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Dynamik über Nacht

Warum plötzlich 60 Prozent der deutschen Unternehmen als innovativ gelten – und warum Wirtschaftsminister Peter Altmaier deshalb ein Problem hat.

ES IST EIN gewaltiger Sprung. Am Dienstag haben die Wirtschaftsforscher vom ZEW Mannheim ihre Innovationserhebung 2019 veröffentlicht, wie jedes Jahr im Auftrag des Bundesforschungsministeriums, und besonders eine Zahl stach ins Auge: Der Anteil der innovativen Unternehmen in Deutschland, die sogenannte Innovatorenquote, ist von 36 Prozent 2017 auf über 60 Prozent 2018 gestiegen. Innerhalb eines Jahres wohlgemerkt. Sie alle haben, so das ZEW, im "zurückliegenden Dreijahreszeitraum neue oder verbesserte Produkte oder Prozesse eingeführt". Deutschland in der Innovationskrise? Von wegen!

 

Nach dem ersten Augenreiben folgt freilich die Ernüchterung. Die vermeintliche Dynamik ist fast ausschließlich die Folge einer Methodenumstellung. Mit dem Berichtsjahr 2018 sei die Definition von Innovationen an den neuen internationalen Standard angepasst worden, erläutert das ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung. "Insbesondere wurden Prozess- innovationen weiter abgegrenzt als bisher und die Erfassung von Innovationen im Zusammenhang mit der Digitalisierung verbessert." Daneben zählt das von OECD und Eurostat entwickelte "Oslo Manual", dem die ZEW-Innovationserhebung 2019 erstmals folgt, jetzt auch Neuerungen beim Marketing und der Unternehmensorganisation mit. Womit sich plötzlich deutlich mehr Unternehmen als Innovatoren brüsten dürfen: gut 181.000. 

 

Der Vergleich mit früheren Jahren funktioniert
nur teilweise, warnen die Forscher

 

Was bedeuten die Zahlen denn dann praktisch? Das ZEW hat die neue Methode zurückgerechnet und kommt im Zeitverlauf auf folgende Werte. 2008: 69,5 Prozent. 2016: 56,3 Prozent. Und 2018 eben: 60,5 Prozent. Da Zurückrechnungen, wie die Wirtschaftsforscher erläutern, nur eingeschränkt funktionieren und noch dazu lediglich für gerade Jahreszahlen möglich sind, gibt es keinen direkten Vergleich mit dem Vorjahr. Insgesamt aber entsteht der Eindruck eines recht rasanten Abstiegs in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrzehnts – und einer Erholung in den vergangenen Jahren.

 

Um die deutsche Performance auch international einzuordnen: Laut OECD lag die Bundesrepublik in den Jahren 2014 bis 2016 im oberen Mittelfeld bei der Innovatorenquote – und beim Anteil der Beschäftigten in innovativen Firmen sogar noch besser. Was auf die typisch deutsche Unternehmensstruktur hinweist: Die meisten Neuerungen entstehen in den Großkonzernen, vor allem in der Elektro-, Chemie- und Pharmaindustrie und im Maschinenbau, während der Mittelstand, den Politiker gern als Rückgrat der deutschen Wirtschaft preisen, eher unterdurchschnittlich innovativ ist. 

 

Entsprechend kommen aus der Ecke des Mittelstands auch die kritischsten Stimmen. Zum Beispiel von der Zuse-Gemeinschaft, in der sich 75 private Industrieforschungseinrichtungen zusammengeschlossen haben. Kontinuierliche Innovation erfordere einen Mix aus Projektforschung und direkter Kooperationen mit Unternehmen, sagt Zuse-Sprecher Alexander Knebel.  "Davon brauchen wir mehr, wie die Innovationserhebung nahelegt." Gerade bei den kleinen und mittleren Unternehmen verharre die Quote der innovativen Unternehmen "auf viel zu niedrigem Niveau – trotz stark gestiegener Forschungsausgaben." 

 

Setzt die Bundesregierung zu sehr auf die Großunternehmen und die klassischen Forschungsorganisationen wie Helmholtz & Co? Die Zuse-Gemeinschaft jedenfalls fordert einen eigenen Haushaltstitel für die gemeinnützige Forschung privater Institute.

 

Bleibt ein Kuriosum. Das Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) hat in seiner erst Ende 2019 veröffentlichten Mittelstandsstrategie als Ziel eine Innovatorenquote von 40 Prozent bis 2025 ausgegeben. Und wie lautet nun das neue Ziel? Sein Ministerium kann es auf Nachfrage nicht so genau sagen und antwortet etwas wolkig: "Unabhängig von der neuen Berechnung und Methodik" bleibe es ein wichtiges politisches Ziel, "die Innovarorenquote zu steigern. Diese Zielsetzung ist nach wie vor richtig und wichtig." Und: "Je mehr Unternehmen sich am Innovationsgeschehen beteiligen, desto besser."

 

Klingt etwas hilflos, genau wie der Hinweis, die Innovatorenquote sei "nur einer von mehreren Aspekten, die unsere technologieneutrale und auf den Mittelstand konzentrierte Innovationspolitik im Blick hat." Alles richtig. Nur ist soeben die plakative 40-Prozent-Marke flöten gegangen. 

 

Karliczek: Die Agentur für
Sprunginnovationen wird helfen

 

Was die Innovationserhebung 2019 sonst noch zeigt: 2018 gaben die deutschen Unternehmen 172,6 Millionen Euro für Innovationen aus, 4,1 Prozent mehr als 2017, aber die Dynamik lässt nach: 2019 erhöhten sich die Ausgaben nur noch um 3,6 Prozent, für 2020 geht das ZEW nur noch von zwei Prozent mehr aus. Die Unternehmen hätten mit zwei großen "Hemmnissen" zu kämpfen, berichtet das Institut. Erstens fehle es an geeignetem Person, jedes dritte Unternehmen habe 2018 wegen fehlender Fachkräfte auf Innovationsaktivitäten verzichten, sie vorzeitig einstellen müssen oder nur mit Verzögerung umsetzen können. Zweites Problem: Die Finanzierung. Jedes vierte Unternehmen meldete laut Erhebung "einen Mangel an internen Finanzmitteln für Innovationen, jedes fünfte findet keine geeigneten externen Geldquellen". 

 

Bundesforschungsministerin Anja Karliczek (CDU) verwies auf die neu eingeführte steuerliche Förderung von Forschung und Entwicklung. Sie werde die Finanzierungsmöglichkeiten gerade für kleine und mittlere Unternehmen erhöhen. "Mit der Agentur für Sprunginnovationen wollen wir dafür sorgen, dass künftig bahnbrechende Erkenntnisse aus der Wissenschaft zu Produkten werden, mit denen unsere Unternehmen auf den Weltmärkten erfolgreich sind."

 

Die Innovationserhebung wird vom ZEW seit 1993 in Zusammenarbeit mit dem Institut für Angewandte Sozialwissenschaft (infas) und dem Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung durchgeführt.

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