Die DFG legt einen neuen Kodex für den Umgang mit wissenschaftlichem Fehlverhalten vor. Sie zieht darin die richtigen Schlüsse aus einem zwei Jahre alten Fall.
DER KREIS SCHLIESST sich nach exakt zwei Jahren. Anfang Juli 2017 war es, bei der Jahresversammlung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) in Halle, als eine bekannte deutsche Materialforscherin doch noch den Leibniz-Preis erhielt, die höchste Auszeichnung, die die deutsche Wissenschaft zu vergeben hat. Das Publikum spendete Standing Ovations – für die wissenschaftliche Leistung, aber auch als symbolische Wiedergutmachung für die Tortur, die die damals 45-Jährige zuvor hatte durchmachen müssen.
Die Wissenschaftlerin hatte den Preis nämlich mit fast vier Monaten Verspätung erhalten. Weil ein anonymer Whistleblower sie wenige Tage vor der geplanten Verleihung im März des wissenschaftlichen Fehlverhaltens bezichtigt hatte. Die Vorwürfe waren komplex und nicht auf die Schnelle zu überprüfen. Woraufhin die DFG entschieden hatte, die Wissenschaftlerin bis zur Klärung der Vorwürfe von der bereits veröffentlichten Preisträgerliste zu streichen.
Im Laufe der Untersuchung erwiesen sich die Vorwürfe dann als falsch, doch die Wissenschaftlerin bleibt für immer diejenige, die bei der eigentlichen Preisverleihung nicht dabei war.
Vergangene Woche nun, nachdem die DFG-Jahresversammlung 2019 in Rostock zu Ende gegangen war, verkündete Präsident Peter Strohschneider vor der Presse: So etwas wird nicht noch einmal vorkommen. Das garantiert der neue Kodex "Leitlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis", den die DFG-Mitglieder in Rostock beschlossen haben. Die Unschuldsvermutung sei gestärkt worden, sagte Strohschneider. In einer vergleichbaren Situation würde künftig zunächst der Preis verliehen, um ihn bei Bestätigung der Vorwürfe gegebenenfalls abzuerkennen.
Im Rechtsstaat muss immer erstmal
die Unschuldsvermutung gelten
Die so vorgenommene Umkehrung ist keine Kleinigkeit, im Gegenteil: Sie ist als Fortschritt im angemessenen Umgang mit anonymen Anschuldigungen gar nicht hoch genug zu bewerten. Die können ihre Berechtigung haben und, wie Strohschneider zu Recht erläuterte, in einem von Hierarchien geprägten System wie der Wissenschaft haben viele Whistleblower gar keine andere Wahl, als namenlos zu bleiben. Und eine Organisation wie die DFG deshalb hat keine Wahl, als die Anschuldigungen trotzdem ernstzunehmen.
Allerdings muss in einem Rechtsstaat, und damit auch in der Wissenschaft, immer der Grundsatz gelten: Im Zweifel für den Angeklagten. Was heißt: Wenn eine Wissenschaftlerin auf Grund noch nicht erwiesener Anschuldigungen einen zugesagten Preis versagt bekommt, und sei es auch nur vorläufig, sieht das in der Öffentlichkeit aus wie eine Vorverurteilung. Das durchaus nachvollziehbare Argument, ein renommierter Wissenschaftspreis müsse in seiner Integrität geschützt werden, hat zurückzutreten hinter dem potenziellen Schaden eines potenziell zu Unrecht Beschuldigten.
Die Materialwissenschaftlerin hat das in aller Bitterkeit am eigenen Leib erleben müssen. Und die DFG hat das getan, was eine Organisation immer tun sollte: Sie hat gelernt. Sie hat die richtigen Schlüsse gezogen. In den Erläuterungen zur neuen Leitlinie 19 ist von "rechtsstaatlichen Verfahrensgrundsätzen" die Rede, und weiter steht dort: "Bis zum Nachweis eines wissenschaftlichen Fehlverhaltens werden die Angaben über die Beteiligten des Verfahrens und die bisherigen Erkenntnisse vertraulich behandelt."
Der neue Kodex ist gleich
doppelt bemerkenswert
Der in Rostock beschlossene Kodex ist damit gleich doppelt bemerkenswert: Zum einen, weil er, siehe oben, mehr Einzelfallgerechtigkeit schafft. Und zum anderen, weil die 19 Leitlinien eine deutliche Verschärfung, einen deutlich strengeren Umgang mit wissenschaftlichem Fehlverhalten bedeuten – ohne, wie Strohschneider ausführte, dabei vor allem von den Verstößen gegen die wissenschaftliche Praxis her zu denken als vielmehr "vom Berufsethos der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler her". Der Kodex beschreibt das, was die Standards guter wissenschaftlicher Praxis ausmacht, nimmt Qualität, Akteure und Verantwortlichkeiten entlang des gesamten Forschungsprozesses in den Blick, inklusive den zuletzt viel diskutieren Fragen der Autorenschaft, und regelt drittens sehr klar und detailliert, welche Verfahren und Grundsätze wie angewendet werden im Falle der "Nichtbeachtung guter wissenschaftlicher Praxis".
Die neuen Leitlinien, die unter anderem eine DFG-Denkschrift von 1998 ablösen, sind auch deshalb so wichtig, weil sie in bislang nicht gekannter Form die Folgen der Digitalisierung und der damit einhergehenden "Entwicklungen im... Publikationswesen" (nicht explizit genannt, aber mit gemeint sind hier Phänomene wie Predatory Journals) berücksichtigen. Alle Hochschulen und Forschungseinrichtungen müssen den Kodex jetzt rechtsverbindlich umsetzen, soll heißen: in die Logik ihrer eigenen Verfahren einbauen – sonst haben sie kein Anrecht mehr auf Fördermittel der DFG. Letzteres, betont der Forschungsförderer, sei auch bei den Vorgängerregelungen so gewesen.
Die Botschaft des neuen Kodex ist unmissverständlich: Wissenschaftliches Fehlverhalten ist eine gravierende Beschädigung des wissenschaftlichen Berufsethos und als solche entschieden zu verfolgen und, wenn nötig, zu ahnden. Diese Entschiedenheit darf jedoch nicht zu Lasten der Beschuldigten gehen – solange ihre Schuld nicht bewiesen ist. Denn manchmal besteht das eigentliche wissenschaftliche Fehlverhalten darin, jemand anderen eines solchen Fehlverhaltens zu bezichtigen.
Der Kreis schließt sich nach zwei Jahren. Der 2017 mit Verspätung ausgezeichneten Materialwissenschaftlerin wird, so ist zu hoffen, die wichtigste Veränderung, den der neue Kodex bringt, als eine Art nachträglicher Genugtuung erscheinen. Die DFG erweist ihr damit noch einmal die Ehre.
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