Das BMBF hatte die Evaluation des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes ausgeschrieben. Doch es bringt nichts, sich daran zu beteiligen.
Ein Offener Brief des Netzwerks für Gute Arbeit in der Wissenschaft
an Anja Karliczek.
Foto: Mike Lawrence / flickr - CC BY 2.0
SEHR GEEHRTE FRAU MINISTERIN,
sehr geehrte Damen und Herren,
mit Interesse haben wir zur Kenntnis genommen, dass das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) die gesetzlich für 2020 vorgesehene Evaluation des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) nun ausgeschrieben hat. Da wir im Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft seit mehreren Jahren Informationen und Erfahrungsberichte zur Lage der befristet Beschäftigten an den deutschen Hochschulen sammeln und die Auswirkungen des WissZeitVG kritisch beobachten, hätten wir gerne die Chance genutzt, unsere Aufklärungsarbeit mit Ihrer Unterstützung und zu beiderseitigem Nutzen solide finanziert fortzusetzen. Doch aus einigen substantiellen Gründen müssen wir von einer Bewerbung absehen.
Bei der Lektüre Ihrer Ausschreibung mussten wir nämlich feststellen, dass die Erkenntnisziele der Evaluation willkürlich auf den Teilaspekt eingeschränkt wurden, die Entwicklung von Vertragslaufzeiten zu prüfen: "Im Hinblick auf das mit der Novelle verfolgte Kernanliegen, unsachgemäße Kurzbefristungen zu unterbinden, sollen Erkenntnisse über die Vertragslaufzeiten sowie über die Gestaltung der individuellen Vertragsdauer in der Praxis gewonnen werden." Das ist ein wichtiger Aspekt, doch so entspricht die Ausschreibung nicht dem im Gesetz selbst niedergelegten Evaluationszweck.
Der mit der Novellierung hinzugekommene Paragraph 8 zur Evaluation besagt: "Die Auswirkungen dieses Gesetzes werden im Jahr 2020 evaluiert." Von einer Einschränkung der Evaluation auf die Novellierung und dann noch einmal auf den Teilaspekt der Entwicklung durchschnittlicher Vertragslaufzeiten lesen wir hier nichts.
Die Regelung im Gesetz wurde konsequent
gegen die Beschäftigten ausgelegt
Wie sehr eine umfassende Evaluation tatsächlich nötig ist, lässt sich einfach einsehen: In einer für die Wirtschaft und die staatliche Verwaltung unvorstellbaren Weise erlaubt das WissZeitVG Hochschulen und Forschungsinstituten, ihre Mitarbeiter*innen über insgesamt 12 Jahre und ohne Aussicht auf Übernahme bzw. Festeinstellung befristet zu beschäftigen.
In der Praxis wurde diese Regelung konsequent gegen die Beschäftigten ausgelegt. War in der Gesetzesbegründung noch zu lesen, dass "das dauerhafte Beschäftigungsverhältnis auch weiterhin das Regelarbeitsverhältnis" bleibe, entwickelte sich das Erreichen der Höchstbefristungsgrenze rasch zu einer biopolitischen Deadline für das wissenschaftliche Arbeiten, weil so gut wie keine der betroffenen Stellen entfristet wurde. Ergänzend erfanden die Hochschulen immer phantasievoller "Qualifizierungsziele" für die in Abschnitte von wenigen Monaten oder Jahren gestückelten Arbeitsverträge.
Vor diesem Hintergrund kann die Verlängerung der durchschnittlichen Vertragslaufzeiten nur ein Aspekt der Evaluation sein. Zu untersuchen wäre vielmehr umfassend die Zweckmäßigkeit eines Sonderbefristungsrechts in der Wissenschaft. Dies beträfe zunächst die Qualität von Forschung und Lehre, denn die erweiterten Befristungsmöglichkeiten in der Wissenschaft werden mit dem Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit (Artikel 5 de Grundgesetzes) legitimiert.
