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Was tun, damit Mathe kein Hassfach wird?

Der Versuch, die Schüler mit Pseudo-Anwendungsbezügen zu motivieren, muss schiefgehen, meint ROLAND SCHRÖDER. In seinem Gastbeitrag plädiert der frühere Gymnasiallehrer für die Vermittlung der Mathematik als "grandioses Spiel des Geistes".

Grafik: MB nach Roland Schröder.
Grafik: MB nach Roland Schröder.

WENN MAN EINE repräsentative Umfrage unter Schülerinnen und Schülern in Deutschland starten würde über die Beliebtheit des Schulfachs Mathematik, käme in der Tendenz das heraus, was die nebenstehende Grafik zeigt. Verhasst, sehr verhasst und unbeliebt wären, so lautet meine Vermutung, die am häufigsten genannten Antworten. Über das Ausmaß der Unbeliebtheit der Mathematik kann man streiten, über die Unbeliebtheit an sich wohl kaum. 

 

Der Didaktiker Wolfgang Schlöglmann hat Gründe gesucht, warum so viele Schülerinnen und Schüler das Fach Mathematik hassen, und sie darum ausführlich befragt. Aus den von Schlöglmann gesammelten Antworten möchte ich diejenige eines Oberstufenschülers herausgreifen, weil sie für mich ein Grundmissverständnis verdeutlicht. Seine Antwort zeigt, dass viele Schülerinnen und Schüler offenbar gar nicht genau wissen, warum sie Mathe nicht mögen. Oder anders gesagt: Sie glauben den Grund ihrer Aversion zu kennen,  aber sie irren sich.  Der Schüler sagt, dass das Fach unbeliebt sei, liege daran, "dass man mit der höheren Mathematik im Alltag nicht sehr viel anfangen kann und eigentlich auch nirgends – außer in der Schule – damit konfrontiert wird." 

 

Der Schüler übersieht, dass viele bereits in der Mittelstufe das Fach Mathematik hassen, obwohl hier noch überwiegend Alltagsmathematik gelehrt wird. Am Schluss seiner Äußerung widerspricht sich der Schüler sogar teilweise selbst. "Wie man das ändern könnte", sagt er, "ist theoretisch ganz klar: Den Unterricht interessanter gestalten und realitätsnahe Aufgaben stellen." Wo sollen denn die realitätsnahen Aufgaben herkommen, wenn man, wie der Schüler zuvor beklagt, "mit der höheren Mathematik im Alltag nicht sehr viel anfangen kann"?


Roland Schröder ist pensionierter Gymnasiallehrer für Mathematik und Sport. Er hat an Auslandsschulen in Addis Abeba, Riad und Istanbul gearbeitet. Sechs Jahre lang war er ins Niedersächsische Umweltministerium abgeordnet. Foto: privat.


Die Vorstellung, je anwendungsnäher Matheaufgaben seien, desto motivierter würden Schülerinnen und Schüler und desto beliebter wäre folglich die Mathematik, ist unter Didaktikern weit verbreitet. Sie bleiben hartnäckig bei ihrer Überzeugung, obwohl der anwendungsnahe Ansatz ganz offensichtlich gescheitert ist. Sie nehmen sogar in Kauf, dass der Praxisbezug der meisten Aufgaben in Lehrbüchern und Klausuren künstlich und realitätsfern konstruiert ist – was die Schülerinnen und Schüler wiederum merken und was sie noch frustrierter werden lässt.

Allerdings tun die Didaktiker so nichts Anderes, als den gültigen Richtlinien zu folgen. Diese sehen nämlich gar nicht vor, den wissenschaftlichen Ansatz des Modellierens zu vermitteln.

 

Das würde, so die Überzeugung, weit über schulische Möglichkeiten und Lernziele hinausführen. Vielmehr


soll grundlegender, schulischer Mathematikstoff geübt werden. Dann wird eben der Verlauf eines Flusses oder einer Straße, um die Anwendungsnähe zu erzwingen, zu einer kubischen Parabel, was in beiden Fällen zwar nicht der Realität entspricht, aber den klassischen Schulstoff thematisiert.

