Warum Martin Stratmann das Beste war, was der Max-Planck-Gesellschaft in diesen unruhigen Zeiten hat passieren können. Ein Porträt anlässlich der MPG-Jahresversammlung.
Martin Stratmann. Foto: Axel Griesch/MPG
ES GIBT SIE, diese Augenblicke, da wirkt Martin Stratmann wie die personifizierte Antithese zu allem, was die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) in der Öffentlichkeit ausmacht. Hier Deutschlands bekannteste Forschungsorganisation mit 108 Jahren Tradition, 18 Nobelpreisträgern seit 1948 und einem, wenn nötig, aggressiv zur Schau getragenen Selbstverständnis. Ein Selbstverständnis, das manchmal selbst nicht zwischen Mythos und Wirklichkeit zu unterscheiden weiß. Und dort ihr Präsident, ein inzwischen 65 Jahre alter Eisenwissenschaftler mit runder Brille, Halbglatze und der Andeutung eines Schnurrbarts über den Lippen. Ein leiser Mann, der den Raum betreten kann, ohne aufzufallen.
Es war vor genau fünf Jahren im Münchner Prinzregententheater, als Stratmann von Peter Gruss die vergoldete Amtskette mit dem Minerva-Konterfei überreicht bekam. Auf dem damals entstandenen Foto steht Stratmann wie Beiwerk neben seinem Vorgänger, fast schon an den Bildrand gedrängt, einen Kopf kleiner als Gruss, der selbst seinen Abschied noch so zelebrierte, wie nach Meinung vieler seine Amtszeit gewesen war: mit viel Grandezza und einem Selbstbewusstsein, das nicht immer im Einklang mit seinen strategischen Leistungen stand. Und das vielleicht gerade deshalb ziemlich gut zu Max Planck zu passen schien.
Unter den Chefs der Wissenschaftsorganisationen
zählt Stratmann zu den derzeit wenigen Aktivposten
Das war bei der 65. MPG-Jahresversammlung. Gestern Abend hat in Hamburg die 70. Jahresversammlung begonnen, und eines lässt sich in Stratmanns sechstem und womöglich letztem Amtsjahr mit Bestimmtheit sagen: Dieser scheinbar unscheinbare Präsident ist das Beste, was der Max-Planck-Gesellschaft in diesen unruhigen Zeiten hat passieren können. Ja, mehr als das: Unter den Chefs der großen deutschen Wissenschaftsorganisationen zählt Stratmann zu den derzeit wenigen Aktivposten, er prägt die nationale Wissenschaftspolitik. Eine Frage ist indes offen: Wird er in eine zweite Amtszeit gehen?
Als Stratmann 2014 an die MPG-Spitze rückte, sah die internationale Großwetterlage vergleichsweise unproblematisch aus. Donald Trump als möglichen US-Präsidenten hatte kaum einer auf dem Zettel. Die Möglichkeit eines Brexit wirkte wie ein akademisches Gedankenspiel, und Begriffen wie "Fake News" oder "Fake Science" stand ihre Karriere noch bevor. Die deutsche Wirtschaft befand sich in einem Status der boombedingten Selbstzufriedenheit, die Unternehmen feierte ihren internationalen Vorsprung bei der Industrie 4.0. Digitalisierung? Ja, ja. Künstliche Intelligenz? Nur kein Stress. Eine aufziehende Innovationsschwäche der Bundesrepublik? Wurde höchstens in Fachkreisen diskutiert.
Womöglich wird nicht einmal der bereits Ende 2012 eingesetzten Max-Planck-Findungskommission um den früheren BASF-Vorstand Stefan Marcinowski klar gewesen sein, wie dringend schon damals ein neuer Typ Wissenschaftsmanager gebraucht wurde. Und wie glücklich ihr Vorschlag war. Einer wie Stratmann, der sich selbst nicht so wichtig nimmt. Der nüchtern analysiert. Der bereit ist, aus seiner Analyse die nötigen Konsequenzen zu ziehen. Und, wenn diese zum Erfolg führen, es noch nicht einmal nötig hat, diesen lautstark für sich zu reklamieren.
