Der Industriestaaten-Club stellt Deutschland ein insgesamt gutes Zeugnis aus – und übt erneut Kritik an der unzureichenden Finanzierung der Hochschulen.
Screenshot OECD.
575 SEITEN BERICHTE Statistiken, Tabellen: Das ist das, was der Industriestaatenverband OECD unter "Bildung auf einem Blick" versteht und wenig bescheiden als "führende internationale Vergleichsstudie zu Bildungsmöglichkeiten und Bildungsergebnissen" anpreist.
Die umfangreichste ist sie damit auf jeden Fall: Alle 36 OECD-Mitgliedsstaaten und zehn weitere Länder werden mit ihren Bildungssystemen anhand zahlloser Indikatoren untersucht, die Kernfragen: Wovon hängt der Bildungserfolg des einzelnen ab, und wie vielversprechend sind Investitionen in Bildung – für jeden Menschen persönlich, vor allem aber auch für Gesellschaften als Ganzes? Heute Vormittag wurde die Studie wie jedes Jahr Anfang September veröffentlicht.
Deutschland hat in der Vergangenheit bei derartigen OECD-Vergleichen mehrfach heftige Kritik einstecken müssen, vor allem wegen seiner vor allem früher vergleichsweise niedrigen Akademikerquote. Damit indes ist es seit einigen Jahren vorbei: Das Argument, dass auf viele Berufe, für die anderswo studiert werden muss, hierzulande die duale Berufsausbildung vorbereitet, und das nicht minder qualifiziert, ist auch in der OECD-Zentrale in Paris angekommen. Gleichzeitig haben anderthalb Jahrzehnte Arbeitsmarktboom und Akademiker-Vollbeschäftigung dazu geführt, dass die Studierneigung der jungen Menschen in Deutschland fast schon exponentiell angestiegen ist.
OECD-Bildungschef Andreas Schleicher lässt mittlerweile kaum eine Gelegenheit aus, Deutschland für sein duales System zu loben, während Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) bei jungen Menschen unermüdlich dafür wirbt, bloß nicht die Attraktivität der Berufsausbildung zu unterschätzen.
"Gute Voraussetzungen für den digitalen Wandel",
befindet die Bundesbildungsministerin
Karliczek hat die Studie heute Vormittag vorgestellt, zusammen mit dem derzeitigen Präsidenten der Kultusministerkonferenz, dem hessischen Kultusminister Alexander Lorz (ebenfalls CDU). Diesen Termin lassen sich BMBF und KMK schon deshalb nicht nehmen, um der Rezeption von "Bildung auf einen Blick" gleich den richtigen Spin zu geben.
"Gute Voraussetzungen für den digitalen Wandel", haben sie ihre gemeinsame Pressemitteilung überschrieben: "Deutschland überzeugt in OECD-Studie mit starker MINT-Orientierung und hoher Bereitschaft zur Weiterbildung". Karliczek sagte: "Das deutsche Bildungssystem kann sich sehen lassen." Und Lorz befand: "Der Bericht zeigt, dass die Länder auf dem richtigen Weg sind."
Erstaunlich selbstbewusste Töne für den Präsidenten der KMK, der die Bertelsmann-Stiftung noch gestern und schon zum wiederholten Male bescheinigt hatte, ihre Lehrerbedarfs-Prognosen seien veraltet. Doch tatsächlich enthält der heutige Bericht viele positive Nachrichten für Deutschland.
Gut 40 Prozent der Anfänger eines Studiums oder (wie gesagt, die OECD hat gelernt) eines gleichwertigen beruflichen Programmes entscheiden sich laut Studie für ein MINT-Fach (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) – im OECD-Vergleich ein Spitzenwert, wie Ministerin Karliczek ausführte. MINT-Absolventen erreichen zudem enorm hohe Beschäftigungsquoten und stark überdurchschnittliche Gehälter.
Deutschland investiert überdurchschnittlich
viel in seine Kitas
Auch am Anfang der Bildungsbiographie hat Deutschland sich positiv entwickelt. Fast alle 3- bis 5-Jährigen besuchen inzwischen eine Kita, und bei den unter 3-Jährigen hat sich die Quote der Kitakinder zwischen 2005 und 2017 von 17 auf 37 Prozent mehr als verdoppelt. Damit liege Deutschland im Trend der OECD, besagt die Studie. Besser als in vielen Länder haben sich in Deutschland die Pro-Kopf-Ausgaben für frühkindliche Bildung entwickelt. Sie liegen pro Kind bei gut 16 000 US-Dollar und damit 34 Prozent über dem OECD-Schnitt.
Dass Lehrer in Deutschland vergleichsweise viel verdienen, berichtet die OECD jedes Jahr aufs Neue, genau genommen liegen die Einstiegsgehälter fast doppelt so hoch wie im internationalen Schnitt. "Der Lehrerberuf ist in Deutschland nach wie vor eine attraktive Laufbahn", befindet die OECD: eine wichtige Aussage angesichts des akuten Lehrermangels. KMK-Präsident Lorz kommentierte denn auch eher defensiv: "Das Gehalt ist zwar nur ein Anreiz von vielen. Es drückt aber auch eine Wertschätzung aus, nichtsdestotrotz wir müssen den Lehrerberuf darüber hinaus weiter attraktiv gestalten."
Allerdings sind die Lehrer in Deutschland auch deutlich älter als anderswo. 42 Prozent der Lehrer in der Primar- und Sekundarstufe waren 2017 älter als 50, in allen OECD-Ländern zusammengerechnet gilt dies nur für 36 Prozent der Lehrer.
