"Diskursverweigerung", "Täuschung der Öffentlichkeit", "verpasste Chance": Mehrere Bildungsforscher äußern ihr Unverständnis über die Absage aus Bayern und Baden-Württemberg und fordern einen neuen Anlauf.
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SEIT BAYERNS MINISTERPRÄSIDENT Markus Söder (CSU) den Nationalen Bildungsrat rhetorisch begraben hatte, waren zwei Dinge auffällig. Erstens: Die Berichterstattung verlagerte sich erstaunlich schnell auf den Streit um die Sommerferien. Söder hatte ihn mit einer fast beiläufigen Bemerkung ("Das bayerische Abitur bleibt bayerisch, übrigens genauso, wie die Ferienzeiten bleiben") gestartet, Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe (SPD) war, wohl aus Empörung über das schroffe Bildungsrat-Njet aus Bayern darauf aufgesprungen ("Jetzt wird jedes Land genau wie Bayern die Sommerferien im Alleingang festlegen"). Und in den Medien waren viele froh, statt dem abstrakten Konfliktgegenstand Bildungsrat endlich etwas Plakatives zu haben. Die zweite Auffälligkeit: So sehr die Bildungspolitiker stritten seit Sonntag, so wenig war von den Bildungswissenschaftlern zu hören – dabei sollte doch die Wissenschaft neben der Politik im Rat die zentrale Rolle spielen. Hatte Söder die Forscher überrumpelt?
Wie auch immer: Mit der Zurückhaltung der ersten Tage ist es jetzt vorbei. Führende Bildungswissenschaftler der Republik haben sich seit gestern auf meine Anfrage hin gemeldet und eine Vielzahl von Statements geschickt, die es an Deutlichkeit nicht fehlen lassen. Der einhellige Tenor: Die Politik macht einen Riesenfehler, wenn sie die Pläne von einem Nationalen Bildungsrat aus offenbar sachfremdem Kalkül fallen ließe. So sagt zum Beispiel der Direktor des Deutschen Jugendinstituts (DJI), Thomas Rauschenbach: "Wenn man Bildungsfragen wieder als reine Machtfragen versteht, hat man etwas Wesentliches nicht verstanden: dass es in Deutschland beim Thema Bildung längst viel fundamentalere Probleme von nationaler Tragweite gibt." Mit einer Beschneidung der Länderrechte habe ein solches Gremium nichts zu tun. "Insofern stellen die Absagen an den Bildungsrat eine Diskursverweigerung dar, die dem Bildungsthema nicht angemessen ist."
Kai Maaz, der neue geschäftsführende Direktor des DIPF Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation, nennt das Nein Bayerns und in der Folge Baden-Württembergs "aus vielerlei Hinsicht höchst bedauerlich". Es verkenne das Potenzial eines solchen Gremiums. Auch der ehemalige nationale PISA-Koordinator Eckhard Klieme (ebenfalls DIPF) schickt ein verbales Kopfschütteln Richtung Richtung Südländer: "Das Ziel eines Bildungsrates wäre definitiv nicht gewesen, die Schulen zentral von Berlin aus zu lenken. Dieses Zerrbild wird vielmehr ausgemalt, um die Öffentlichkeit darüber hinweg zu täuschen, welche Chancen die Politik hier verspielt."
"Die Abstimmung der Schulferien hätte den
Bildungsrat ganz sicher nicht interessiert"
Das Bemerkenswerte an solchen Äußerungen: Sie kommen von einigen der prominentesten deutschen Bildungsforscher, die der Politik normalerweise als Sparringspartner, als Berater dienen. Weswegen sie in der Öffentlichkeit meist vorsichtig formulieren – erst recht, wenn es um Fragen geht, die auf rein politischer Ebene zu klären sind. Die Deutlichkeit, mit der sie jetzt die Bildungspolitik und besonders Bayern und Baden-Württemberg kritisieren, zeigt insofern, wie groß das Unverständnis unter den Forschern tatsächlich sein muss.