Viele waren jedenfalls erstmal skeptisch, als der MPG-Senat Stratmann im Juni 2013, während der 64. Hauptversammlung in Potsdam, zum Präsidenten gewählt hatte. Ein Neuer im Kreis der akademischen Silberrücken, die sich sonst gern mal auf den Chefsessel der in der sogenannten Allianz vertretenen Wissenschaftsorganisationen abwechseln.
"Iron Man" oder
"Professor Rost"?
Skeptisch waren vor allem jene, die dem Chemiker (Spitznamen: "Iron Man" oder – laut Manager-Magazin – "Professor Rost") zu diesem Zeitpunkt zum ersten Mal begegneten. Dieser Mann, der während des Gesprächs die Tischplatte fixiert; einer, der nach dem Kennenlernen 20 Minuten braucht, bevor er zum ersten Mal den Augenkontakt sucht, der sollte es bringen? Oh ja, antworten die meisten, die schon vorher mit Stratmann zusammengearbeitet hatten, als Direktor am Max-Planck-Institut für Eisenforschung in Düsseldorf, als Sektionsvorsitzender oder, seit 2008, als MPG-Vizepräsident. Wesentliche Reformen, die die ersten Jahre seiner Amtszeit prägten, hatte er da nämlich schon vorgezeichnet.
Den Neuanfang bei den Promotionen zum Beispiel. In Zukunft werde jeder Doktorand einen Arbeitsvertrag erhalten, verkündete Stratmann schnurstracks, was als erstes Großziel gut zu ihm passte: eine auf den ersten Blick technisch-bürokratische Ansage, die aber auf den zweiten Blick weitreichende Folgen hatte. Das Problem beschrieb Stratmann selbst in einem ZEIT-Interview Anfang 2015 so: International seien Stipendien für Doktoranden üblich, so auch an vielen Max-Planck-Instituten. "Aber die Betroffenen erhalten keine Sozialleistungen, und das wird als ungerecht empfunden... Diese Praxis werden wir deshalb ändern." Die Kosten der von ihm angestoßenen Reform bezifferte Stratmann mit 50 Millionen Euro pro Jahr, "mit demselben Geld könnten wir zwei oder drei neue Institute gründen".
Gefühlt katapultierte sich die MPG damit in Sachen Doktorandenfreundlichkeit auf einen Schlag an die Spitze der Forschungsorganisationen – und das, obwohl zum Beispiel die Leibniz-Gemeinschaft von jeher eine hohe Arbeitsvertragsquote gehabt hatte. Doch Max Planck ist eben Max Planck, und Stratmanns Entscheidung setzte Standards in der Wissenschaftslandschaft. Und nebenbei verschaffte er der MPG etwas Luft in der seit Jahren schwelenden Debatte über eine vermeintlich allzu große Selbstherrlichkeit der Max-Planck-Direktoren.
Als die Bundesregierung 2015 eine Reform des sogenannten Wissenschaftszeitvertragsgesetzes vorbereitete, zeigte sich Stratmann indes weniger nachwuchsfreundlich. Zusammen mit seinen Allianz-Kollegen von den anderen Wissenschaftsorganisationen warnte er die Politik vor Einschränkungen bei den umfangreichen Befristungsmöglichkeiten. Flexible Befristungen der Arbeitsverträge seien "wichtige Fragen", wenn Spitzenwissenschaftler gewonnen werden sollten.
