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"Wir müssen in die Arena einsteigen und kämpfen!"

Der künftige Präsident des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) über seine Ziele, das Ansehen Deutschlands in der Welt, über Wissenschaftsfreiheit, Rassismus – und was wir von den Chinesen lernen können. Joybrato Mukherjee im Interview.

Herr Mukherjee, Anfang 2020 werden Sie Präsident des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD). Genau 12 Jahre, nachdem Ihr Vorgänger hier in Gießen ebenfalls DAAD-Chef wurde. Reiner Zufall?

 

Sicherlich gibt es als Gießener Universitätspräsident kein Ticket darauf. Aber eine interessante Konstellation ist das in der Tat. Bevor Stefan Hormuth an die DAAD-Spitze gewählt wurde, war er sechs Jahre Vizepräsident der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) für Internationales. Ich war acht Jahre lang Vizepräsident des DAAD. In der Community wird offenbar wahrgenommen, dass wir uns in Gießen traditionell stark für die Internationalisierung einsetzen, das schafft Vertrauen bei den Kolleginnen und Kollegen. Und das ist bei den Wahlämtern in der HRK und beim DAAD entscheidend. 

 

Was reizt Sie daran, DAAD-Präsident zu werden?

 

Der DAAD ist für mich das Auswärtige Amt der deutschen Wissenschaft, DIE Instanz der Außenwissenschaftspolitik. Es ging 1925 los mit der Vergabe von Stipendien, doch heute ist der DAAD viel mehr: Wir beraten unsere Mitglieder und die Politik, wir beobachten, was draußen in der Welt passiert. Wir haben weltweit ein feines Sensorium, weil wir in vielen Wissenschaftssystemen unsere Leute haben. Wir sind in über 100 Ländern mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern präsent, wir haben weltweit 442 Lektorinnen und Lektoren. Das ist ein internationales Antennensystem, das in Deutschland niemand sonst hat. Insofern sind wir das intellektuelle Zentrum der Außenwissenschaftspolitik.


Prof. Dr. Joybrato Mukherjee, 46, ist Anglist und seit dem Jahr 2009 Präsident der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU). Damals war er der jüngste Uni-Präsident Deutschlands. Ab Januar 2020 wird Mukherjee Präsident des Deutschen Akademischen Austauschdiensts (DAAD), der weltweit größten Förderorganisation für den internationalen Austausch von Studierenden und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Er löst in dem Amt Prof. Dr. Margret Wintermantel ab, DAAD-Präsidentin seit dem Jahr 2012. Joybrato Mukherjee ist gebürtiger Rheinländer und Sohn indischer Eltern, studierte Anglistik, Biologie und Eerziehungswissenschaften an der RWTH Aachen und promovierte im Jahr 2000 an der Universität Bonn, wo er sich 2003 habilitierte.



Als einziger Vizepräsident haben Sie die Politik des DAAD bereits mitbestimmt. Reicht es, jetzt einfach auf Kontinuität zu setzen?

 

Ich war der Vizepräsident von Margret Wintermantel, keine Frage. Wir sind zusammen eingestiegen, und wenn ich das Präsidentenamt jetzt von ihr übernehme, sage ich mich nicht los von all dem, was Margret Wintermantel, unsere langjährige Generalsekretärin Dorothea Rüland und ich gemeinsam gestaltet haben. Aber natürlich ändern sich die Zeiten. Wir führen heute Debatten in der Wissenschafts- und in der Außenpolitik, die wir uns 2012, als wir angetreten sind, nicht hätten vorstellen können. Damals gab es keinen Brexit, Wissenschaftsskepsis war kein Thema, es gab keine Fridays for Future, und mit dem Begriff "schwierige Partnerländer" mussten wir uns auch nicht beschäftigen.

 

"Die Hochschulen erwarten
Antworten von uns"

 

Was folgt daraus?

 

Als Thinktank, der wir ja auch sind als DAAD, müssen wir uns als erste der Frage stellen, wie wir mit der weltweit zunehmenden Zahl an Ländern umgehen, in denen die Wissenschaft unter Druck gerät und die Freiheit von Forschung und Presse sowie die freie Meinungsäußerung eingeschränkt wird. Das zu beleuchten und zu analysieren, ist kein einfacher Prozess. Die Hochschulen und Deutschland, die Studierenden und die Politik erwarten aber Antworten von uns. Heute mehr denn je.