Michael Becker-Mrotzek, Direktor des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache, sagt, ein Bildungsrat mit klar definierten Aufgaben hätte Bund und Länder in zentralen bildungspolitischen Fragen beraten können. "Etwa in der Frage, wie die Zahl der sehr schwach lesenden Schülerinnen und Schüler – immerhin rund ein Fünftel der Schulabgänger – verringert werden könnte. Die Abstimmung der Schulferien hätte den Rat dagegen, auch wenn das der eine oder andere Ministerpräsident befürchten mag, ganz sicher nicht interessiert."
Der Weiterbildungsforscher Harm Kuper von der Freien Universität Berlin meint, die geplante Zwei-Kammer-Form des Gremiums hätte die unterschiedlichen Handlungslogiken von Bildungspolitik und Bildungsforschung konstruktiv nutzen können. "Es ist bezeichnend, dass die Potenziale einer solchen Konstruktion in der öffentlichen Diskussion kaum eine Rolle gespielt haben, sondern der Streit um die Stimmenverhältnisse in der Kammer der Bildungspolitik im Mittelpunkt stand."
Aus den Äußerungen der Wissenschaftler spricht jedoch nicht nur das Unverständnis darüber, wie der Bildungsrat von Teilen der Politik an die Wand gefahren wurde, sondern auch die Sorge, wie es jetzt weitergehen wird. Und so, wie der Bildungsrat die gesamte Bildungskette in den Blick nehmen sollte, kommt auch die Kritik von Wissenschaftlern, die sich mit den unterschiedlichen Teilen des Bildungssystems befassen. "Egal ob bei Bund oder Land, mit oder ohne Nationalen Bildungsrat", sagt Ulrich Trautwein vom Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung der Universität Tübingen: "Für wichtige Entscheidungen in der Bildungspolitik braucht man aussagekräftige Daten und eine angemessene Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse." Die Zeit dränge: "Wir müssen endlich alles dafür tun, dass alle Kinder wirklich so gut wie möglich gefördert werden."
Einige der Forscher hoffen, dass
die Politik noch zur Vernunft kommt
Monika Jungbauer-Gans, die wissenschaftliche Geschäftsführerin des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) verweist auf die Benotungsunterschiede beim Abitur zwischen den Bundesländern, die kaum mit den tatsächlichen Leistungsniveaus zusammenhingen. Das sei ein "Beispiel von vielen", wieso das Ziel, Bildungsstandards und Bewertungsmaßstäbe über die Länder hinweg anzugleichen, zu einer gerechteren Chancenverteilung beitragen könne. Dafür brauche es zwischen Bund und Länder gemeinsam verabredete bundesweite bildungspolitische Anstrengungen – unter der systematischen Berücksichtigung der Bildungsforschung. "Der Deutsche Bildungsrat hätte ein Forum für einen solchen Austausch – oder besser noch für eine gemeinsame verbindliche Fortentwicklung des Bildungssystems – sein können."
Marcus Hasselhorn, der Vorgänger von Kai Maaz als geschäftsführender Direktor des derzeit wichtigsten deutschen Bildungsforschungsinstituts DIPF, fragt: "Wo ist die Idee geblieben, dass man evidenzbasiert regelmäßig hinterfragt, an welchen Stellen das Bildungswesen qualitativ verbessert werden kann? Eine Art Bildungsrat im Sinne einer Expertengruppe, die die politischen Akteure des Bildungswesens in Deutschland in dieser Hinsicht berät, wäre für alle Fragen der Qualitätssicherung und -entwicklung des Bildungswesens in Deutschland hilfreich."
Eine Formulierung übrigens, die zeigt, dass einige der Bildungsforscher die Hoffnung, dass die Politik noch zur Vernunft kommt, bislang nicht aufgegeben haben. Josef Schrader ist wissenschaftlicher Direktor des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung (DIE) und verweist auf die "große Leistung" historischen Vorbilds Deutscher Bildungsrates in den 60er und 70er Jahren. Die habe darin bestanden, das Bildungssystem als ein Gesamtsystem zu betrachten. "Wenn dies einem Nationalen Bildungsrat heute auch wieder gelänge, könnte dies wichtige Impulse für mehr Koordination in der Bildungspolitik geben. Wissenschaftlicher Rat dazu ist sowohl möglich als auch nötig, ohne dass damit die Entscheidungsautonomie der Politik eingeschränkt würde."
