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"Die soziale Herkunft ist ein Tabuthema"

Nur zehn Prozent der Professoren haben Eltern, die nicht studiert haben. Besonders viele Arbeiterkinder gehen der Wissenschaft während der Promotion verloren. Ann-Kristin Kolwes will das ändern.

Ann-Kristin Kolwes hat in Bielefeld Geschichte und Psychologie studiert und an der a.r.t.e.s. Graduate School der Universität zu Köln promoviert. Heute arbeitet sie dort in der Abteilung für Personalentwicklung. Foto: Monika Nonnenmacher/Universität Köln.

Frau Kolwes, Sie koordinieren an der Universität zu Köln das Projekt "Erste Generation Promotion Mentoring+". Worum geht es da?

 

Das ist ein Mentoring-Programm für Promovierende und promotionsinteressierte Masterstudierende. Was alle unsere Mentees gemeinsam haben: dass sie als erste in ihrer Familie eine Hochschule besuchen. 

 

Das hört sich so ähnlich an wie ArbeiterKind.de

 

Ja, aber mit dem Unterschied, dass wir nach dem Studium ansetzen, am Übergang zur wissenschaftlichen Karriere. Denn während sich in den vergangenen Jahren erfreulicherweise eine Reihe von Initiativen für Studienanfänger aus Nichtakademiker-Haushalten entwickelt haben, ist unser Mentoring-Programm für Promovierende deutschlandweit das einzige. 

 

Wie bitte? 

 

Sie haben Recht: Man sollte denken, dass es da mehr gibt. Denn die Barrieren für Akademiker der ersten Generation hören ja nicht auf, nur weil sie einen Masterabschluss geschafft haben.

 

"Sie haben das Gefühl, nicht richtig
hineinzupassen in die akademische Welt"

 

Von welchen Barrieren sprechen Sie?

 

Was schon viele der Studienanfänger*innen erleben, sind Fremdheitserfahrungen an der Hochschule. Sie haben das Gefühl, nicht richtig hineinzupassen in die akademische Welt. Psycholog*innen sprechen hierbei vom sogenannten Impostor- (Hochstapler)-Syndrom: Im wissenschaftlichen Kontext ist es die Angst, dass ich eigentlich zu Unrecht an die Hochschule gekommen bin, dass ich nur irgendwas Dummes sagen oder tun muss, und dann fliege ich auf. So zu denken, wird vor allem Frauen zugeschrieben, aber bei Nichtakademiker-Kindern – sowohl Männern als auch Frauen – ist es ganz besonders ausgeprägt. Mit dem Ergebnis, dass sie entscheidende Fragen nicht stellen, dass sie nicht um Unterstützung bitten, wo sie sie brauchen könnten sich für nicht gut genug halten

 

Aber sollten solche Ängste nicht spätestens mit dem Masterabschluss passé sein? Dann hat man doch schwarz auf weiß, dass man es kann. 

 

Diese Ängste und dieses Gefühl verstärken sich zum Ende des Studiums sogar noch – mit dem Ergebnis, dass viele, die dazu geeignet wären, sich schon von vornherein selbst aussortieren und erst gar keine Promotion aufnehmen. Die, die übrigbleiben, erleben als Doktorand*innen diese Fremdheit in neuer Weise, da eine Promotion ganz neue Herausforderung mit sich bringt. Sie haben im Studium vielleicht die fehlende Auslandserfahrung aufholen können, aber welche Studierenden sind schon auf einer wissenschaftlichen Tagung gewesen? Da gelten auf einmal wieder ganz neue gesellschaftliche Spielregeln. 

 

Welche sind das?