 

Und wie lauten diese Antworten?

 

Wir müssen, solange es geht, den Austausch aufrechterhalten, wir müssen ihn sogar intensivieren – weil wir nur durch Austausch Einfluss darauf nehmen können, wie sich in unseren Partnerländern die Bedingungen für die Hochschulen, für die Wissenschaftler und für die Studierenden entwickeln.

 

Aber wann ist die Grenze erreicht?

 

Die Grenze ist erreicht, wenn in einem Land wie Afghanistan die Sicherheitslage objektiv so schwierig wird, dass wir schon aus Fürsorgepflicht für unsere Beschäftigten und Studierenden niemanden mehr hinschicken können. Das ist eine mögliche rote Linie. Eine andere ist gegeben, wenn Sie durch den wissenschaftlichen Austausch ein totalitäres Regime eher stabilisieren, als dass sie den Wissenschaftlern und Studierenden vor Ort helfen. Das ist die Abwägung.

Wie trifft man so eine Entscheidung?

 

Es gibt da nicht die eine Antwort für alle Institutionen. Eine deutsche Hochschule, die seit Jahrzehnten eine historisch gewachsene Partnerschaft mit der Türkei pflegt, wird diese sicher noch weiterführen, während eine andere Hochschule neben dem Erasmus-Austausch längst keine neue Kooperation mit der Türkei mehr aufbauen würde. 


Sie sind Anglist: Trifft die Bezeichnung "schwieriges Partnerland" inzwischen auch auf Großbritannien zu?

 

Die politische Situation ist schwierig, aber als Partner bleiben die Briten für uns von größter Bedeutung. Ich betone das bei jeder Gelegenheit: Wenn es uns nicht gelingt, trotz des Brexit alternative Wege der Zusammenarbeit mit den britischen Hochschulen aufzubauen, erleiden wir als Deutsche und Europäer einen dramatischen Verlust. Wer glaubt, wenn die Briten gehen, dann ist das deren Problem, und wir bekommen vielleicht sogar ein paar Fördermillionen aus Brüssel mehr ab, der vergisst, dass die britischen Universitäten zu den stärksten in Europa zählen und wir alle, gerade in Deutschland, von ihrer wissenschaftlichen Qualität profitieren.

 

"Im Schlafwagen werden wir
die Wissenschaftsfreiheit nicht verteidigen"

 

Der Brexit ist Ausdruck eines weltweiten Trends zurück zu den Nationalstaaten und deren Abschottung – was so ziemlich der Gegenentwurf zum DAAD-Programm ist.

 

Richtig – und darüber hinaus: Wir beobachten selbst in den Kernländern des Westens eine autoritäre Welle. Deshalb müssen wir uns dringend verabschieden von dieser etwas weinerlichen Attitüde, die da lautete: Wie gemein, dass alle plötzlich so gegen die Wissenschaft hetzen, das haben wir nicht verdient! Wir müssen in die Arena einsteigen und kämpfen, wir müssen selbstbewusst vertreten, dass eine gedeihliche Entwicklung unserer Gesellschaft nur möglich ist mit einer freien Wissenschaft unter freien Bedingungen. Im Schlafwagen werden wir die Wissenschaftsfreiheit nicht verteidigen.

 

Klingt toll. Haben Sie auch ein Beispiel für uns?

 

Nehmen Sie die Scientists-for-Future-Bewegung, die besonders in Deutschland an vielen Hochschulorten wächst. Studierende, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stehen auf und verlangen, dass sie gehört werden. Sie fordern, dass die Politik ihre Warnungen nicht länger ignoriert. Sie wollen den verantwortlichen Politikern nicht ihre Rolle streitig machen, aber sie wollen, dass die Menschen ihre Methoden verstehen, ihre Erkenntnisse genau wie ihre Zweifel. Damit sie sich auf dieser Grundlage ihre Meinungen bilden, und damit auf der Grundlage dieser Meinungsbildung politische Entscheidungen fallen.

 

Welche Konsequenzen bedeutet das für Sie persönlich als Wissenschaftler, Herr Mukherjee?