Ein Max-Planck-Chef mit Faible
für faire Bildungschancen
Für einen Max-Planck-Präsident eher ungewöhnlich wiederum waren Stratmannns Plädoyers für mehr Bildungsgerechtigkeit. Natürlich habe das Elternhaus einen prägenden Einfluss, sagte er 2015 in einem Interview mit dem DSW Journal, das wolle er gar nicht leugnen. "Ich selbst bin in einem evangelischen Pfarrhaus groß geworden und bin dadurch früh mit Büchern konfrontiert worden, mit einem gewissen intellektuellen Anspruch. Niemand kann die Umgebung ausblenden, in der er aufwächst." Die Wissenschaft müsse deshalb darauf drängen, dass die Lehrerbildung ernstgenommen werde. "So, wie Statistiken den Einfluss des Elternhauses auf den Bildungsgang von Kindern belegen, zeigen Studien auch, wie stark talentierte und motivierte Lehrer ihre Schüler prägen."
Es war dieselbe Logik, die Stratmann auf die Idee mit den Max-Planck-Schools brachte. Erstmals stellte er sie bei der Jahresversammlung 2015 vor: MPG-Direktoren und herausragende Universitätsprofessoren sollten sich als so genannte Fellows in überregionalen "Max Planck Schools" zusammentun, um nach Fächern organisiert "besonders talentierten Bachelor- und Masterabsolventen" aus aller Welt "die Gelegenheit zu geben, sich mit jüngstem Wissen von der vordersten Front der Wissenschaft auseinanderzusetzen." Ein Vorschlag, der von den Hochschulrektoren lange misstrauisch beäugt wurde als Versuch, ihnen jetzt auch noch die talentiertesten Studenten abspenstig zu machen.
Doch Stratmann, im Zusammenspiel mit seinem Vizepräsident Ferdi Schüth, wie er im Ruhrgebiet zu Hause, blieb hartnäckig, und mit der Unterstützung der damaligen Bundesforschungsministerin Johanna Wanka gelang es ihm, dass im September 2017 die ersten drei Schools gekürt wurden. Allerdings um den Preis, dass sie keine reine Max-Planck-Nummer mehr waren und dass das Promotionsrecht klipp und klar bei den Universitäten verblieb. Was, wie Stratmann selbstverständlich beteuerte, er auch nie anders gewollt habe.
So wichtig und grundlegend Stratmanns Weichenstellungen beim wissenschaftlichen Nachwuchs waren, die härtesten Kämpfe hatte er an anderer Stelle auszufechten. Der Konflikt um den Einsatz von Tierversuchen auch in Max-Planck-Instituten eskalierte, nachdem Tierschützer Anfang 2015 heimlich gemachte Filmaufnahmen aus dem Max-Planck-Institut für Kybernetik in Tübingen veröffentlichten. Die Bilder von blutüberströmten und offenbar leidenden Affen verursachten bundesweites Aufsehen, das Institut wurde von der Staatsanwaltschaft durchsucht, schließlich kündigte der zuständige Max-Planck-Direktor an, Experimente künftig nur noch an Nagetieren durchführen zu wollen.
Das Ende der
Tübinger Affenversuche
Präsident Stratmann sprach in seiner ersten Reaktion von einer Hetz-und Drohkampagne gegen den Forscher. "Hier ist ein Wissenschaftler an die Grenzen seiner physischen und psychischen Belastbarkeit getrieben worden", sagte er laut Süddeutscher Zeitung. Dieser Druck habe den Forscher schließlich dazu bewogen, seine "anerkannte und erfolgreiche" Forschung aufzugeben. Die MPG sei weiterhin von der Notwendigkeit der tierexperimentellen Forschung mit Primaten überzeugt. Das war allerdings, bevor die Staatsanwaltschaft 2017 Strafbefehle gegen drei Institutsmitarbeiter wegen Tiermisshandlung beantragte. Ende 2018, fast vier Jahre nach den Fernsehbildern, wurde das Verfahren gegen den Max-Planck-Direktor offiziell gegen Zahlung eines Geldbetrages eingestellt; die Vorwürfe, er habe gegen das Tierschutzgesetz verstoßen, hätten sich nicht bestätigen lassen.