 

Plötzlich soll ich Kolloquien besuchen und dort Smalltalk halten, aber wie macht man das? Mir sagt auch keiner, wie ich erfolgreich meine Promotion organisieren kann. Leider ist häufig alles, was ich habe, die Promotionsordnung, die so geschrieben ist, dass sie ohnehin kaum jemand versteht. Wen aber frage ich wofür um Rat? Die Finanzierung des Lebensunterhalts ist auch so ein grundsätzliches Thema. Wenn man zum Beispiel in den Geisteswissenschaften vom Master in die Promotion wechseln will, muss nicht selten ein Jahr überbrückt werden. Und dann landet man – wenn es gut läuft – mit einem Masterabschluss auf einer 50-Prozent-Stelle, muss sich ohne Rücklagen oder Elternhilfe durchschlagen und am Ende noch die Veröffentlichung der Doktorarbeit stemmen, die viele tausend Euro kosten kann. Viele, die solche Sorgen nicht kennen, überlegen sich gar nicht, was das bedeuten kann. 

 

Sie können durchs Mentoring aber doch kein Geld für die Promovierenden produzieren.

 

Geld nicht, aber wir können zum Beispiel schon den Masterstudierenden dabei helfen, sich auf die spätere Bewerbung um Stipendien vorzubereiten. Der Klassiker ist, dass es da neben guten Noten auf ehrenamtliches Engagement ankommt. Wenn Ihnen das aber im Studium keiner gesagt hat und Sie noch dazu selbst Geld zum Leben verdienen müssen, dann haben sie das ganze Studium mit bezahlter Arbeit verbracht, kommen für eine Förderung aber nicht in Frage. Am Ende läuft es immer wieder auf dieses informelle Wissen hinaus, das vielen fehlt, weil sie es von zu Hause nicht mitbekommen haben. Dabei erleichtert gerade dies den Zugang zur wissenschaftlichen Welt immens. 

 

"Die Sprache ist das
Schwierigste für die meisten."

 

Welche Rolle spielt die vermeintlich richtige Sprache, um in der Wissenschaft dazuzugehören?

 

Die Sprache ist das Schwierigste für die meisten. Die Promovierenden lassen das Studium hinter sich und tauchen ein in die Welt der Wissenschaft. Natürlich haben sie im Studium gelernt, wissenschaftliche Texte zu formulieren. Aber es macht einfach einen Riesenunterschied, ob in meiner Jugend zu Hause zum Beispiel eine ZEIT zur Lektüre herumlag oder bestenfalls die Lokalzeitung. Ob sie am Essenstisch über aktuelle politische Themen diskutiert, das Argumentieren gelernt haben oder nicht. Im Laufe der Zeit dreht sich die Fremdheit dann häufig um: Je mehr die Studierenden und Promovierenden die Sprache ihres akademischen Umfelds aufnehmen, sich dieser Lebenswelt anpassen, desto stärker spüren sie eine Entfremdung vom sozialen Umfeld ihres Elternhauses. Der Klassenunterschied wird deutlich, und die Vorurteile wirken in beide Richtungen.  

 

Dass die Eltern nicht mehr die Lebenswelt ihrer Kinder teilen können, gilt aber doch auch bei Akademikern, wenn die Promotion beginnt. Es sei denn sie haben selbst promoviert – was für die wenigsten gelten dürfte. Hört damit nicht auch der Wissensvorsprung, den sie an ihre Kinder weitergeben, am Ende des Studiums auf?

 

Die Eltern haben vielleicht nicht selbst promoviert, aber sie haben die Netzwerke, und sie haben ihren Kindern vermittelt, dass es in Ordnung ist, Fragen zu stellen und Ansprüche zu formulieren. Und die Anerkennung für deine Promotion ist häufig eine andere. Akademikereltern wissen um den Wert einer Promotion uns sind vor allem stolz. In nichtakademischen Elternhäusern gibt es häufig Skepsis gegenüber dem Wunsch zu promovieren. Außerdem irren Sie sich mal nicht: Jeder sechste Promovierende hat mindestens einen Elternteil mit Doktortitel, das ist zehnmal mehr als im Durchschnitt der Bevölkerung. Die soziale Reproduktion im Bereich der Promotion ist noch höher als beim Übergang ins Studium.