 

Ich sehe an dieser Stelle meine Rollen als Wissenschaftler und als Mensch, als Gießener Unipräsident und als künftiger DAAD-Präsident nicht getrennt. Ich werde mich in jeder meiner Rollen dafür einsetzen, dass wir Flagge zeigen. Das hat der DAAD immer getan, doch er wird es in unserer veränderten Welt häufiger als früher tun müssen. Auch und gerade beim anderen Megathema unserer Zeit, der Klimapolitik. 

 

"Mit der CO₂-Bilanz des DAAD berühren
Sie einen wunden Punkt"

 

Mal ehrlich: Der DAAD dürfte als Austauschorganisation eine furchtbar schlechte CO₂-Bilanz haben.

 

Da berühren Sie einen wunden Punkt. Die Wissenschaft ist eine der reiseintensivsten Branchen. Lange haben wir die internationale Mobilität im Sinne interkultureller Erfahrungen uneingeschränkt positiv gesehen. Als DAAD müssen wir uns jetzt Gedanken machen, was das für die 2020er und 2030er Jahre bedeutet. Wie erhalten wir den Austausch und minimieren zugleich seine negativen Folgen? Inwiefern können uns digitale Instrumente helfen, inwiefern können sie die physische Reisetätigkeit ersetzen? Auch hier ist der DAAD als Thinktank gefragt, auch hier müssen wir uns früher als andere um Lösungen kümmern.

 

Wird es das Erasmus-Programm irgendwann nur noch virtuell geben?

 

Sicher nicht. Viele Erfahrungen lassen sich nur physisch und face-to-face machen. Aber wir haben längst nicht alle Möglichkeiten des Digitalen erfasst. Schon jetzt laufen beim DAAD viele Bewerbungsgespräche online. Das können wir weiterdenken. Und sehen, wo die Grenzen des Sinnvollen liegen.

 

Deutschland hat gerade Frankreich abgelöst als beliebtestes nicht-englischsprachiges Gastland für internationale Studierende. Uneingeschränkt Grund zum Jubeln?

 

Die Zahlen der Studierenden allein sagen nichts. Mobilität darf kein Selbstzweck sein. Aber dass wir jetzt nach drei englischsprachigen Ländern weltweit auf Platz vier liegen, zeigt die gestiegene Attraktivität des deutschen Wissenschaftssystems. Dazu hat der DAAD seinen Beitrag geleistet. 

Was macht die deutsche Wissenschaft so attraktiv?

 

Auf diese Frage könnte ich Ihnen eine stundenlange Antwort geben. Aber ich mache es kurz. In den 1990er Jahren hieß es, die deutsche Universität sei im Kern verrottet. Seitdem haben sich zwei Dinge geändert: Die Hochschulen haben von der Politik mehr Autonomie erhalten, was unglaublich viel Kreativität und Dynamik freigesetzt hat. Hinzu kam ein parteiübergrei-


fender Konsens über die meisten Jahre in Bund und Ländern: Wenn wir wollen, dass die Hochschulen und die Forschung besser werden, dann müssen wir viel mehr in sie investieren. Autonomie plus Investment, das war der Schlüssel. 

 

Jetzt haben Sie mit Ressourcen und Rahmenbedingungen argumentiert. Aber was haben die deutschen Hochschulen denn inhaltlich zu bieten?

 

Das lässt sich gar nicht voneinander trennen. Erst wenn eine Hochschule nicht mehr für jeden Kleinkram einen Antrag ans Ministerium schicken muss, erst wenn sie selbst ihre Professorinnen und Professoren berufen und über ihre Gehälter verhandeln kann, wird sie Akteur ihrer eigenen Entwicklung. Dann fängt sie an, an ihrem Profil zu arbeiten, Nischen für sich zu definieren, Prioritäten und Posterioritäten zu setzen. Erst dann wird es interessant.

 

Das ist mir immer noch zu theoretisch. Stellen Sie sich vor, vor Ihnen steht eine Studentin und überlegt, wo sie hingehen soll, die werden Sie nicht mit der Rede von "mehr Hochschulautonomie" nach Deutschland locken.