Trotzdem stehen Tierversuche in Tübingen künftig nicht mehr unter der Aufsicht eines einzelnen Direktors, die Anfang 2019 eröffnet "Core Facility Tierhaltung" wird von allen Institutsdirektoren gemeinsam verantwortet und untersteht unmittelbar dem (neuen) Geschäftsführenden Direktor des Instituts.
Hier scheint sie durch, eine weitere Konstante in Stratmanns Präsidentschaft. Immer wieder ging und geht es um die Frage, wie das Verhältnis von wissenschaftlicher Unabhängigkeit und angemessener Kontrolle austariert werden kann in einer Forschungsorganisation, die sich – Stichwort "Direktorenherrlichkeit" – ganz dem legendären Harnack-Prinzip verschrieben hat. Stratmann selbst beschrieb es in einem Gastbeitrag für die FAZ im September 2018 wie folgt: Die MPG konzentriere sich "ganz auf die Förderung herausragender Wissenschaftler und ihrer wissenschaftlichen Ideen... Dieser personenorientierte und vertrauensbasierte Ansatz hat die MPG zu einer der weltweit erfolgreichsten und renommiertesten Wissenschaftsorganisationen gemacht."
Allerdings wusste auch Stratmann schon, als er 2014 ins Amt kam, dass dieses MPG-Leitprinzip dringend ein Update braucht. Und ob aus Überzeugung oder aufgrund des äußeren Drucks, er nahm dieses Update in Angriff und setzte eine Reihe Reformen gegen den Widerstand von Max-Planck-Direktoren durch, sei es, siehe oben, bei der Abkehr von den Doktoranden-Stipendien, beim behutsamen Rückschnitt institutsinterner Hierarchien (mehr Macht für die Forschungsgruppenleiter unterhalb der Direktorenebene) oder in Form erweiterter Kontrollmöglichkeiten durch die MPG-Generalverwaltung.
Wie nachhaltig sind Stratmanns
demonstrative Reformen?
Die Frage ist: Reicht das schon? Wie nachhaltig sind Stratmanns demonstrative Reformen? Stimmt womöglich am Ende immer noch, was Swen Grünewald ebenfalls in der FAZ schrieb, allerdings schon vier Monate nach Stratmanns Amtsantritt: Während man nach außen hin Aufklärung betreibe und Druck auf Direktoren ausübe, geschehe hinter den Kulissen das Gegenteil: "Die Generalverwaltung der MPG gibt sich Mühe, Kritik zu unterbinden und, wenn es darauf ankommt, im Interesse der Direktoren zu handeln."
Klar ist: Seinen FAZ-Gastbeitrag von 2018, Überschrift: "Mehr Harnack wagen", schrieb Stratmann auch deshalb, weil es zuvor in mindestens zwei Fällen konkrete Vorwürfe gegeben hatte, Max-Planck-Direktorinnen hätten ihre Macht missbraucht. Von einer "Atmosphäre der Angst" war die Rede, von Mobbing gegen einzelne wissenschaftliche Mitarbeiter gar.
Klar ist auch: Die MPG-Führung unter Stratmann reagierte spät auf die ersten Hinweise auf das mögliche Fehlverhalten einer Direktorin an einem Garchinger Institut. Dort und im Falle einer Leipziger Max-Planck-Direktorin versuchte man es, dem geltenden gestuften System folgend, zunächst unter anderem über die Verordnung von Coachings und mit einer Verkleinerung der Mitarbeiter-Teams. Ende 2018 schließlich teilte die MPG-Pressestelle mit, die Leipziger Wissenschaftlerin habe ihre Leitungsfunktion niedergelegt. Der Bericht einer von Stratmann eingerichteten Kommission habe "erhebliches Führungsfehlverhalten" bestätigt.