 

Wenn das alles so ist und der Bedarf für Orientierung so gewaltig, warum ist dann das Kölner Mentoring-Programm nach Ihrer Darstellung das einzige seiner Art in Deutschland? 

 

Es klang ja eben schon an: Viele denken, mit dem Studienabschluss sei doch schon alles getan und der soziale Aufstieg geschafft. Problem erledigt sozusagen. Das Zweite ist, dass ich mich hier sehr schnell der Systemfrage nähere: Wer hat denn wirklich ein Interesse daran, die Promotion als Zugang zu den wissenschaftlichen Karrierewegen sozial zu öffnen? Ich würde mal behaupten: Die Mehrheit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hängt eigentlich ganz gern der meritokratischen Illusion an, dass es in der Wissenschaft allein auf die persönliche Leistung ankomme. Nach dem Motto: Ich muss nur schlau genug sein und mich nur richtig anstrengen, dann wird das was mit der Promotion und später mit der Professur. 

 

Die meritokratische Illusion?

 

Dass alleine die wissenschaftliche Exzellenz darüber entscheidet, wer es am Ende auf eine Professur schaffen – wie sollte es denn auch anders sein, oder? Im Ernst: Die Soziologin Christina Möller etwa konnte zeigen, dass nur zehn Prozent der zwischen 2001 und 2010 berufenen deutschen Professor*innenschaft sogenannte Arbeiterkinder sind. Von den Studierenden stammen laut Sozialerhebung 48 Prozent aus Nicht-Akademikerhaushalten. Dabei machen die Nicht-Akademiker in der Gesamtbevölkerung mehr als zwei Drittel aus. Die ohnehin gewaltige Schieflage zu Studienanfang nimmt also im Lauf der wissenschaftlichen Karrieren nochmal gewaltig zu. Doch für viele ist die soziale Herkunft ein Tabuthema, ich erlebe das immer wieder, wenn ich neue Mentorinnen und Mentoren suche. 

 

"Es ist schlimm, dass Menschen, die so viel geschafft haben,
ihre Herkunft immer noch als Hemmschuh sehen." 

 

Was erleben Sie da? 

 

Über die eigene soziale Herkunft wird an der Hochschule nicht geredet. Bei den meisten Programmen suchen sich die Mentees ihre Mentoren selbst, ich dagegen habe eine Mentor*innen-Datenbank aufgebaut, in die ich Mentor*innen aufnehme, die sich bereit erklären sich im Programm zu engagieren. Die Voraussetzung dafür ist, dass sie selbst Erstakademiker*innen sind. Denn das ist bei uns die Voraussetzung: Erstakademiker*innen unterstützen Erstakademiker*innen, weil sie dieselben Erfahrungen gemacht haben und sich hineindenken können in die Situation der Promovierenden. Doch es passiert immer wieder, dass erfolgreiche Wissenschaftler*innen das Projekt toll finden, dann aber doch ablehnen, Mentor*in zu werden, mit der Begründung: Ich will nicht, dass die Leute meinen sozialen Hintergrund kennen. Das ist doch eigentlich schlimm, dass Menschen, die so viel geschafft haben, immer noch das Gefühl haben, ihre Herkunft sei ein Hemmschuh in der Wissenschaft.   

 

Was bieten Sie denn eigentlich den Teilnehmern Ihres Mentoringprogramms?

 

