Ist das Einwerben von Forschungsfördergeldern wirklich ein "Prostituierungsphänomen der Wissenschaft", wie ein Göttinger Professor gesagt hat? Eine Replik von Daniel Graewe.
University of California at Berkeley (links), Altes Auditoriengebäude der Universität Göttingen. Fotos: "University of California, Berkeley" / Daderot - cco ; "Altes Auditoriengebäude der Uni Göttingen" / Illustratedjc - CC BY-SA 4.0.
UNTER DER "GEFÜHLTEN Temperatur" versteht man die wahrgenommene Temperatur, die von der tatsächlichen Lufttemperatur abweichen kann, etwa weil es windig ist oder eine hohe Luftfeuchtigkeit herrscht. Es gibt auch eine "gefühlte Entfernung", die von der tatsächlichen Entfernung abweicht, etwa weil der Weg besonders steil oder man vom bereits zurückgelegten Weg schon erschöpft ist.
Heute beträgt die tatsächliche Lufttemperatur in Berkeley 30 Grad Celsius, die gefühlte Temperatur liegt mit 33 Grad Celsius nur leicht darüber. Die tatsächliche Entfernung nach Göttingen beträgt gut 9.000 Kilometer, die gefühlte Entfernung liegt normalerweise deutlich darüber; nur nicht heute. Heute ist Göttingen noch viel weiter entfernt.
Den Grund dafür bildet ein Artikel, der schon vor ein paar Tagen erschienen ist, aber aufgrund der großen Entfernung erst heute seinen Weg auf den Campus der University of California gefunden hat. Darin wird der Göttinger Theologieprofessor Thomas Kaufmann zitiert, Wortführer einer Professorengruppe, die gegen die Wahl eines neues Universitätspräsidenten rebelliert hat.
Drastische Worte, die zwingen, sie
zunächst auf sich wirken zu lassen
Dort ist zu lesen, man befürchte Prostituierungsphänomene, als Professoren Empfänger von Managementvorgaben zu werden und für Drittmittel anschaffen gehen zu müssen, nur um am Ende ein paar Zulagen zu erhalten. Drastische Worte, die zwingen, sie zunächst auf sich wirken zu lassen.
Daniel Graewe ist Professor für Wirtschaftsrecht und Direktor des Instituts für angewandtes Wirtschaftsrecht der privaten Nordakademie in
Hamburg. Zurzeit forscht er
als Fulbright Scholar an der University of California at Berkeley.
Foto: privat.
Der Blick schweift ab, von der Terrasse des International House und vom Tablet auf dem der Artikel zu lesen ist, vorbei an den großen, sandfarbenen Gebäuden der Law School, angesiedelt ganz am Rande des weitläufigen Campus in der San Francisco Bay Area, an deren Horizont die Golden Gate-Brücke das Tor zum Pazifik markiert, eingerahmt nur vom Blau des Wassers und des wolkenlosen Himmels.
Drittmittelakquise als Prostitution. Das Erfüllen von Managementvorgaben für ein paar Zulagen. Diese Worte klingen hier wie aus der Zeit gefallen, wie aus einer anderen Welt.
Hier, das ist Berkeley, eine der besten Universitäten der Welt, Referenz in Forschungsstärke quer durch alle wissenschaftlichen Disziplinen, mit speziell reservierten Parkplätzen nur für Nobelpreisträger.
Hier wurden bislang sechzehn chemische Elemente entdeckt, dunkle Materie erforscht und der Lügendetektor entwickelt. Im letzten Jahr wurden nur 15 Prozent aller Bewerber für ein Studium zugelassen, aber zu den Alumni zählen die Gründer von Apple, Ebay, Intel, Tesla und vieler anderer mehr.
Wer in Berkeley Drittmittel einwirbt,
tut das, weil er es kann
Ob sich ein Professor hier als Prostituierter fühlt, weil er versucht Drittmittel einzuwerben? Für ein paar Zulagen? Nein, wer hier Drittmittel einwirbt, der tut das, weil er es kann. Weil er fachlich so gut ist, dass seine Anträge gelesen werden und weil er so interessante Forschungsprojekte hat, dass Geldgeber sie für förderungswürdig halten. Drittmittel, das ist hier ein Maßstab für Anerkennung und Exzellenz. Wer keine Drittmittel einwirbt, bei dem stellt sich schnell die Frage, warum er niemanden außerhalb der Hochschule von sich und seinen Projekten überzeugen kann. Und für Zulagen stellt man Drittmittelanträge hier schon gar nicht.