Schon nach Bekanntwerden des Garchinger Falls hatte die MPG ein neues Whistleblower-System etabliert und eine Max-Planck-weite Umfrage zum Thema Machtmissbrauch gestartet. Im FAZ-Gastbeitrag, der drei Monate vor dem Kommissions-Abschlussbericht veröffentlicht wurde, sprach Stratmann noch von "Fehlern" und "Einzelfällen", betonte, die MPG verfüge über "geeignete Anlaufstellen und Instrumente", er sei aber auch offen "für sinnvolle Ergänzungen und Nachjustierungen".
Ende Dezember 2018 kündigte Stratmann dann an, es solle ein "Handlungsleitfaden" vorgelegt werden, wie die MPG künftig mit Fällen von Machtmissbrauch vorgehen werde. Und von der Umfrage, durchgeführt von externen Dritten, erhoffe er sich Hinweise, "ob es sich hier um Einzelfälle handelt oder um ein systematisches Problem", zitiert ihn die taz. Wer in Stratmanns Äußerungen einen Lerneffekt zu erkennen glaubt, der liegt wahrscheinlich richtig. Auch dies zeichnet den Chemiker aus.
Das Führungsthema ist nach fünf Jahren
Stratmann längst nicht abgeräumt
Die Ergebnisse der Umfrage zur Arbeitskultur und Atmosphäre in der MPG sollen morgen am Rande der Jahrestagung vorgestellt werden, parallel dazu wird Stratmann erstmals den Handlungsleitfaden präsentieren, der sich nun "Code of Conduct" nennt und vermutlich im Herbst verabschiedet werden soll.
Trotzdem ist das Direktoren-/Führungsthema nach fünf Jahren Stratmann längst nicht abgeräumt. Was auch mit einer zweiten, sehr grundlegenden Frage zu tun hat, die Stratmann immer im Blick behalten muss: Wie können in derlei Fällen, die stets in einem einzelnen Institut ihren Anfang nehmen, die Rechte von Anklägern und Beklagten gleichermaßen geschützt und in einen Ausgleich gebracht werden? Können Vorwürfe organisationsintern tatsächlich ausreichend nach dem Rechtsstaatsprinzip aufgeklärt werden? Und wo muss die Max-Planck-Gesellschaft allem institutionellen Selbstbewusstsein zum Trotz Verantwortung abgeben?
Zu dem aus Stratmanns Sicht erfreulichen Leitthema Nachwuchsförderung und dem zweiten weniger erfreulichen – der Max-Planck-Governance – gesellte sich in den vergangenen Jahren ein dritter Schwerpunkt, der seine Präsidentschaft voraussichtlich definieren wird. Wissenschaftspolitisch ist dies womöglich sogar der spannendste, persönlich ist er es auf jeden Fall. Denn ausgerechnet Stratmann hat sich trotz – oder vielleicht gerade wegen? – seiner ruhigen Art das Ziel gesetzt, die Wissenschaft insgesamt aufzurütteln. Immer unaufgeregt, aber mit großer Ausdauer und Akribie beschrieb er dazu bei jeder sich bietenden Gelegenheit eine ausgeprägte deutsche Schwäche, die ihn schon länger umtreibt.
Zum Beispiel, als sich im Mai 2015 die Spitzen von Deutschlands Wissenschaft mit Vertretern aus Wirtschaft und Politik zum ersten Forschungsgipfel in Berlin trafen: Stratmann saß inmitten der 400 Zuhörer und beklagte, Deutschland sei in wichtigen Bereichen der technischen Innovation zurückgefallen. "Deutschland ist Meister der inkrementellen Innovation", zitierte ihn die Süddeutsche Zeitung – perfekt darin, vorhandene Produkte immer besser zu machen. "Aber bei Durchbruch-Innovationen hat Deutschland Schwächen." Die Umwälzungen der Kommunikationstechnik zum Beispiel gingen von den USA, Japan und Südkorea aus.