 

Ich selbst bin mit meiner Professur unter anderem für Austauschprogramme mit Sri Lanka zuständig. Einer Studentin von dort würde ich Folgendes sagen. Erstens: Wir sind mitten in Europa, wir sind Teil des Schengen-Raums. Wir sind das Land in Europa mit den meisten Nachbarländern. Sie glauben nicht, welch entscheidendes Argument das ist. Sie können als Studentin reisen, Sie können innerhalb weniger Stunden von einer Kultur in die nächste wechseln, von einer Sprachgemeinschaft in die andere. Zweitens: Wir haben in Deutschland ein breites kulturelles Angebot, und weil wir ein föderales Land sind, reicht es bis in die kleinen Städte. Überall gibt es Museen, Theater, Hochschulen. Wir diskutieren den Föderalismus ja oft negativ. Aber er ist eine wahnsinnige Stärke unseres Landes.

 

"Wir diskutieren den Föderalismus oft negativ.
Aber er ist eine wahnsinnige Stärke"

 

Und von der wissenschaftlichen Exzellenz unserer Hochschulen sagen Sie der Studentin gar nichts?

 

Das ist der dritte Punkt. Allerdings würde ich ihn anders einleiten. Ich würde sagen: Hier bei uns hast du nicht nur die Top-Ten-Unis, und der Rest ist – ich sage mal – Schrott. Nein: Wir haben eine hohe Qualität in der Breite. Und wenn du aus dem Ausland kommst, musst du dich nicht fürchten vor hohen Studiengebühren. Bei uns ist das Studieren nämlich weitgehend kostenfrei. Diesen Punkt muss man meist ein wenig erklären, weil es vielen internationalen Studierenden nicht sofort eingängig ist, dass es irgendwie in der deutschen DNA liegt, ein so hochklassiges und reichhaltiges Bildungssystem komplett über Steuern zu finanzieren.

 

Sie klingen begeistert. Die Internationalisierungsziele von DAAD und Bundesregierung lesen sich auf den ersten Blick deutlich nüchterner. Das wichtigste ist rein quantitativ und lautet: 350.000 internationale Studierende bis 2020. Eben haben Sie doch gesagt: Mobilität dürfe kein Selbstzweck sein.

 

Es handelt sich erstmal um quantitative Zielmarken, das ist richtig. Als DAAD haben wir sie 2012 definiert und die damalige Bundesregierung hat sie 2013 in ihren Koalitionsvertrag übernommen. Wir wollten mit ihnen deutlich machen, dass es uns in den 2010er Jahren gelingen muss, die Internationalisierung der Hochschulen in der Breite zu stärken. Das haben wir geschafft, derzeit liegen wir bei 375.000 internationalen Studierenden. Aber natürlich treffen Sie einen Punkt: In den nächsten Jahren wird es stärker darum gehen, unsere Internationalisierungsziele inhaltlich zu definieren.

 

Wie zum Beispiel?

 

Indem wir uns nicht nur über die hohe Zahl der Studierenden freuen, die zu uns kommen, sondern gleichzeitig dafür sorgen, dass sie ihr Studium nicht mehr so oft abbrechen. Und das schaffen wir nur durch bessere Betreuung, durch gezielte Unterstützungsangebote. Das wird eine zentrale Aufgabe für die nächsten Jahre.

 

"Dass der Austausch mit China neben den
Chancen Risiken beinhaltet, ist uns bewusst"

 

Würde es nicht auch zu den qualitativen Zielen gehören zu klären, wie die deutschen Hochschulen ihrerseits am besten von der hohen Zahl internationaler Studierender profitieren? Inzwischen sind allein 37.000 chinesische Studierende bei uns eingeschrieben.

 

Dass die zwei größten Gruppen internationaler Studierender aus China und Indien, den zwei bevölkerungsreichsten Ländern überhaupt, stammen, ist ja nun wenig überraschend. Überraschend ist eher, dass das lange anders war. Ich sehe ihre hohe Zahl insofern als eine Normalisierung, als eine gute Sache.

 

Aber gerade die Chinesen haben oft eine sehr einseitige Vorstellung von akademischem Austausch: Sie schicken ihre jungen Menschen, sie wollen alles über unsere Technologien und Erkenntnisse erfahren. Aber umgekehrt geben sie von ihren möglichst wenig her.

 

Dass der Austausch mit China neben den Chancen Risiken beinhaltet, ist uns beim DAAD bewusst. Wir können aber nur über den Austausch mit chinesischen Studierenden, Promovierenden und Forschenden überhaupt Einfluss nehmen auf die Wissenschaftsszene und die Gesellschaft in China.

Heißt das, Sie wollen über den Austausch mit China für demokratische Standards werben, die eigenen Werte weitergeben?