Die Gehälter aller Universitätsangehörigen sind öffentlich einsehbar: Man muss bei den Professoren schon bis auf Platznummer 130 herunterscrollen, um zu einem Grundgehalt von weniger als 250.000 US-Dollar zu gelangen. Nur für Zulagen arbeitet hier niemand. Es ist die Wissenschaft, die die Menschen begeistert und antreibt. Die Generierung von Wissen und seine Weitergabe an die Studierenden, mit Respekt und auf Augenhöhe. Das wird besonders in den Vorlesungen deutlich.
Ein Professor, Grundgehalt rund 290.000 Dollar, Bestsellerautor und Kolumnist der New York Times, interessiert sich tatsächlich in den Kursen für die Meinung seiner Studierenden, es werden regelmäßig offene Gespräche geführt und wenn ein Student mal etwas nicht verstanden hat, geht der Professor mit ihm auch die Aufgaben in seinem Büro einzeln durch. Ein solches Arbeitsklima, geprägt von gegenseitigem Vertrauen und Respekt, auch für andere Meinungen, ist nicht nur ungemein befruchtend für alle, es führt auch dazu, dass sich die Professoren vor Anfragen der Studierenden, sie in ihrer Forschung zu unterstützen, nicht mehr retten können.
Irgendwo zwischen den Extremen ist das
deutsche Hochschulwesen angesiedelt
Über die Hälfte aller Studierenden in Berkeley sind – in welcher Form auch immer – in Forschungsprojekte eingebunden. Das Ergebnis sind schon in frühen Jahren Lebensläufe, die einen für höhere Aufgaben empfehlen. Dafür zahlen die jungen Menschen aber auch einen hohen Preis; in materieller und immaterieller Hinsicht: In materieller Hinsicht hat ein Studierender, der Bachelor- und Masterabschluss an der "Cal" erworben hat, an Studiengebühren, Beiträgen und anderen Kosten im Schnitt rund 100.000 Dollar auf der Soll-Seite zu verbuchen. In immaterieller Hinsicht führt die hohe Leistungsbereitschaft zu einem hochkompetitiven Umfeld, das nicht jeder Studierende jahrelang psychologisch problemlos verkraftet.
Zwischen diesen beiden Extremen, dem rebellierenden Kirchenhistoriker und der globalen Hochleistungsuni, ist irgendwo das deutsche Hochschulwesen angesiedelt. Eingehegt zwischen ewiger Bolognareform, öffentlich-rechtlicher Budgetplanung, Exzellenzförderung und den wenigen privaten Wettbewerbern. Was aber nach alldem doch am Ende festzuhalten bleibt ist, dass das "gute" alte Bild der Universität, wo es die Ordinarien für sich allein unternahmen, neues Wissen zu erschaffen und in den Vorlesungen den Studierenden gewährten, an ihrem Wissen in Monologform ein Stück weit teilzuhaben, zu Recht überholt ist. Und es spiegelt auch – zum Glück – in Deutschland zum großen Teil nicht mehr die Wirklichkeit wider. Das gleiche gilt für den Umgang mit den Studierenden.
Aber dennoch, es liegt tatsächlich noch ein langer Weg vor unseren Hochschulen. Ein Weg, der gefühlt noch sehr viel länger ist. Fast so lang, wie der von Berkeley zur Theologischen Fakultät nach Göttingen.
Dieser Gastbeitrag erschien in einer gekürzten Fassung zuerst als Leserbrief in der Süddeutschen Zeitung.
Kommentar schreiben
tmg (Mittwoch, 25 September 2019 08:41)
Herr Graewe ist sichtlich beeindruckt von der Institution Berkeley mit ihren für Nobelpreisträger reservierten Parkplätzen, in der er sich dank eines Stipendims für ein Weilchen aufhalten darf, und man erfährt so einiges über Temperaturen, das Blau des Himmels und die Gebäudefarbe in Berkeley. Darüberhinaus erfahren wir im Grunde nur noch wie hoch Grundgehälter von Professoren und Schulden von Absolventen an US-amerikanischen Eliteuniversitäten sind, dass diese Professoren Drittemittel einwerben weil sie es können (also nicht müssen?) , dass es aber einen schlechten Eindruck macht, wenn sie keine Drittmittel einwerben, und - zuguterletzt - dass die deutschen Universitäten zwischen einem rebellierenden Kirchenhistoriker und globalen Hochleistungsunis angesiedelt sind.