Laut "Bildung auf einem Blick" spielt in Deutschland auch die Weiterbildung eine überdurchschnittlich große Rolle. Mehr als die Hälfte aller Erwachsenen nehme am lebensbegleitenden Lernen teil, betonen Karliczeks Ministerium und die KMK. Auch bei den 55- bis 64-Jährigen liege die Beteiligung mit 44 Prozent "noch weit über dem OECD-Durchschnittswert von 33 Prozent".
Die Studie aus Paris enthüllt
eine Reihe von Baustellen
Also alles gut, alles toll? Nun ja. Die Studie aus Paris enthüllt eine Reihe von Baustellen. Die wichtigste: Die stark gewachsene Zahl der Studenten in Deutschland hat keine ausreichende
finanzielle Unterlegung gefunden. Konkret heißt das: Zwischen 2005 und 2016 haben die Ausgaben für den Tertiärbereich insgesamt in etwa so stark zugenommen wie die Zahl der Studenten. "Damit
waren die Ausgaben je Studierenden im Tertiärbereich in Deutschland 2016 etwa genauso hoch wie im Jahr 2005", heißt es in der Studie – nach 11 Jahren Inflation freilich.
Und auch wenn die Ausgaben pro Student in Deutschland 2016 mit 17 429 über dem OECD-Schnitt von 15 556 US-Dollar lagen, ist die Zahl gleich zweifach mit Vorsicht zu genießen: Erstens liegt die
Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung in Deutschland noch viel weiter vom OECD-Mittel entfernt, es ginge also mehr, und zweitens entfällt in kaum einem Land so viel von den Tertiärausgaben (43 Prozent)
auf Forschung und Entwicklung und nicht auf Bildung. Also ja, Bund und Länder haben massiv mehr in die Wissenschaft investiert, aber davon kam unterdurchschnittlich viel bei den Studenten an und
– Pakt für Forschung und Innovation lässt grüßen – offenbar sehr viel bei der Spitzenforschung. Das lässt sich in Zahlen ausdrücken: An reinen "Bildungsgütern und –leistungen" investierte
Deutschland laut OECD 8866 Dollar – im Vergleich zu 10 351 im Schnitt aller untersuchten Länder.
Problematisch ist auch, dass die hohen Erträge eines Hochschulstudiums zwar für die MINT-Fächer gelten, aber eben nicht in gleichem Maße für die Absolventen aller Studiengänge. Wer Kunst und Geisteswissenschaften, Sozialwissenschaften, Journalismus und Informationswesen studiert oder in diesen Fächern eine Ausbildung gemacht hat, berichtet die OECD, habe in Deutschland "die schlechtesten Arbeitsmarktergebnisse". 86 Prozent von ihnen sind erwerbstätig, sie verdienen aber nur 33 Prozent mehr als Erwachsene ohne Tertiärabschluss, die einen Sekundar-II-Abschluss haben. Zum Vergleich führt die OECD die Ingenieure an: Sie sind zu 91 Prozent beschäftigt und verdienen satte 116 Prozent mehr. Dies entspreche einem der höchsten Lohnvorteile in den OECD-Ländern.
Apropos Sorge vor einem "Akademikerwahn": Laut OECD liegt die Quote der Akademiker unter allen Abschlüssen zuletzt mit 44 Prozent immer noch unter dem internationalen Schnitt, was – Zitat aus der Studie, die OECD hat ja gelernt – "größtenteils dem starken Berufsausbildungssystem zuzuschreiben ist". Die Ergebnisse zeigten, dass trotz der gestiegenen Studierendenzahlen das Angebot an hochklassigen Arbeitsstellen immer noch nicht die Nachfrage übersteige. "Im Gegenteil: Wer einen höheren Bildungsabschluss besitzt, verdient im Schnitt mehr – und zwar über alle Fachrichtungen hinweg – und ist seltener arbeitslos." Ludger Schuhknecht, OECD-Vize-Generalsekretär, sagte bei der Vorstellung der Studie: "Bildung lohnt sich, und es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass der Arbeitsmarkt für höhere Qualifikationen gesättigt ist."
Der grüne Bildungsexperte und Bundestagsabgeordnete Kai Gehring sagte, der OECD-Bildungsbericht sei ein klarer Auftrag an Bund und Länder, in mehr Chancen für alle zu investiere. Trotz einzelner Lichtblicke spiele das deutsche Bildungssystem nicht in der internationalen Spitzengruppe mit. "Bröckelnde Schulgebäude und baupolizeilich gesperrte Hörsäle sind sichtbarste Zeichen für die Unterfinanzierung der Bildung. Ein Land, dessen Erfolg auf die Neugier und Kreativität der Menschen angewiesen ist, darf sich das nicht erlauben."
Bei aller Freude über "die guten Ergebnisse", sagte KMK-Präsident Lorz, gelte es künftig vor allem, die Bildungschancen der Zugewanderten zu erhöhen sowie zielgerichtete Bildungsangebote für Geringqualifizierte zu schaffen. "Zudem müssen wir Frauen stärker für die berufliche Bildung und Männer stärker für ein Lehramtsstudium begeistern, da hier die Geschlechterunterschiede zu groß sind und unseren Fortschritt bremsen." Bundesministerin Karliczek sagte, sie wolle "das Tempo hochhalten und die Bildung für die Welt von morgen jetzt umsetzen."
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