Blick nur logisch erscheint - haben doch laut Kultusministerkonferenz inzwischen 70 Prozent der Schulen ein Ganztagsangebot. Noch 2005 galt das nur für 30 Prozent. Auf den zweiten Blick allerdings fällt auf, dass erstaunlich viele der in den Wettbewerben erfolgreichen Schulen eine zweite Gemeinsamkeit haben: Sie sind sogenannte gebundene Ganztagsschulen. Was bedeutet, dass sie an mindestens drei Nachmittagen in der Woche nicht nur freiwillige Betreuung und Beschäftigung in AGs anbieten, sondern auch verpflichtenden Unterricht.

 

Statt Druckbetankung am Vormittag

wechseln sich Spiel und Unterricht ab

 

Gerade mal 13 Prozent der Ganztagsgrundschulen sind so organisiert. Doch genau das seien die Schulen, sagen Erziehungswissenschaftler, an denen überdurchschnittlich häufig neue Unterrichtskonzepte entstünden. "Bei uns lernen die Schüler nicht nur, sie leben einen Großteil ihres Alltags bei uns", sagt Monika Triba, Schulleiterin am Buntentorsteinweg. "Das gibt uns Zeit für vieles, was sonst nicht ginge." An Tribas Schule sind sie seit 2006 schrittweise zum gebundenen Betrieb übergegangen. Mit einem Konzept, das den beständigen Wechsel von Bewegung und Stillsitzen, von Unterricht, Spiel und Projektarbeit vorsieht, von morgens um acht bis nachmittags um 16 Uhr. Rhythmisierung nennen Pädagogen das und loben es als besonders kind- und lerngerecht – im Gegensatz zur in den meisten Schulen üblichen Druckbetankung am Vormittag.

Blitzschreiben bei den Kängurus. Foto: JMW.
Blitzschreiben bei den Kängurus. Foto: JMW.

  

Bei den Kängurus gehen derweil die ersten Hände hoch. "Fertig!", ruft Luca. Die Aufgabe beim "Blitz": die 20 Wörter auf dem Zettel so schnell es geht abschreiben, lesbar und ohne Fehler. In der Mitte steht Moritz Uibel, 52, schwarze Hose, schwarzes T-Shirt und schwarze Weste, Rocker-Kinnbart und ein Tattoo am Arm. "90 Sekunden", sagt er zu Luca. Er kontrolliert, lobt und korrigiert. Und sagt jedes Mal die Zeit an, wenn wieder jemand fertig ist.

 

So, wie Uibel nicht nach einem Durchschnittslehrer aussieht, so ungewöhnlich ist der aus zwei Zimmern und vielen Lernecken bestehende Klassenraum - mit dem Sitzkreis an der Tafel, der an ein Wohnzimmer erinnert. Und so wenig alltäglich ist der Unterricht, den sie am Buntentorsteinweg mit ihren 281 Schülern machen: Die Klassenstufen eins und zwei sowie drei und vier lernen jahrgangsübergreifend - wie die Kängurus von Herrn Uibel. Einen festen Einschulungstermin gibt es nicht, die Kinder können flexibel von der Kita in die erste Klasse überwechseln.

 

An diesem Mittwochnachmittag sind einige der Kängurus schon um kurz nach sieben von ihren Eltern gebracht worden, zur Frühbetreuung. Um acht beginnt der Unterricht, unterbrochen vom gemeinsamen Frühstück und dem Morgenkreis um viertel vor neun. Den Rest des Tages über wechseln sich Selbstlernzeiten, Klassengespräche, Fachunterricht und Lernprojekte ab. Jedes Kind führt ein Lerntagebuch, bei jedem Kind gehen die Lehrer sicher, dass es seine Lernziele erreicht. Und dann sind da die diversen Arbeitsgemeinschaften nach der Mittagspause, von Gitarre über Ballspiele bis zur Schach-AG, bevor um 14.20 Uhr wieder der Unterricht anfängt.

 

Als die Schule 2015 den Deutschen Schulpreis gewann, war der Jubel auch daher so groß, weil sie in einem Viertel mit hoher Arbeitslosigkeit und vielen Zuwanderern steht. Noch 15 Jahre zuvor hatte sie in der Krise gesteckt, mit vielen Kindern aus zerrütteten Familien und Lehrern, die sich wie Einzelkämpfer fühlten. Das war, bevor die damalige Schulleiterin und ihr Kollegium beschlossen, den Ganztagsstatus zu beantragen. Seitdem bekommen sie häufiger Besuch von Journalisten, Lehramtsstudenten buhlen um einen Praktikumsplatz.