 

Der Vorschlag des von Schlögmann befragten und von mir zitierten Schülers, den Matheunterricht interessanter zu gestalten, ohne freilich genau zu sagen, wie, ist aller Ehren wert. Doch kommt die Mathematikdidaktik in dem Versuch, genau dieses "interessanter" irgendwie hinzubekommen, zu dem Fehlschluss, die Motivation der Schülerinnen und Schüler werde nur aus der Einsicht erwachsen, dass Mathematik attraktive Anwendungsmöglichkeiten im Alltag bietet. 

Ein Bemühen, diesem Dilemma aus Pseudoanwendungen und ausbleibender Motivation der Schülerinnen und Schüler zu entkommen, ist in der Wissenschaft der Didaktik nicht erkennbar.

 

Der Didaktiker Lynn Arthur Steen (1941 bis 2015) hat diese Situation so beschrieben: "Mathematikdidaktik bearbeitet ein Feld der Unordnung, ein Feld, auf dem große Hoffnungen auf eine Erziehungswissenschaft von Komplexität und in einem Meer konkurrierender Theorien ertränkt wurden."

 

Den konkurrierenden Theorien nun eine weitere hinzuzufügen erscheint im ersten Zugriff sinnlos. Vermutlich ist das der Grund, warum erfahrene Schulpraktiker es oft gar nicht erst versuchen, einen ganz neuen Ansatz zu finden. Ich will im Folgenden aber dennoch einen vorschlagen. 

 

Mathematik – auch höhere Mathematik – kann eine interessante Disziplin sein, wenn man sie Schülerinnen und Schülern

 

o als grandioses Spiel des Geistes vermittelt, 

o  ihre Schönheit erkennbar macht und 

o erlebbar macht, wie mathematisches Wissen entsteht. 

 

Mathematikunterricht sollte in diesem Sinne möglichst viele Gelegenheiten bieten, etwas zu entdecken. Schon die Grundschulmathematik bietet dazu zahlreiche Anlässe. So kann ein Grundschüler entdecken, dass er nur Teile des Einmaleins zu lernen braucht, weil andere Teile daraus herleitbar sind. In diesem Zusammenhang wird implizit das Kommutativgesetz der Multiplikation entdeckt. Beim Übergang zum großen Einmaleins kommt es zwangsläufig zur Anwendung des Distributivgesetzes. Die entdeckten Gesetze werden zwar erst in der Mittelstufe thematisiert aber solche Wesensmerkmale der Mathematik können schon in der Grundschule geahnt werden.

In der Mittelstufe wiederum kann zum Beispiel der Satz des Pythagoras von Schülerinnen und Schülern entdeckt werden. Dazu müssen sie den Auftrag erhalten, eine ebene Fläche mit quadratischen Fliesen zweier Größen zu parkettieren und anschließend ein größeres Quadrat in geeigneter Lage darauf zu legen, sodass die Parkettlinien  das große Quadrat in Teilstücke zerschneiden, aus denen sich die kleineren Quadrate des Parketts zusammensetzen lassen.  

 

In der Oberstufe schließlich können Methoden der Infinitesimalrechnung

Grafik: Roland Schröder


selbständig entdeckt werden beim Versuch, den Inhalt einer krummlinig begrenzten Fläche mit einer möglichst hohen Genauigkeit zu beschreiben. Die Steigung eines nicht gradlinigen Graphen in einem Punkte kann über die Darstellung eines Wanderweges im Geländequerschnitt eingeführt werden in Verbindung mit der Frage: "Wo hat es der Wanderer besonders leicht oder schwer?" Womit nebenbei gesagt sogar eine anwendungsnahe Aufgabe gefunden ist. 