Im Frühjahr 2016 war es dann, dass Martin Stratmann seinen Vorstoß unternahm. Zweimal im Jahr trifft sich Angela Merkel beim sogenannten "Innovationsdialog" mit den zuständigen Bundesministern und führenden Köpfen aus Wissenschaft und Wirtschaft, koordiniert von der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech). Stratmann erzählte der Kanzlerin von den USA und den staatlichen Agenturen DARPA und ARPA-E, die mit Steuergeldern auf den ersten Blick verrückte Innovationswettbewerbe veranstalteten, wer die besten Roboter für Rettungseinsätze konstruiert zum Beispiel oder welches fahrerlose Fahrzeug allein 240 Kilometer durch die Wüste findet.
Mit dabei war der damalige EFI-Vorsitzende Dietmar Harhoff, im Hauptberuf Direktor am Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb. Das Ziel von DARPA und ARPA-E, sagt Harhoff, seien disruptive Innovationen, die das Potenzial hätten, bereits bestehende Technologien, Produkte oder Dienstleistungen zu verdrängen. "Sie hebeln die Wettbewerbsvorteile der etablierten Anbieter völlig aus." Wenn man Harhoff nach Beispielen fragt, erwähnt er das Cloud-Computing, den Einsatz von Big Data und Künstlicher Intelligenz, der den Siegeszug von Google, Facebook oder Apple überhaupt erst ermöglichte. Das Problem: Keines von Harhoffs Beispielen stammt aus Deutschland.
Das Nicken der Kanzlerin
markierte den Aufbruch
Stratmann machte also seinen Vorstoß, Harhoff und andere sekundierten. Merkel hörte zu – und nickte irgendwann. Dieses Nicken, berichten Teilnehmer, markierte den Aufbruch. Die Beamten um die Kanzlerin machten sich eifrig Notizen, ein Nachfolgetreffen wurde anberaumt, eine Expertengruppe eingerichtet. Unter Stratmanns Vorsitz und Harhoffs Redaktion entstand ein Diskussionspapier, das die Grundzüge einer deutschen "Agentur für Sprunginnovationen" umriss. "Sprung" klang netter, weniger zerstörerisch als "disruptiv", meinte aber das gleiche.
Im vergangenen Sommer beschloss das Bundeskabinett schließlich die Einrichtung von gleich zwei Agenturen. Neben der für Sprunginnovationen soll eine für "Innovationen in der Cybersicherheit" entstehen. Allein 100 Millionen Euro pro Jahr sollen nach einer Anlaufphase für die Sprunginnovationen fließen, die Agentur soll eine für staatliche Verhältnisse bislang ungekannte Freiheit genießen – genau so, wie Stratmann es gefordert hatte. Nachdem das Projekt zwischenzeitlich in den Mühlen zwischen Forschungs-, Wirtschafts- und Finanzministerium sowie dem Bundesrechnungshof zu versanden drohte, soll eine Gründung dem Vernehmen nach nun kurz bevorstehen.
Parallel ist Stratmanns MPG, obgleich sie als DER Inbegriff der Grundlagenforschung gilt, während seiner Präsidentschaft deutlich näher an die Wirtschaft herangerückt. So schlossen sich das Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme und die Universitäten Stuttgart und Tübingen mit Unternehmen wie Daimler, Bosch, Amazon und Facebook zu einer neuartigen Forschungskooperation zur künstlichen Intelligenz zusammen, Marketing-Name: "Cyber Valley". Und in der Zielvereinbarung, die Max Planck als Teil des neuen Paktes für Forschung und Innovation (PFI) eingegangen ist, kündigt das Präsidium um Stratmann ein "Maßnahmen-Paket zur Förderung von Gründungsvorhaben aus der MPG" an, inklusive eines neuen Co-Investmentfonds, der sich "gemeinsam mit qualifizierten Lead-Investoren an Ausgründungen aus der MPG als Kapitalgeber" beteiligen könne.