 

Und doch bleibt ein seltsamer Widerspruch: Pädagogikprofessoren mögen begeistert sein von Schulen wie der am Buntentorsteinweg - doch die Mehrheit der Eltern will keine gebundene Ganztagsschule. Zwar wünschen sich einer Studie zufolge 72 Prozent Ganztagsangebote in der Schule, aber 48 Prozent davon meinten eine sogenannte offene. Soll heißen: Unterricht am Vormittag, freiwillige Angebote am Nachmittag.


Was das kostet

Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) verhandelte vor dem Wochenende mit ihren Länderkollegen über das im Koalitionsvertrag der großen Koalition versprochene Ganztagsprogramm. Bis zum Jahr 2025 soll es demzufolge den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder geben - und der kostet. Wie viel, hat das Deutsche Jugendinstitut in einer Studie berechnet, und das DJI kommt für die zusätzlich nötigen Betreuungszeiten je nach Umsetzung auf 1,3 bis 2,6 Milliarden Euro zusätzlich – pro Jahr. Und damit wäre noch längst nicht der flächendeckende Ausbau des gebundenen

Ganztags erledigt, für den Bildungsforscher Klemm "erheblich höhere Kosten" annimmt. Die DJI-Studie geht nämlich lediglich von den Wünschen aus, die die Eltern nennen - und nimmt dazu noch in den Blick, wie die einzelnen Bundesländer bereits den Ganztag umsetzen: die einen eher gebunden, die anderen eher offen oder in der Verbindung von Schule und Hort. Der maximale Betrag aus Sicht des DJI würde sich ergeben, wenn es eine Ganztagsbetreuung gäbe für alle Kinder, deren Eltern das wünschen - auch für diejenigen Kinder, die dann nur über die Mittagszeit hinweg betreut werden würden.



Auch die Politik schreckt davor zurück, verpflichtende Ganztagsangebote zum Standard zu erklären. Zwar versprach die große Koalition einen "Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter bis 2025", inklusive Milliardenausbauprogramm, aber von Ganztagsunterricht war im Koalitionsvertrag keine Rede. Wie kann das sein, wenn doch dessen Vorteile so klar zu überwiegen scheinen?

 

Ein Anruf am DIPF Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation, bei Eckhard Klieme, der früher die nationale Pisa-Studie leitete und mit Kollegen "StEG" verantwortet, eine Verbundstudie zur Entwicklung von Ganztagsschulen. Klieme sagt: "Die Sache ist eben nicht so klar, wie sie aussieht." Als Pädagoge befürworte auch er das gebundene Konzept, weil es mehr Förderchancen und flexiblere Unterrichtsformen ermögliche. Doch als Bildungsforscher, der die Realität beobachte, müsse er sagen: "Die empirischen Studien liefern bislang keinen belastbaren Beleg dafür, dass sich Schüler an gebundenen Ganztagsschulen besser entwickeln."

Hat irgendwas bei der Programmierung nicht geklappt? Foto: JMW

"Das ist leider so", bestätigt Kliemes Kollege Klaus Klemm. Jahrzehntelang war Klemm Professor für Bildungsforschung und Bildungsplanung, und ebenso lange beschäftigt ihn das Thema Bildungsgerechtigkeit. Er ist einer der Autoren, die unter anderem im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung nach den Erfolgsgeheimnissen guter Ganztagsschule geforscht haben. Diese Erfolgsgeheimnisse gebe es, sagt Klemm, aber sie ließen sich nur im Einzelfall nachweisen, nicht in einer Statistik. Das Problem fange bei der Definition der Kultusministerkonferenz an. "Wenn zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen schon sieben Stunden Schule an drei Tagen die Woche reichen, um als gebundene Ganztagsschule zu gelten, dann fällt faktisch jedes G-8-Halbtagsgymnasium schon darunter." Exzellente Ganztagsschulen böten weit mehr, aber sie würden statistisch mit den anderen in einen Topf geworfen - aufgrund einer Definition, die Klemm vor allem "ökonomisch motiviert" nennt. "Würde ich höhere Anforderungen definieren, wären Ganztagsschulen plötzlich erheblich teurer."