Cordula Artelt, die das Leibniz-Instituts für Bildungsverläufe und damit das Nationale Bildungspanels leitet, sagt, für sie wäre der Bildungsrat ein "think tank" gewesen für die Beschäftigung mit denjenigen Problemen, "die nicht an Landes-, Sektoren- oder Ressortgrenzen haltmachen. Die Absage Bayerns und Baden-Württembergs beendet die bisher geführte Diskussion um den Bildungsrat. Wenn diese nicht wieder aufgegriffen wird, ist das eine verpasste Chance."
Nächste Woche kommen
die neuen Pisa-Ergebnisse
Kann man den Bildungsforschern vorwerfen, dass sie hier nur in eigenem Interesse reden? Ist ihre Empörung insofern wohlfeil, weil sie jetzt voraussichtlich nicht ein Gremium bekommen, das ihnen mehr politische Macht gegeben hätte? Wer ihre Warnungen überhören will, kann den Wissenschaftlern jedenfalls genau unterstellen – und würde damit an der Sache komplett vorbeigehen. Denn tatsächlich ist es ja genau anders herum: Großen Einfluss üben viele der zitierten Forscher schon jetzt aus – über ihre Funktionen, aber eben oft auch zufällig, in selbsternannten oder von der Politik bestimmten Expertenzirkeln. Der Bildungsrat dagegen hätte die wissenschaftliche Beratung in der Bildungspolitik demokratisch legitimiert organisiert, transparenter und effizienter gemacht hätte er sie außerdem.
Nächste Woche treffen sich die Kultusminister zum Kaminabend, um am Tag darauf offiziell die für dieses Jahr letzte Sitzung der Kultusministerkonferenz zu bestreiten. Ein beherrschendes Thema werden die Ergebnisse der neuen Pisa-Studie sein, die am 3. Dezember öffentlich werden und die den öffentlichen Erwartungsdruck zu mehr bundesweiter bildungspolitischen Abstimmung weiter erhöhen dürften. Die Unionsländer haben angekündigt, in der Konferenz einen Alternativvorschlag zum Bildungsrat vorzustellen. Die Frage ist, wie ernst gemeint der Versuch eines Kompromisses ist, oder ob es vor allem darum geht, die Rolle der Blockierer abzuschütteln.
Mehr als Showeinlage zu verstehen war jedenfalls bereits der Vorstoß von Berlins Regierendem Bürgermeister Michael Müller (SPD). Er hatte dem Spiegel gegenüber gesagt, der "schwarz-grüne Ausstieg" aus dem Bildungsrat sei nicht akzeptabel. Er gehe davon aus, dass das Gremium zur Not auch ohne die beiden Länder seine Arbeit aufnehme und fordere alle "im Interesse der Zukunft unserer Kinder" zur Mitarbeit auf. Die Solidarität der Länder sei nicht einseitig aufkündbar, sagte Müller weiter. "Eine klare Botschaft Richtung Süden zu geben, ist deswegen Aufgabe der 14 anderen Länder und der Bundesregierung."
Doch die einzige Solidarität, die nach dem Bildungsrats-Debakel derzeit gestärkt scheint, ist die zwischen den parteipolitischen Lagern in der Kultusministerkonferenz. Schon im Oktober, als Hamburgs Bildungssenator Rabe per Kampfabstimmung über das Schicksal des Bildungsrates entscheiden lassen wollte, hielten die unionsregierten Ministerien zusammen – auch jene, die sich eigentlich einen Bildungsrat hätten vorstellen können. Und die Debatte um die Ferienregelungen (die KMK hat vor Monaten die Verhandlungen darüber gestartet) bewegt sich, siehe oben, in eine Richtung, die wenig mit Solidarität zu tun hat. Womit sogar fraglich ist, ob bei der gegenwärtig so miesen Stimmung der versprochene große Sprung beim KMK-Staatsvertrag gelingen kann. Den aber brauchen gerade die Südländer jetzt dringend, um zu beweisen, dass die Länder es tatsächlich allein (und das heißt eben vor allem auch: miteinander!) können, wie sie gerade vollmundig zu Protokoll gegeben haben.