 

So platt funktioniert das nicht. In so einer Zielstellung läge ein pädagogischer, ein eurozentrischer Ansatz, den wir im 21. Jahrhundert überwinden sollten. Wir sollten für unsere westlichen Werte einstehen, auch für unser Verständnis von Wissenschaftsfreiheit und freier Wissenschaft. Wir sollten sie aber


 nicht missionarisch in die Welt tragen. Schließlich gibt es eine ganze Reihe von Themen, bei denen wir gerade von China viel lernen können.

 

Und die wären?

 

China zeigt eine politische Konsequenz im Umgang mit Umweltbelastungen, die wir in Deutschland nicht erreichen. Denken Sie an die drastischen Maßnahmen, mit denen sie die Luftqualität in Beijing verbessern wollen. Sicher hat das mit den Logiken eines autoritären Systems zu tun, aber wir sollten es uns auch nicht zu einfach machen. China bringt auch die Elektromobilität in einem Tempo nach vorn, von dem wir nur träumen können.

 

Ein drittes Beispiel: Wir wollen nicht den Einsatz von hochentwickelten Technologien zur Personenerkennung im öffentlichen Raum, wie er in China längst selbstverständlich ist. Wir können sagen, das ist für uns ein Ausdruck des Überwachungsstaats. Aber wir sollten uns den technologischen Fortschritt dahinter genau anschauen, ihn analysieren und uns fragen, was er für uns bedeutet.

 

Sind wir besonders gut darin, die Probleme anderer Gesellschaften zu analysieren, und dabei die eigenen zu unterschätzen? Auf den Punkt gebracht: Wie sehr sorgt Sie der Rassismus in Deutschland?

 

Ihn zu bekämpfen ist eine Daueraufgabe für uns alle. Natürlich ist der sogenannte "Alltagsrassismus" – welch ein verniedlichendes Wort – von Region zu Region in Deutschland unterschiedlich ausgeprägt. Auch die Intensität der ausländerfeindlichen Übergriffe unterscheidet sich. Das wissen wir auch aus den Rückmeldungen unserer Mitgliedshochschulen.

 

Spielen Sie damit auf Ostdeutschland an?

 

Was ich sagen will: Wir leben in einer Zeit, in der Gesellschaften auf Abschottung setzen, in der Identität konstruiert wird über die Abgrenzung vom anderen, und diese Abgrenzung führt automatisch dazu, dass ich das andere abwerte. Das ist die Stelle, an der wir als Wissenschaft gefordert sind. Unsere Mitgliedshochschulen sind in ihren Städten und Regionen wesentliche Stabilitätsanker. Sie haben gesellschaftlichen Einfluss und Breitenwirkung angesichts einer Studierquote von knapp 60 Prozent pro Jahrgang. Der Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung ist insofern in besonderem Maße auch die Aufgabe der Wissenschaft. Wir tun dabei manchmal so, als hätten wir es mit einem neuen Problem zu tun. Vielleicht war die Ablehnung früher aber einfach nur latent, subtiler.

 

"Offenen Rassismus habe ich
persönlich nie erlebt"

 

Wie meinen Sie das?

 

Persönlich, und ich klopfe da auf Holz, habe ich offenen Rassismus nie erlebt. Auch während meiner gesamten wissenschaftlichen Karriere nicht. Aber wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, wenn meine Eltern ihre deutschen Freunde zum Kaffeeklatsch eingeladen hatten, dann kamen schon mal Sätze wie: "Nichts gegen Euch, aber wir haben zu viele Ausländer." Das war nicht boshaft gemeint, das hätte man damals wahrscheinlich gar nicht als rassistisch begriffen in einer Zeit, in der die Arbeitslosenzahlen hochschnellten. Aber es zeigt: Dieses Denken über "uns" und "die", über "uns Deutsche" und "die Gastarbeiter" gab es schon immer. Heute wird es allerdings offener artikuliert, vielleicht verletzender. Sicher sind wir zugleich auch sensibler. Ich sehe das als Chance, die Dinge klar beim Namen zu nennen. Wenn etwas rassistisch ist, dann ist es rassistisch. Und dann sollten wir nicht die Tischdecke drüberlegen.

 

Wir sind sensibler, was Rassismus angeht, und gleichzeitig wird Rassismus offener artikuliert?