Die Begleitung durch einen Mentor oder eine Mentorin läuft über ein Jahr, es finden mindestens vier Gespräche statt, ohne jedes formale Abhängigkeitsverhältnis. Außer den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern hier von der Universität melden sich aber auch promovierte Leute von extern, die sagen: Ich möchte gern eine Mentee unterstützen. Der Austausch im Tandem ist so wertvoll, weil die Promovierenden wissen, da ist eine Person, die hat dieselbe soziale Herkunft, hat dieselben Schwierigkeiten an der Hochschule durchlaufen, dieselben Fragen gehabt – und ihre Promotion erfolgreich abgeschlossen. Neben den Mentor*innengesprächen werden beispielsweise Workshops angeboten zum Selbstbild als Wissenschaftler*in, zu den Erwartungen, die andere an mich haben und die ich an mich selbst habe. Im Präsentationstraining lernen die Mentees nicht, wie sie Vorträge halten, sondern das Netzwerken und den Smalltalk in den Pausen. Ganz wichtig ist auch der richtige Umgang mit den eigenen Ressourcen: Wie promoviere ich und bleibe dabei gesund? Und im Karriereworkshop geht es um Fragen, wie ich meine berufliche Karriere erfolgreich plane oder mich bei Gehaltsverhandlungen gut verkaufe. Eine Sorge vieler Mentees ist zum Beispiel, für den Arbeitsmarkt außerhalb der Wissenschaft überqualifiziert zu sein. 

 

Frau Kolwes, was hat das Mentoring-Programm mit Ihnen persönlich zu tun?

 

Sehr viel! Meine Eltern haben nicht studiert, dieses Fremdsein, von dem ich vorhin sprach, habe ich in meinem Studium sehr stark empfunden, in der Promotion noch mehr. Gemeinsam mit anderen Doktorandinnen der ersten Generation habe ich dann einen Verein namens Erste Generation Promotion e.V. gegründet, wir wollten uns gegenseitig unterstützen und die Erfahrung, die wir sammeln, systematisch weitergeben. Als Kind von Nicht-Akademikern an der Uni zu sein, das ist Teil meiner Identität, das hatmeine ganze bisherige Karriere maßgeblich geprägt. Die damalige Kölner Prorektorin für Gleichstellung und Diversität hat die Arbeit unseres  Vereins kennengelernt und fand das Mentoring so gut, dass sie gesagt hat: Das wollen wir institutionalisieren. So entstand das Programm 2017.

 

Und das ist jetzt institutionalisiert?

 

Wie man es nimmt. Im Augenblick finanzieren wir uns aus Mitteln des Hochschulpakts, doch der läuft Ende 2021 aus. Was danach kommt, kann ich noch nicht sagen. Was mir Hoffnung gibt: Die Universität zu Köln hat das Thema Bildungsgerechtigkeit als Schwerpunktthema erkannt. So gibt es zum Beispiel ein Programm, um mehr Erstakademiker*innen vermehrt als Studentische Hilfskräfte anzustellen. Die Statistik zeigt nämlich, dass die Wahrscheinlichkeit, dass jemand promoviert, signifikant steigt, wenn er oder sie vorher einen Hilfskraftstelle hatte. Wir brauchen mehr Programme, die den Promovierenden der ersten Generation die Angst vor dem persönlichen Scheitern nehmen. Wobei es manchmal schon auch paradox ist: Wir geben den Teilnehmenden Tipps, wie sie in dem hochselektiven System Wissenschaft klarkommen und sich bestmöglich anpassen können. Doch eigentlich müsste sich das System für sie ändern.   

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Kommentare: 1
  • #1

    Wolfgang Weiler (Freitag, 10 Januar 2020 10:43)

    Sehr geehrte Frau Kolwes,
    als Kind aus bildungsfernem Haushalt kann ich die Kluft, die außerhalb erworbenem Wissen und Erfahrung vorhanden ist, nur bestätigen. Das bleibt eine Konstanze über den gesamten Lebensweg. Ich bin in den 70ern über den zweiten Bildungsweg, einem FH-Studium und glücklichen Konstellationen zum Schluss in einem Unternehmen mit sehr hohem Anteil promovierter Mitarbeiter und "Vollakademiker" meiner Generation tätig gewesen. Fachlich okay, aber im außerberuflichen Kontakt waren unterschiedliche Herkunft - auch historischer familiärer Wohlstand und sehr verschiedene Lebenserfahrungen kaum überbrückbar.
    Ich wünsche Ihnen viel Erfolg!
    Mit freundlichen Grüßen