Einige der einflussreichsten Bildungswissenschaftler dieses Landes haben sich jedenfalls jetzt deutlich positioniert. Sie glauben nicht, dass ein Bildungsrat sinnlos wäre. Im Gegenteil: Sie halten das sachfremde Gerangel der Bildungspolitik für überflüssig. Ob die Kultusminister oder gar ihre Chefs, die Ministerpräsidenten, das interessieren wird? Sollte es zumindest, wenn sie es ernst meinen mit ihrer Achtung vor der Wissenschaft.
Die Statements der Bildungsforscher als Ganzes
Thomas Rauschenbach, Direktor des Deutschen Jugendinstituts (DJI):
"Wenn man Bildungsfragen wieder als reine Machtfragen versteht, hat man etwas Wesentliches nicht verstanden: dass es in Deutschland beim Thema Bildung längst viel fundamentalere Probleme von nationaler Tragweite gibt. Sie gehen weit über das Thema des Zentralabiturs oder der Schulsommerferien hinaus. Wir müssen uns beispielsweise damit beschäftigen, wie Bildung von Anfang an sichergestellt werden kann, wie wir mit der zunehmenden Heterogenität der Familien – manche fördern ihre Kinder maximal, manche sehr wenig – umgehen. Dazu gehören auch Fragen wie die nach der Inklusion oder dem Umgang mit Kindern und Jugendlichen mit Fluchterfahrungen im Bildungssystem. In Teilen ist bereits ein durchaus zeitgemäßer Umgang mit diesen Themen erkennbar – etwa beim Gute-Kita-Gesetz, beim Digitalisierungspakt Schule oder bei der Exzellenzinitiative für die Hochschulen. Der Nationale Bildungsrat ist ein notwendiges Gremium, um all das fachlich und öffentlich zu diskutieren. Er wird auch keine Entscheidungen treffen – insofern sind wir von einer Zunahme des Zentralismus, wie sie manche nun offenbar befürchten, weit entfernt. Es geht um die nationalen Debatten über ein hoch bedeutsames Zukunftsthema. Mit einer Beschneidung der Länderrechte, wie sie manche jetzt offenbar fürchten, hat das nichts zu tun. Insofern stellen die Absagen an den Bildungsrat eine Diskursverweigerung dar, die dem Bildungsthema nicht angemessen ist."
Monika Jungbauer-Gans, wissenschaftliche Direktorin des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW):
"Die Hochschulforschung zeigt, dass es beim Abitur beträchtliche Unterschiede in der Benotungspraxis der verschiedenen Bundesländer gibt, die kaum mit den in Bildungsvergleichsstudien gemessenen Leistungsniveaus in den Ländern korrelieren. Zwar können diese unterschiedlichen Bewertungspraktiken bei der zentralen Vergabe von Studienplätzen berücksichtigt werden, aber bei lokalen Zulassungsbeschränkungen findet eine solche Normierung nicht statt. Ein Beispiel von vielen, wieso das Ziel, Bildungsstandards und Bewertungsmaßstäbe über die Länder hinweg anzugleichen, zu einer gerechteren Chancenverteilung beitragen könnte. Noch mehr als das: Zwischen Bund und Ländern gemeinsam verabredete, länderübergreifende, bundesweite bildungspolitische Anstrengungen könnten, wenn gleichzeitig die Erkenntnisse der Bildungsforschung systematisch Berücksichtigung fänden, auch zu besseren Leistungsniveaus insgesamt beitragen. Der Deutsche Bildungsrat hätte ein Forum für einen solchen Austausch – oder besser noch für eine gemeinsame verbindliche Fortentwicklung des Bildungssystems – sein können."