 

Alle diese Beispiele handeln (auch wenn es im letztgenannten Beispiel anders aussieht) nicht in erster Linie von einer Anwendung der Mathematik, sondern machen für die Schülerinnen und Schüler erlebbar, wie mathematische Wissensbildung geschieht. Wollte man das globale Lernziel des Mathematikunterrichtes in der Vermittlung dieses Erlebnisses sehen, würden vier Dinge erreicht:

 

o Mathematik wird zum (Erfolgs-)Erlebnis,

o die Tür zur Anwendung von Mathematik wird geöffnet,

o Begriffe und Sätze der Mathematik werden verstanden,

o der Sinn von Gesetzen wird erkannt.

 

Aber dieses globale Lernziel "erlebbar machen, wie mathematische Wissensbildung geschieht" würde voraussetzen, dass der Lehrer oder die Lehrerin eine Idee davon hat, was Mathematik ihrem innersten Wesen nach ist. Doch diese charakteristischen Wesensmerkmale der Mathematik werden von den meisten Didaktikern unserer Zeit für nicht-existent erklärt. Die Mathematik, argumentieren sie, ändere sich ständig und niemand könne daher eine Definition des Begriffes Mathematik formulieren. Sie erklären die Frage "Was ist Mathematik?" daher für ‚falsch gestellt‘ und ersetzen sie durch die Frage "Wozu dient Mathematik?" Doch dabei lassen sie außer Acht, dass jede Änderung der Mathematik genau genommen nur in ihrem Wachstum begründet ist, bei dem ihre zentralen Wesenszüge erhalten bleiben. Jedenfalls können sich zwei mathematisch vorgebildete Menschen sehr schnell in der Frage einigen, ob ein Gesprächsthema zur Mathematik gehört oder nicht.

 

Ein Mathematikunterricht, der erlebbar macht, wie mathematische Wissensbildung geschieht, entfaltet die Mathematik als grandioses Spiel des Geistes und lässt ihre Schönheit immer wieder aufscheinen.  In einem solchen Mathematikunterricht geht es immer wieder um eigene Entdeckungen. Diese bewirken Erfolgserlebnisse und sind damit für Neugierige und Hartnäckige motivierend. Und für Schülerinnen und Schüler, die überhaupt irgendetwas in der Schule lernen wollen, bliebe auf dieser Weise kein Raum mehr für Hass auf die Mathematik. 




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Kommentare: 8
  • #1

    Thomas Höhmann (Dienstag, 12 November 2019 10:25)

    Beispiel, schlecht:
    "Dann wird eben der Verlauf eines Flusses oder einer Straße, um die Anwendungsnähe zu erzwingen, zu einer kubischen Parabel, was in beiden Fällen zwar nicht der Realität entspricht, aber den klassischen Schulstoff thematisiert."

    Beispiel, gut:
    "Die Steigung eines nicht gradlinigen Graphen in einem Punkte kann über die Darstellung eines Wanderweges im Geländequerschnitt eingeführt werden, ... womit ... sogar eine anwendungsnahe Aufgabe gefunden ist. "

    Wirklich?

  • #2

    Mannheimer Studi (Dienstag, 12 November 2019 10:57)

    @Höhmann: Das habe ich auch gedacht. Abgesehen von den Beispielen mit dem kleinen und großen Einmaleins habe ich die Beispiele übrigens genau so in der Schule präsentiert bekommen. Natürlich ist das eine rein anekdotische Argumention von meiner Seite. Allerdings argumentiert der Artikel auch rein anekdotisch. Nett zu lesen und sich dabei auf die Schulter zu klopfen wie toll die Mathematik doch ist. Allerdings erschließt sich mir der Mehrwert nicht ganz.