 

Ich glaube, das sind zwei Seiten einer Medaille. Die Gesellschaft ist offener geworden, das sollten wir uns nicht kleinreden lassen. Noch in den 1990er Jahren gehörte die Aussage, Deutschland sei kein Einwanderungsland, zum Mainstream. Denken Sie an den Spruch "Kinder statt Inder." Heute ist unser Land viel inklusiver, wir haben ein Antidiskrimierungsgesetz und diskutieren über Diversität und das dritte Geschlecht. Aber genau von dieser größeren Offenheit fühlen sich Teile unserer Gesellschaft in ihrer Identität bedroht. Beide Entwicklungen, Offenheit und Abschottung, gehören insofern zusammen.

 

Wie beobachtet das Ausland unsere Gesellschaft?

 

Was mir von vielen im DAAD bestätigt wird: Generell ist das Bild Deutschlands in den vergangenen 20 Jahren freundlicher geworden. Wir werden als weltoffenes und liberales Land wahrgenommen, das sich nicht wegduckt vor den globalen Problemen und Herausforderungen. Ein Land, das bereit ist, menschlich zu agieren – so wie 2015. Es gibt dieses christliche Konzept der Barmherzigkeit: ein Attribut, von dem man vor 40 oder 50 Jahren nicht erwarten konnte, dass es einmal so sehr mit Deutschland assoziiert werden würde.

 

 

Und was ist mit unserem Rechtspopulismus?

 

Ich glaube, der wird als Teil einer globalen Entwicklung gesehen. Wobei wir uns nicht zurücklehnen sollten. Helmut Schmidt sagte einmal: Die Deutschen bleiben ein gefährdetes Volk. Wir können sagen: Ja, wir haben im Moment noch Glück im Vergleich mit anderen. Wir müssen aber in Demut vor unserer deutschen Geschichte sagen: Wir sind vielleicht auch gefährdeter als andere.

 

"Wir müssen in Demut vor unserer Geschichte sagen: 

Wir sind vielleicht auch gefährdeter als andere"

 

Lassen Sie uns zu den internationalen Studierenden zurückkommen. Sie haben gesagt, diese bräuchten viel mehr Betreuung als bislang. Das gilt fürs Studium, aber sicher auch fürs Leben drumherum. Doch die Mietpreise in den Städten explodieren, die Lebenshaltungskosten sind gerade für internationale Studierende schwer zu tragen.

 

Wohnraum zu organisieren ist keine originäre DAAD-Aufgabe. Aber beraten wollen wir die Studierenden, die zu uns kommen wollen, natürlich auch zu solchen Fragen. Wir können sie darauf hinweisen, dass viele Hochschulen, auch wir in Gießen, für ihre internationalen Studierenden Wohnraum garantieren, allerdings oft nur für Studierende in Austauschprogrammen. Diejenigen, die eigenständig zu uns kommen oder die ihr ganzes Studium in Deutschland absolvieren wollen, stoßen in der Tat auf einen Wohnungsmarkt, der extrem angespannt ist, und haben bei der Wohnungssuche sicherlich Nachteile, vor allem aufgrund der Sprache. Als DAAD müssen wir deshalb allen unseren Gästen klarmachen, wie sehr es in ihrem eigenen Interesse liegt, die deutsche Sprache zu lernen. Und wir müssen sie beim Lernen unterstützen. Das gehört zu unserer Kernmission, und je mehr internationale Studierende zu uns kommen, desto drängender wird sie.

 

Gehört es auch zu den Aufgaben des DAAD, sich bei der Politik dafür einzusetzen, dass mehr Studierendenwohnheime gebaut werden?

 

Zum Glück habe ich einen engen Draht zum Präsidenten des Deutschen Studentenwerkes, der ein ehemaliger Kollege von mir aus Hessen ist und der in meiner Anfangszeit hier in Gießen eine Art Mentor für mich war. Die Antwort auf Ihre Frage lautet: Ja. Der DAAD sieht sich in einer Verantwortungsgemeinschaft mit dem Studentenwerk, und wir werden in einem engen Schulterschluss eine Investitionsoffensive anmahnen in den nächsten Jahren. Wir dürfen aber auf keinen Fall für die Rechtspopulisten die Drecksarbeit erledigen, indem wir so tun, als sei die Not auf dem studentischen Wohnungsmarkt durch das Wachstum bei den internationalen Studierenden mit verursacht worden.