Eckhard Klieme, Leiter der Abteilung "Bildungsqualität und Evaluation" am DIPF Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation:
"Der Bildungsrat wäre ein Forum gewesen, um über die Grenzen der Bildungssektoren hinweg, auch über Ländergrenzen hinweg einen Diskurs über gute Bildung in Deutschland zu führen. Zwischen Politik, Wissenschaft und den Vertretern wichtiger Akteursgruppen. Gerade indem er Verbindungen hergestellt hätte zwischen Schulpolitik und Lehrerbildung oder zwischen dem Berufsbildungssystem und den Hochschulen, um nur zwei Beispiele zu nennen, hätte er eine sehr hilfreiche Rolle spielen können. Ein solcher Rat brächte Transparenz und Rationalität in Entscheidungen, die heutzutage leider oft in "Hinterzimmern" ausgehandelt werden. Ein solches Gremium hätte auch den von der Politik jeweils handverlesenen „Beiräten“ etwas entgegengestellt und genauso den selbsternannten Expertengruppen wie dem „Aktionsrat Bildung“. Wir brauchen dringend rationale, transparente Diskurse in öffentlichen Gremien, um bei Themen wie Digitale Bildung und Inklusion, bei den nationalen Bildungsstandards, der verbesserten Rekrutierung und Ausbildung von pädagogischen Professionen oder der Weiterentwicklung von Evaluationssystemenvoranzukommen. Das Ziel eines Bildungsrates wäre definitiv nicht gewesen, die Schulen zentral von Berlin aus zu lenken. Dieses Zerrbild wird vielmehr ausgemalt, um die Öffentlichkeit darüber hinweg zu täuschen, welche Chancen die Politik hier verspielt."
Ulrich Trautwein vom Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung der Universität Tübingen:
"Egal ob bei Bund oder Land, mit oder ohne Nationalen Bildungsrat: Für wichtige Entscheidungen in der Bildungspolitik braucht man aussagekräftige Daten und eine angemessene Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Hier sind wir noch lange nicht überall so weit, wie wir sein sollten. Und die Zeit drängt: Wir müssen endlich alles dafür tun, dass alle Kinder wirklich so gut wie möglich gefördert werden."
Harm Kuper, Professor für Weiterbildung und Bildungsmanagement an der FU Berlin:
"Nach den Absagen an den Bildungsrat steht die KMK vor Aufgaben, die ohne wissenschaftliche Expertise nicht lösbar sind: Am dringendsten ist derzeit die Einigung über gemeinsame Standards für das Abitur. Sollten diese tatsächlich formuliert werden können, wäre das aktuelle Problem des Bildungsföderalismus jedoch keinesfalls gelöst, sondern allenfalls auf die Ebene der Qualitätssicherung in den Ländern
verschoben. Denn aus gleichen Standards für die Bewertung folgt unmittelbar die Frage nach gleichen Chancen auf die Zugänge zu Bildungsgängen, die den Schülerinnen und Schülern bundesweit das Erreichen dieser Standards möglich machen. Um diese in den einzelnen Ländern zu eröffnen, bedarf es aber eines koordinierten Vorgehens im Interesse aller Länder – unter Einbeziehung wissenschaftlicher Expertise. Genau diese Funktion hätte ein nationaler Bildungsrat. Er könnte die unterschiedlichen Handlungslogiken von Bildungspolitik und Bildungsforschung in einem aus zwei Kammern bestehenden Gremium konstruktiv nutzen und zu einer neuen Verbindung bringen. Es ist bezeichnend, dass die Potenziale einer solchen Konstruktion in der öffentlichen Diskussion kaum eine Rolle gespielt haben, sondern der Streit um die Stimmenverhältnisse in der Kammer der Bildungspolitik im Mittelpunkt stand."
Cordula Artelt, Direktorin Leibniz-Instituts für Bildungsverläufe und des Leiterin des Nationalen Bildungspanels:
"Der Bildungsrat hätte als "think tank" fungieren können, der sich konstruktiv mit genau jenen Fragen und Problemen beschäftigt, die nicht an Landes-, Sektoren- oder Ressortgrenzen haltmachen. Die Absage Bayerns und Baden-Württembergs beendet die bisher geführte Diskussion um den Bildungsrat. Wenn diese nicht wieder aufgegriffen wird, ist das eine verpasste Chance."