Es wäre daher zu prüfen, ob das Gesetz tatsächlich einen Beitrag zur Wissenschaftsfreiheit leistet und darin Lehre und Forschung verbessert. Untersucht werden müsste hier etwa, wie viele Forschungsarbeiten aufgrund von Kurzzeitbefristungen nie zu einem Abschluss kommen, was ständiger Personalwechsel für kollaborative Forschungen bedeutet und welchen Einfluss berufliche Existenzangst auf das Einhalten wissenschaftsethischer Standards hat.
Das Gesetz kodifiziert eine im internationalen
Vergleich einzigartige Sonderentwicklung
Mit Blick auf Wissenschaftsfreiheit und andere Grundrechte wäre aber vor allem der Umstand zu beleuchten, dass sich gerade durch die 12-Jahres-Regelung die sogenannte Qualifizierungs- und Bewährungsphase von Wissenschaftler*innen bis ins vierte und fünfte Lebensjahrzehnt ausdehnt. Als vermeintlicher "Nachwuchs" werden sie aus dem Kükennest erst entlassen, wenn es ihnen mit etwa 40 Jahren gelingt, eine der wenigen unbefristeten Dauerstellen – in der Regel eine Professur – zu erjagen. Werden sie nicht in dieser Weise flügge, fallen sie aus dem Nest, können ihre jahrelang erworbenen Kenntnisse oft einfach fortwerfen und sich lebenslang lernend in neue Arbeitsfelder hineinarbeiten. Dies betrifft (mit fächerspezifisch verschiedenen Bedingungen und Konsequenzen) 96 Prozent der Promovierenden und 80 Prozent der Habilitierten.
Das Gesetz kodifiziert damit eine Sonderentwicklung. Dass Wissenschaftler*innen mit akademischem Abschluss weitere zwölf Jahre lang als unfertiger "Nachwuchs" gelten und selbst nach der Promotion nahezu keine Möglichkeit auf Festanstellung haben, ist im internationalen Vergleich einzigartig. In Deutschland haben nur 17 Prozent des wissenschaftlichen Personals an Hochschulen ein unbefristetes Arbeitsverhältnis, von den Nichtprofessor*innen unter 45 Jahren sind über 90 Prozent befristet beschäftigt. In anderen Ländern liegen die Anteile der befristeten Arbeitsverträge deutlich niedriger.
Frankreich stellt über die Hälfte seiner wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen als selbstständige Hochschullehrer*innen (mit und ohne Professur) unbefristet an, Länder wie Großbritannien kennen mit der Gruppe der Lecturer und Reader ebenfalls entfristete Statusgruppen jenseits der Professur und kommen auf Befristungszahlen unter 50 Prozent. Gerade aus internationalem Blickwinkel ist die spezifische Schieflage des deutschen Wissenschaftssystems auf zahlreiche Konstruktionsfehler zurückzuführen, die von der Fixierung auf die traditionelle Habilitation bis zum hyperflexiblen Projektbetrieb reichen. In einer Evaluation des WissZeitVG wäre zu prüfen, ob und inwieweit das Gesetz einen weiteren Konstruktionsfehler dieser Art darstellt.
Wir fordern Sie auf, für die Evaluation
alle wichtigen Fragen zuzulassen
Wir fordern Sie daher auf, für eine gesetzeskonforme Evaluation zu sorgen. Im gleichen Zug könnten Sie auch weitere Aspekte der Ausschreibung nachbessern. Die Untersuchung familien- und gesundheitspolitischer Komponenten bleibt so lange lückenhaft, wie sie allein Möglichkeiten der Höchstfristverlängerung und nicht die grundsätzlichen Auswirkungen von befristeten und oft überlasteten Arbeitsverhältnissen untersucht.
Das beträfe auch die wichtige Frage, inwiefern mit dem WissZeitVG in das Grundrecht der Beschäftigten auf körperliche und psychische Unversehrtheit (Artikel 2 GG) eingegriffen wird. Zudem wäre zu beleuchten, inwieweit prekäre Arbeit in der Wissenschaft Frauen benachteiligt, die weiter den größten Teil der gesellschaftlichen Sorgearbeit leisten, was sie für Menschen bedeutet, die nicht aus ökonomisch abgesicherten Milieus kommen, einen Migrationshintergrund haben oder mit Behinderungen leben – und welche Chancen sie jeweils haben, der Prekarität zu entkommen.