Hmm. Ausser der Botschaft, dass Herr Graewe Berkeley findet und ungemein stolz ist, dort zu sein - geschenkt -
kann ich leider keinen Inhalt entdecken. Geschweige, ein
Argument, dass die Auffassung des ''rebellierenden Kirchenhistorikers'' Thomas Kaufmann widerlegen würde.
Frankie (Mittwoch, 25 September 2019 09:26)
Der erste Kommentar hat meine Gedanken beim Lesen schon exakt auf den Punkt gebracht. Gratulation an Herrn Graewe, dass er in den Zirkeln unterwegs ist, die er als die einzig angemessenen ansieht.
Eine mehr inhaltlich gelagerte Replik auf die Kritik aus Göttingen wäre trotzdem noch interessant.
kaum (Mittwoch, 25 September 2019 09:42)
Man kann ja von dem Beitrag in der Tat halten was man will, aber zentral ist doch das Argument: Interessante, förderungswürdige Forschung. Drittmittel als Anerkennung für Leistungsfähigkeit.
Wichtiger m.E. wäre noch das Argument: Wer will heutzutage ohne Drittmittel überhaupt noch adäquat forschen können? Wer verdient eine von den Bürgern bezahlte Professorenbesolung mit entsprechender Pension wenn er/sie einen Teil seines/ihres Auftrags (Forschung) nicht ordentlich erledigen kann, weil er/sie keine Drittmittel hat. Für einige Fächer, die sich durch geringen materiellen Aufwand und wenig Arbeitsteilung auszeichnen, mag das noch gehen, aber in allen anderen nicht mehr.
Mannheimer Studi (Mittwoch, 25 September 2019 10:21)
Ich kann die Schelte für diesen Artikel nicht nachvollziehen. Ebenso wenig wie ich die verlotternde Sprache der Ewiggestrigen gegenüber unserem modernen Wissenschaftssystem nachvollziehen kann.
Wer argumentativ auf Probleme der Drittmittelkultur für die Unabhängigkeit der Forschung hinweisen möchte soll das tun und ggf. meine Zustimmung ernten. Wer jedoch Drittmittel pauschal als Prostitution abtut hat jegliches Maß verloren.
Th. Klein (Mittwoch, 25 September 2019 11:22)
Sich "prostituieren" zu müssen, um forschen zu können, würde bedeuten, dass man als ProfessorIn ohne Drittmittel gar nicht mehr forschen könnte. Dies ist m.E. schlicht falsch. Insbes. als Kirchenhistoriker kann ich mich in mein Kämmerlein zurückziehen, um mich mit denjenigen Fragen zu beschäftigen, die mich interessieren. Dies ist nicht ressourcenintensiv, auch wenn sich jeder zusätzliches Personal wünscht, um größere Projekte zu machen oder entlastet zu werden. Sowohl die Wissenschaftsfreiheit als auch die Hochschulregeln geben einem Professor/einer Professorin noch immer genug Spielraum dafür (8-9 SWS, Freisemester etc.), auch wenn W3 nicht so großzügig ist wie die Gehälter in Berkeley.
R. Joachim (Samstag, 28 September 2019 17:57)
Die Debatte (exemplarisch in Göttingen) ist m.E. ziemlich festgefahren. Man sollte vielleicht mal in Ruhe nachlesen,
was man über viele Themen findet bei George Turner "Hochschulreformen - eine unendliche Geschichte seit den
1950er Jahren" (1988).
R. Joachim (Sonntag, 29 September 2019 21:37)
Korrektur zu Nr. 6: Buch von G. Turner (2018).
Gregor Bucher (Sonntag, 06 Oktober 2019 09:44)
Ich werbe Drittmittel ein, damit ich meine Forschung betreiben kann. Und bin von der Uni Göttingen - einer der Drittmittel-stärksten Unis Deutschlands.