Michael Becker-Mrotzek, Direktor des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache:
"Meine Erfahrungen in sieben Jahren Bund-Länder-Initiative "Bildung durch Sprache und Schrift - BiSS" zeigen, dass es zu einem sehr konstruktiven Austausch zwischen Bildungsforschung, Bildungspraxis und Bildungsadministration kommen kann. Und das kommt letztlich den Lehrkräften und vor allem den Schülerinnen und Schülern zugute. Ein Bildungsrat mit klar definierten Aufgaben hätte die Chance gehabt, Bund und Länder in zentralen bildungspolitischen Fragen zu beraten. Etwa in der Frage, wie die Zahl der sehr schwach lesenden Schülerinnen und Schüler – immerhin rund ein Fünftel der Schulabgänger – verringert werden könnte. Die Abstimmung der Schulferien hätte den Rat dagegen, auch wenn das der eine oder andere Ministerpräsident befürchten mag, ganz sicher nicht interessiert."
Kai Maaz, geschäftsführender Direktor des DIPF und Koordinator des Bildungsberichts:
"Die Absage von Bayern und Baden-Württemberg an den Nationalen Bildungsrat ist aus vielerlei Hinsicht höchst bedauerlich. Sie verkennt, was ein nationaler Bildungsrat sein kann: ein unabhängiges Gremium, in welchem Wissenschaft, Praxis und Politik gemeinsam die Situation im gesamten Bildungssystem reflexiv und rational analysieren, dabei aber gesellschaftliche und globale Entwicklungen nicht außen vor lassen. Ziel soll nicht sein, Entscheidungen herbeizuführen, sondern als unabhängiges Beratungsgremium gemeinsam Empfehlungen für die Zukunftsfähigkeit des Bildungssystems (von der frühkindlichen Bildung bis zur Bildung im Erwachsenenalter) zu entwickeln. Ein solches Gremium gibt es gegenwärtig nicht, es wäre meines Erachtens aber notwendig, um die Herausforderungen der Zukunft bewältigen zu können. Auch wenn der nationale Bildungsrat kein Garant für notwendige Lösungsansätze ist, eine Chance wäre er allemal gewesen."
Josef Schrader, wissenschaftlicher Direktor des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung (DIE):
"Ein Nationaler Bildungsrat wäre eine herausragende Möglichkeit zu erörtern, welche Herausforderungen sich aus der allgegenwärtigen Forderung nach lebenslangem Lernen für die Struktur des gesamten Bildungssystems ergeben. Das gilt insbesondere für solche Themen, die zwar von großer gesellschaftlicher Relevanz sind, für die es derzeit aber keine oder zumindest keine eindeutige politische Zuständigkeit gibt. Dazu gehört zum Beispiel die Sicherung einer sprachlichen Grundbildung über den Lebenslauf in einer mehrsprachigen, von Einwanderung bestimmten Gesellschaft. Oder die Gestaltung von Übergängen in Bildungsbiographien, von der frühen Bildung in die Schule, von der Schule in Ausbildung und Studium, von der Weiterbildung in die Hochschule und zurück. Die große Leistung des Deutschen Bildungsrates in den 60er und 70er Jahren war, das Bildungssystem als ein Gesamtsystem zu betrachten. Wenn dies einem Nationalen Bildungsrat heute auch wieder gelänge, könnte dies wichtige Impulse für mehr Koordination in der Bildungspolitik geben. Wissenschaftlicher Rat dazu ist sowohl möglich als auch nötig, ohne dass damit die Entscheidungsautonomie der Politik eingeschränkt würde."
Marcus Hasselhorn, Leiter der Abteilung "Bildung und Entwicklung" am DIPF:
"Es ist schade, dass die wichtige Diskussion über die Einrichtung eines Bildungsrates nun Gefahr läuft, politisch ad acta gelegt zu werden – noch dazu eng geführt auf die föderale Verantwortung für schulische Abschlüsse und Ferienzeitenreglungen. Wo ist die Idee geblieben, dass man evidenzbasiert regelmäßig hinterfragt, an welchen Stellen das Bildungswesen qualitativ verbessert werden kann. Eine Art Bildungsrat im Sinne einer Expertengruppe, die die politischen Akteure des Bildungswesens in Deutschland in dieser Hinsicht berät, wäre für alle Fragen der Qualitätssicherung und -entwicklung des Bildungswesens in Deutschland hilfreich."
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