  • #3

    Jörn Loviscach (Dienstag, 12 November 2019 14:56)

    Mich treibt dieses Thema schon lange um. Jüngst:
    https://j3L7h.de/blog/2019-06-02_11_40_Die%20Zerst%C3%B6rung%20der%20Mathematik
    https://j3L7h.de/blog/2019-03-30_21_06_Zehn%20Jahre%20Mathe%20%26%20Co.%20auf%20YouTube
    https://j3L7h.de/blog/2018-12-02_16_09_Wie%20viel%20Mathematik%20man%20im%20Job%20ben%C3%B6tigt
    https://j3L7h.de/blog/2019-05-10_13_12_Zu%20den%20bayerischen%20Mathe-Abituraufgaben
    https://j3L7h.de/blog/2019-06-25_17_52_Griechisch-lateinisches%20Handicap%20in%20der%20Mathematik
    https://j3L7h.de/blog/2019-06-08_19_00_Singapur-Mathematik%20%22unlikely%20to%20offer%20a%20quick%20fix%22
    https://j3L7h.de/blog/2018-11-24_18_39_%C3%9Cberraschendes%20%28%3F%29%20zum%20Mathematik-Lernen

  • #4

    Roland Schröder (Dienstag, 12 November 2019 16:06)

    Lieber Jörn,
    ich gebe zu, bisher nur einen Deiner Links geöffnet und gelesen zu haben. Was ich da las, war sehr interessant. Nun interessiert mich Deine Stellung zu meiner These: "Schulischer Mathematikunterricht sollte erlebbar machen, wie mathematische Wissensbildung geschieht."

  • #5

    Jörn Loviscach (Dienstag, 12 November 2019 17:00)

    Nicht nur erlebbar machen, sondern Freude daran verschaffen, insbesondere das Erleben von Erfolg erlauben. Aus dem Erleben von Erfolg ensteht Motivation. Dagegen ist es ein Irrweg, zu versuchen, Motivation über geheuchelte* Praxisrelevanz herzustellen. Wo ist die Praxisrelevanz beim Fußball oder bei Pokémon? Motivation scheint also auch wunderbar ohne Praxisrelevanz zu klappen.

    Deshalb mein Vorschlag, Mathematik gelassener zu sehen und gedanklich zu Kunst und Musik zu packen. Nur die Grundrechenarten (auch überschlägig), Dreisatz, Prozente und grundlegende Geometrie müssen Pflicht sein. Vielleicht sollte man Rechnen deutlicher von Mathematik abgrenzen, so wie Schreiben und Lesen nicht ein Schulfach Germanistik ist. Zumindest _noch_ nicht; hoffentlich bringe ich mit dieser Bemerkung niemanden auf dumme Ideen.

    * siehe die gängigen Abituraufgaben

  • #6

    Roland Schröder (Dienstag, 12 November 2019 17:22)

    Sehr geehrter Herr Professor Loviscach,
    entschuldigen Sie bitte meine Anrede in der Mail zuvor. Ich gebe Ihnen vollkommen recht. Nur eines sollte aus meiner Sicht bedacht werden: Das 'Rechnenlernen' ist 'Mathematiklernen en miniature' (in meinem Aufsatz habe ich ein bißchen dazu gesagt).

  • #7

    Jörn Loviscach (Dienstag, 12 November 2019 17:36)

    Kein Problem, die unprätentiöse Anrede bin ich von YouTube gewohnt ("Jörn quatsch die leute nich voll.").
    ;-)
    Die Unterscheidung zwischen Rechnen und Mathematik wäre vielleicht vor allem wichtig wegen Pflicht vs. Kür. Inhaltlich d'accord.

  • #8

    Roland Schröder (Mittwoch, 13 November 2019 15:34)

    @Prof Loviscach
    In der Schulmathematik tritt dem Schüler das Rechnen in zwei Ausprägungen entgegen.
    1. Im Rahmen einer Problemlösung. Hier ist dea Rechnen deitlich von der Marthematik zu trennen. Außerden kann es an einen Automaten delegiert werden.
    2. Das Lernen des Rechnens ist im Prinzip von den gleichen Wesenszügen geprägt, wie das Lernen von Mathematik überhaupt.