Stratmanns Idee mit der
Freiheits-Kampagne
Bleibt das Thema Wissenschaftskommunikation in Zeiten der Fake News. Auch hier ist die MPG unter Stratmanns Führung mehrfach positiv aufgefallen, der Präsident selbst gab den Anstoß für die bundesweite Kampagne "Freiheit ist unser System", die alle zehn Allianz-Wissenschaftsorganisationen gemeinsam gestartet haben. Sie feiern mit einer Vielzahl von Vorträgen und Diskussionsveranstaltungen 70 Jahre Grundgesetz und 70 Jahre Wissenschaftsfreiheit. "Wir sollten wachsam sein, um einer schleichenden Aushöhlung der Wissenschaftsfreiheit in Europa rechtzeitig entgegenzutreten", sagte Stratmann im April 2017 beim Münchner March for Science. "Denn die Wissenschaft ist nur so frei, wie es die Gesellschaft ist."
Genau fünf Jahre, nachdem er die Amtskette im Prinzregententheater umgehängt bekam, hat Stratmann gezeigt, dass er es kann. Viele über Jahrzehnte gewachsene Verkrustungen sind noch da, aber die MPG ist an vielen Stellen in Bewegung gekommen. Am Ende könnte sie nicht weniger exzellent sein, nicht weniger einzigartig, aber vielleicht ein Stückweit nahbarer, geerdeter.
Was bitter nötig ist: Im PFI haben Bund und Ländern den Forschungsorganisationen gerade erst eine finanzielle Planungssicherheit gegeben, von denen die Wissenschaft anderswo derzeit nur träumen kann: 86 Milliarden Euro bis 2030. Was umgekehrt den Erwartungsdruck, nun auch zu "liefern", enorm in die Höhe geschraubt hat.
Was auch immer dieses Liefern bedeutet: Dank Stratmann ist Max Planck wesentlich besser darauf vorbereitet als manch andere Allianz-Organisation. Denn wie kaum ein (kein?) MPG-Präsident vorher hat er seinen Job so begriffen, dass er über Max Planck hinausgeht. Er hat die Zeichen dieser unruhigen Zeit erkannt und sieht seine Verantwortung für die Wissenschaft und Gesellschaft als Ganzes. Im Zweifel stellt er diese sogar mal über die institutionellen Interessen.
Macht Stratmann denn nun
weiter oder nicht?
Morgen Abend, zum Höhepunkt des jährlichen MPG-Treffens, trifft sich die Festversammlung in der Altonaer Fischauktionshalle, Kiran Klaus Patel von der Universität Maastricht hält einen Festvortrag zum Thema "Europe in turmoil: Lessons from the History of European Integration". Eine Themensetzung, wie sie zu Stratmann passt und seinem Interesse am Großen und Ganzen.
Für die großen Veränderungen, die er in Angriff genommen hat, hatte er bislang die nötige Geduld und die Ruhe. Aber hat er auch künftig noch die Zeit?
Möglicherweise schon sehr bald wird feststehen, ob Martin Stratmann in eine weitere Amtszeit geht oder ob der Senat einen neuen Präsidenten zu seinem Nachfolger wählt. Die nächste Präsidentschaft beginnt genau in einem Jahr – natürlich wieder bei einer MPG-Jahresversammlung.
NACHTRAG AM 27. JUNI 2019, 18 Uhr:
Die Unklarheit ist vorüber: Heute hat der Senat der Max-Planck-Gesellschaft Martin Stratmann für eine zweite Amtszeit bestätigt. Zuvor hatte die zu diesem Zweck eingesetzte Senatskommission unter der Leitung des nichtwissenschaftlichen MPG-Vizepräsidenten Andreas Barner (dem ehemalige Konzernchef von Boehringer Ingelheim) Stratmann gebeten, erneut als Präsident zur Verfügung zu stehen, teilte die MPG per Pressemitteilung mit – "vor dem Hintergrund der positiven Rückmeldungen aus dem Kreis der Wissenschaftlichen Mitglieder" und weil die Kommission der Meinung gewesen gewesen sei, "dass angesichts der aktuellen Herausforderungen Kontinuität in diesem Amt besonders sei".