 

Vielen Eltern wünschen sich eine echte Ganztagsschule
– aber nicht für die eigenen Kinder

 

Hinzu kommt: Solange der pädagogische Erfolg des gebundenen Ganztags nicht nachgewiesen ist, herrscht kein öffentlicher Erwartungsdruck an die Politik, hier mehr Tempo zu machen. Was den Politikern womöglich ganz recht sei, sagt Eckhard Klieme, weil sie sich ansonsten mit dem Bildungsbürgertum anlegen müssten. Er spricht von "Doppelbödigkeit". Auf der einen Seite seien alle für mehr Bildungsgerechtigkeit. "In dem Augenblick aber, in dem Nägel mit Köpfen gemacht werden und eine Schule etwa verpflichtenden Nachmittagsunterricht mit Sprachförderung für alle einführt, sinkt die Bereitschaft, die eigenen Kinder hinzuschicken, und das Gerede von systematischer Förderung der Benachteiligten löst sich in Wohlgefallen auf." Und damit meint er nicht nur die Eltern. Auch viele Lehrer könnten sich nicht vorstellen, den ganzen Arbeitstag in der Schule zu verbringen. "Unterschwellig herrscht in unserer Gesellschaft immer noch die Meinung vor: Es ist gut, wenn die Kinder nachmittags betreut sind. Aber mehr muss gar nicht", sagt Klieme.

 

Auch am Buntentorsteinweg, erzählt Schulleiterin Triba, hatten sie deshalb viele Diskussionen. Immer wieder entschlossen sich einzelne Lehrer, die Schule zu wechseln. Inzwischen habe sich ein Kollegium entwickelt, das voll hinter dem Konzept stehe. Neben den 18 Lehrern arbeiten hier zwölf Sozialpädagogen und eine Schulsozialarbeiterin. Triba selbst kam als Inklusionslehrerin an die Schule. "Wichtig ist, dass wir hier keine Unterschiede machen in der Wertigkeit der unterschiedlichen Professionen", sagt sie. "Darum reden wir nicht von einem Lehrerzimmer, sondern von einem Mitarbeiter*innenraum."

 

Das mag man putzig finden – oder man erkennt an, dass solche Details einer Schule helfen, sich selbst zu finden.

 

Die Kängurus haben sich nach dem Blitzschreiben wieder an ihre Lernprojekte gesetzt. Ein paar Kinder erstellen eine Präsentation am Computer, andere bauen aus Holzsteinen komplizierte geometrische Formen nach, Mika hockt auf dem Boden und rätselt, warum sein selbst gebautes Fahrzeug nur im Kreis fährt. Hat er bei der Programmierung etwas falsch gemacht?

 

Um 15.20 Uhr drückt Uibel auf dem Laptop die Play-Taste, und ein Kinderlied erklingt: "Kommt alle in den Kreis". Das ist das Zeichen für die Kinder, ins Wohnzimmer an der Tafel zu kommen. „Ich möchte mit euch noch weiter über die Wahlen sprechen“, sagt Moritz Uibel. Es seien ja bald Bürgerschaftswahlen, welche Parteien die Kinder kennen?

 

Die CDU, ruft das erste Kind, einem zweiten fällt die AfD ein, dicht gefolgt von der SPD. "Wofür steht denn das D in CDU?" fragt Uibel. "Für Deutschland?" schlägt ein Kind vor. Dann reden sie darüber, was es bedeutet, wenn Menschen in einem Land frei über ihre Regierung bestimmen können und was der Unterschied ist zwischen einer Demokratie, einer Monarchie und einer Diktatur. 

 

"Ich mag keine Vorträge halten", sagt Moritz Uibel. Also lässt er vor allem die Kinder reden, fragt hier und da nach, korrigiert. Und redet selbst nur, wenn er das Rede-Känguru in der Hand hält. Theoretisch zumindest. Ab und zu quatscht er doch mal dazwischen und bekommt prompt Ermahnungen seiner Schüler. Regeln sind wichtig im Miteinander, das haben sie am Buntentorsteinweg gelernt. Und sie gelten für alle. Auch für Herrn Uibel.

 

* Alle Kindernamen wurden geändert. Zuerst erschien dieser Artikel leicht gekürzter Fassung in der Süddeutschen Zeitung. 

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Kommentare: 1
  • #1

    Klaus Diepold (Dienstag, 21 Mai 2019 09:13)

    Wie sieht das im internationalen Vergleich eigentlich aus? In vielen Ländern ist die Ganztagsschule seit ewigen Zeiten Realität, z.B. in Skandinavien, oder auch in Canada.

    Kann man aus den dortigen Erkenntnissen und Erfahrungen nicht auch lernen und Rückschlüsse ziehen? Sind wir in Deutschland so etwas Besonderes? Oder ist das nur ein Thema für ideologisch dominierte Politdiskussion, so wie das bei nahezu allen Diskussionen, wenn es um Bildung geht?