Fragen dieser Art hat bereits die erste Evaluation des WissZeitVG nicht hinreichend gestellt. Das Ergebnis lautete (trotz hilfreicher Einsichten im Detail) entsprechend tautologisch, dass das Befristungsrecht Befristungen ermöglicht bzw. "dass die mit Inkrafttreten des WissZeitVG neu eingeführten Vorschriften geeignete und überwiegend belastbare Instrumente sind, um befristete Beschäftigungsverhältnisse [...] eingehen zu können".
Der für eine Evaluation nötige übergeordnete Gesichtspunkt – ob das Befristungssystem den Wissenschaftler*innen und der Wissenschaft nutzt oder schadet – ist in diesem Resümee nicht zu erkennen. Die mit der neuen Evaluierung gegebene Chance, zu aussagekräftigeren Ergebnissen zu kommen, sollte nicht ungenutzt bleiben. Kriterien dafür könnten sein: die Bedingungen für verlässliche, angstfreie Forschung und Lehre; die Gewährleistung physischer und psychischer Gesundheit; die Ermöglichung beruflicher Weiterentwicklung, privater Lebensplanung und -gestaltung; ein kooperatives Klima, das Bildungs- und Wissenschaftsräume zu einer lebendigen Ressource der demokratischen Gesellschaft macht.
Zur Not planen wir eine
eigene Evaluation
Zudem ist zu bewerten, was das WissZeitVG als im Arbeitsrecht sowie im internationalen Vergleich einzigartiges Sonderbefristungsrecht (nicht) leistet. Bisher deutet einiges darauf hin, dass es vor allem der Arbeitgeberseite ermöglicht, unter Umgehung des Kündigungsschutzes Wissenschaftler*innen wie vollgeschriebenes Papier zu entsorgen – ohne zu schauen, welches Wissen darauf festgehalten ist.
Zusätzlich bedauern wir, dass für die Durchführung der Evaluation, sofern sie nicht von einer Organisation mit Dauerstellen umgesetzt wird, wiederum nur Kurzfrist-Stellen vorgesehen zu sein scheinen. Im Evaluationszeitraum (frühestens Mitte 2019 bis Ende 2020) würde die inzwischen vielerorts etablierte Anstands-Mindestfrist von zwei Jahren für eine Projektstelle unterboten. Angesichts der umrissenen Lage wäre die Evaluation der Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft eher als Daueraufgabe zu begreifen, für die Dauerstellen erforderlich sind.
Auch dies ist ein Grund, weshalb wir uns als Netzwerk nicht um die Evaluation des WissZeitVG bewerben. Sollte unsere Forderung, die Evaluation gesetzeskonform auf das gesamte WissZeitVG und seine Auswirkungen zu beziehen und daher neu auszuschreiben, keinen Widerhall finden, planen wir jedoch eine eigene Evaluation, die dieser Aufgabe besser nachkommen wird.
Mit freundlichen Grüßen
Ihr Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft
Dieser Offene Brief wurde verfasst von Lisa Janotta, Sandra Janßen, Tilman Reitz, Stefanie Retzlaff und Patrick Wöhrle. Die Autorinnen und Autoren arbeiten in den Sozial- und Geisteswissenschaften und engagieren sich im Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft. Eine Langversion ihres Schreibens finden Sie auf der Website des Netzwerkes.
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RK (Dienstag, 11 Juni 2019 09:33)
Angesichts jüngerer Forschungsergebnisse zur (enorm verstärkten) sozialen Selektivität bei Berufungen auf Lebenszeitprofessuren bei zugleich fehlenden empirischen Belegen für Leistungsselektion erscheint es notwendig, auch diesen Aspekt in der o.g. Diskussion mit zu berücksichtigen (Forschungsüberblick in: www.researchgate.net/publication/333163357).