Etwas ungewöhnlich ist, dass Stratmann zwar wollte, aber hinzufügte: Aus persönlichen Gründen behalte er sich vor, das Amt vorzeitig niederzulegen, "ggf. mit Ablauf der Hauptversammlung 2023". Worin der Senat heute keine Hürde gesehen habe, teilte die Max-Planck-Gesellschaft mit, eine vorzeitige Amtsniederlegung sei auch mit der MPG-Satzung vereinbar. Die neue Amtszeit beginnt im Juni 2020, regulär gewählt ist Stratmann seit heute bis 2026.
Stratmann wird in der Pressemitteilung zitiert, dass er sich freue, den angestoßenen Prozess der Selbsterneuerung "in den kommenden Jahren noch weiter begleiten kann". Da innerhalb eines Jahrzehnts ein Großteil der MPG-Direktoren emeritiert werde, eröffneten sich neue Handlungsspielräume, die genutzt werden könnten.
Stratmann stellte heute auch die angekündigte Umfrage zur Arbeitskultur und Arbeitsatmosphäre bei Max Planck vor, durchgeführt vom Fraunhofer-Instituts für Arbeitsorganisation. Über 9000 MPG-Mitarbeiter hätten sich daran beteiligt, was 38 Prozent der Belegschaft entspricht. Die Ergebnisse sind teilweise bemerkenswert.
So berichteten rund zehn Prozent der Befragten, sie hätten nach eigener Einschätzung Erfahrung mit Mobbing am Arbeitsplatz gemacht – was laut Studie ein nach internationalen Erfahrungen "durchschnittlicher Wert" sei – was auch immer das heißt. Die Beschäftigten zeigten insgesamt ein hohes Commitment zur Organisation, doch es gab vor allem an den Führungskräften Kritik. Insbesondere Frauen, aber auch Doktoranden und Postdocs fühlen sich zu wenig in ihrer Karriere unterstützt. Erschreckend ist, dass 28,1 Prozent der deutschen Wissenschaftler und fast jede/r zweite EU-Ausländer/in angaben, sie kennten das Gefühl, ignoriert oder ausgeschlossen zu werden.
MPG-Präsident Stratmann kündigte an, Konsequenzen aus den Ergebnissen zu ziehen. Sie bildeten die Basis, um Maßnahmen für notwendige Veränderungsprozesse einzuleiten. "Prinzipien des wissenschaftlichen Handelns müssen um Prinzipien des Zusammenarbeitens ergänzt werden", sagte Stratmann. Indem neue Maßnahmen eingeführt und die bestehenden Maßnahmen noch besser in der Max-Planck-Gesellschaft verankert würden, solle ein Kulturwandel vorangetrieben werden. Zentral sei die Etablierung von Regelungen zum Umgang mit nichtwissenschaftlichem Fehlverhalten sowie ein Code of Conduct zu Führung. "Wir haben eine Null-Toleranz-Politik in Bezug auf Mobbing und sexuelle Belästigung", betont Martin Stratmann. Eine Anwaltskanzlei als Vertrauensperson wurde bereits beauftragt, und ein eigener Code of Conduct gegen sexuelle Diskriminierung existiert schon seit Anfang 2018.
Das Vertrauen der Mitarbeiter muss die Max-Planck-Führung an dieser Stelle trotzdem erst noch (zurück)-gewinnen. So gaben in der Umfrage knapp zwei Drittel der gemobbten Mitarbeiter an, sie hätten gar nicht erst Meldung erstattet. Und von denen, die die Vorfälle nicht meldeten, begründeten dies die Hälfte mit der Erwartung, dass die Meldung ohnehin keine Konsequenzen haben werde.
Mehr Informationen zur Studie und die Möglichkeit zum Download finden Sie auf der Website der MPG.
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Jetzt steht es fest (Donnerstag, 27 Juni 2019 16:44)
https://www.mpg.de/13625958/wiederwahl-martin-stratmann?c=2191