  

Würden Sie einer Studentin aus einem Nicht-EU-Land, sagen wir aus Kolumbien, die wenig Geld hat und in München studieren will, empfehlen: Geh lieber woanders hin?

 

Als DAAD werden wir nicht für den einen Hochschulstandort Werbung machen und für den anderen nicht, wir werben für das deutsche Hochschulsystem als Ganzes. Wenn die Studentin also in unser Information Center in Bogotá kommt, werden unsere Mitarbeiter ihr sicher in aller Ehrlichkeit und Offenheit sagen, wo das Preisniveau für Wohnraum in München liegt und welche Möglichkeiten die Münchner Hochschulen bieten. Sie werden ihr auch sagen, dass es anderswo, zum Beispiel in den neuen Bundesländern, ebenfalls hervorragende Hochschulen gibt und dass das Leben dort bezahlbarer ist. Doch können und wollen wir dieser erwachsenen Studentinihre individuelle Entscheidung für einen bestimmten Studiengang und eine bestimmte Hochschule nicht abnehmen. Wir können als DAAD nur die Chancen und Risiken für bestimmte Orte aufzeigen. Und wir können darauf hinweisen, welche Studienprogramme besonders für internationale Studierende geeignet sind.

 

"Ich konnte mich lange für 

das Präsidentenamt warmlaufen"

 

Ihr Amt als DAAD-Vizepräsidentin übernimmt mit der Lübeckerin Muriel Helbig erstmals die Präsidentin einer Fachhochschule. Ein politisches Signal?

 

Das  kann man so interpretieren, als Anerkennung für den enormen Beitrag, den die Hochschulen für Angewandte Wissenschaften zur Internationalisierung leisten. Aber eine Schlussfolgerung lässt sich daraus ganz sicher nicht ziehen: Frau Helbig ist nicht die Vizepräsidentin für die HAWen, sondern für alle. Genauso wenig, wie ich nicht der Präsident der Universitäten bin, sondern der Präsident für alle Mitgliedshochschulen des DAAD. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit ihr und mit unserer Generalsekretärin, Frau Rüland.

 

Die in Ihrer Amtszeit in Ruhestand gehen wird.

 

Da Frau Rülands Alter bekannt ist – siehe Wikipedia –, muss man in der Tat kein Mathegenie sein, um zu ermitteln, dass dies in meine vierjährige Amtszeit ab 2020 fallen wird. Wir hatten mit Frau Rüland eine hervorragende Wahl getroffen, sie hat den DAAD seit 2010 stark geprägt, insofern sehe ich die Aufgabe, eine Nachfolge für sie zu finden, nicht mit Freude. Aber der DAAD hat Erfahrung mit personellen Wechseln. Wir werden das unfallfrei über die Bühne bringen. Und ja, klar, das bedeutet dann eine wichtige Weichenstellung.

 

DAAD-Chef zu sein, ist ein Ehrenamt. Sie bleiben Unipräsident in Gießen. Wie bekommt man beides unter einen Hut?

 

Da mein zeitlicher Aufwand für den DAAD schon bislang hoch war, ändert sich in der Hinsicht gar nicht so viel. Ich war mindestens einen Tag die Woche unterwegs. Im Gegensatz etwa zur HRK gibt es beim DAAD nämlich nur einen Vizepräsidenten, und in dieser Funktion war ich in den vergangenen Jahren gut eingespannt. Insofern konnte ich mich lange warmlaufen. Außerdem gibt es hier in Gießen ein eingespieltes Team, genauso drüben beim DAAD. Und zum Glück ist der Weg nach Bonn nicht weit. Meine Vorgängerinnen und Vorgänger haben diese Doppelbelastung auch hinbekommen. Der legendäre DAAD-Präsident Theodor Berchem hat 16 Jahre lang parallel die Universität Würzburg geleitet, und das war sicherlich eine erfolgreiche Phase für Würzburg. Ich habe ein wunderbares Team hier in Gießen. Eingespielt, engagiert. Darauf kann ich bauen. Wenn ich das nicht wüsste, hätte ich mich niemals dazu bereit erklärt, als Präsident des DAAD zu kandidieren.

 

Dieses Interview erschien zuerst im DSW Journal 4/2019.

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