Medizin ist eine Wissenschaft – und ein Geschäft, das verführt. Umso mehr gilt: Die Disziplin muss ehrgeiziger an ihren Qualitätsstandards arbeiten. Ein Kommentar.
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DIE MAX-PLANCK-GESELLSCHAFT HAT vor zwei Wochen den Direktor ihrer Psychiatrischen Klinik in München entlassen – fristlos und bislang ohne offizielle Begründung. Gegen ihn ermittelt seit Jahren die Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts auf Abrechnungsbetrug. Nur einen Tag später gab das Universitätsklinikum Heidelberg bekannt: Die Vorstandsvorsitzende und die Kaufmännische Direktorin treten zurück, Grund: der Skandal um einen durch Heidelberger Mediziner zu Unrecht hochgejazzten Krebstest und der Umgang des Klinikvorstands damit.
Die zeitliche Nähe beider Meldungen war Zufall. Und doch gibt es womöglich eine Systematik, die sie verbindet mit so vielen anderen vermuteten oder bewiesenen Fällen, in denen die Medizin als wissenschaftliche Disziplin eine unrühmliche Rolle spielt. Allein für die Charité listet zum Beispiel die Online-Plattform Vroniplag Wiki 34 medizinische Doktorarbeiten und Habilitationen auf, deren Urhebern sie Täuschung vorwirft. Neun von ihnen hat die Charité bisher den Titel aberkannt.
Die Systematik, der Zusammenhang ist, so platt das zunächst klingen mag, Geld. Die Aussicht auf persönlichen Wohlstand, vor allem aber auf Macht und Ruhm, die Geld mit sich bringt. Und viel Geld ist das, was die Medizin von vielen anderen akademischen Fächern unterscheidet. Die Hochschulen in Deutschland hatten 2017 Einnahmen in Höhe von 54 Milliarden Euro. 18 Milliarden, ein Drittel davon, ging auf das Konto der Universitätsklinika.
Eine weitere schwindelerregende Zahl: 2018 haben die Deutschen laut Statistischem Bundesamt 387 Milliarden Euro für ihre Gesundheit ausgegeben, das macht mehr als eine Milliarde pro Tag – für Medikamente zum Beispiel, für Klinikaufenthalte, für Therapien und Arzthonorare.
In keinem Fach sind die persönlichen
Versuchungen so groß
Um es klar zu sagen: Der allergrößte Teil der Mediziner folgt einem tief in ihnen verwurzelten Idealismus. Sie forschen nach neuen Heilmethoden und sie behandeln ihre Patienten auf der Grundlage eines über 2000 Jahre alten Ehrenkodexes, der dem griechischen Mediziner Hippokrates zugeschrieben wird und der das Wohl der Menschen an die oberste Stelle stellt, nicht das persönliche Fortkommen.
Und doch sind die persönlichen Versuchungen in keinem Fach so groß, so verbreitet und so lukrativ wie in der Medizin. Sie beginnen damit, auf jeden Fall eine Doktorarbeit zu schreiben, weil das eben dazu gehört. Weil fast alle eine schreiben und die Betreuer es schon deshalb in der Vergangenheit mit den wissenschaftlichen Anforderungen nicht immer so genau genommen haben.
Insgesamt macht die Medizin mit 72 mehr als ein Drittel der bislang gut 200 von den Vroniplag-Plagiatsexperten untersuchten Verdachtsfälle aus, mindestens 22 von ihnen wurde bislang der Titel aberkannt. Zum Vergleich: Rund drei Prozent der Studierenden sind im Fach Humanmedizin eingeschrieben.
Die Versuchungen führen über den erbitterten Konkurrenzkampf des Medizinernachwuches in einem Berufsfeld, das so gut dotiert wie hierarchisch ist und in dem das Verschaffen kleiner Wettbewerbsvorteile karriereentscheidend sein kann. Und sie reichen bis zur Studien-Poserei weltbekannter Forscherkoryphäen, die man auch aus anderen Fächern kennt. Doch weckt ein wissenschaftlicher Durchbruch in der Gesundheitsforschung schneller als anderswo die Millionenfantasien und kann, siehe Heidelberg, zu hemmungslosen Übertreibungen verleiten. Nur dass Hype und Hippokrates eben so gar nicht zusammenpassen.
Die Medizin ist eine Wissenschaft. Sie ist Heilkunde. Sie ist aber auch ein Geschäft, sie muss es sogar sein. Was aber auch bedeutet: An ihren Qualitätsstandards und Korrektivsystemen muss sie ehrgeiziger als bislang arbeiten. Nicht nur in München, Heidelberg oder Berlin.
Dieser Kommentar erschien zuerst in meiner Kolumne "Wiarda will’s wissen" im Tagesspiegel.
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