Immer mehr Länder verfügen die Komplettschließung von Kitas und Schulen. Die Kultusminister erleben, wie sie von den politischen Entwicklungen überrollt werden.
Bald leere Schulhöfe bundesweit. Foto: pixnio - cco.
LANGE HABEN SIE es nicht wahrhaben wollen. Noch gestern stemmten sich die Kultusminister gegen drohende bundesweite Schulschließungen, ließen durchblicken, dass sie nicht von der Sinnhaftigkeit eines solchen Schrittes überzeugt waren. In ihrem gestern Nachmittag in der Kultusministerkonferenz (KMK) gefassten Beschluss zum "Umgang mit dem Coronavirus" ist von allerlei Maßnahmen die Rede – allesamt für den Fall dass die Schulen grundsätzlich offenbleiben.
Dabei war spätestens seit Mitte der Woche klar, dass der gesellschaftliche Erwartungsdruck, in der Krise Handlungsstärke zu zeigen, bald übermächtig werden würde. Und unter Handlungsstärke verstehen die meisten derzeit eben drastische Maßnahmen – und nicht differenzierte, stufenweise Antworten.
Die drastischsten Maßnahmen sind
nicht automatisch die sinnvollsten
Damit ist nicht gesagt, dass die drastischsten Maßnahmen automatisch die sinnvollsten sind zum jetzigen Zeitpunkt. Die Virologen und Gesundheitsexperten sind sich – im Gegensatz zur öffentlichen Meinung – selbst nicht einig, ob die Komplettschließung von Kitas und Schulen im ganzen Land zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt angebracht ist.
Christian Drosten von der Charité zum Beispiel widersprach erst heute Morgen per Twitter Medienberichten, er habe seine ablehnende Meinung diesbezüglich geändert. "Ich sage, dass Schulschließungen sehr gut wirken. ABER: Ich spreche dabei über die Spanische Grippe. Unsere Situation ist anders!" Ähnlich äußerte sich der Vorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, im Inforadio vom RBB: Schulschließungen seien nur in Regionen vernünftig, in denen die Krankheit verstärkt auftrete.
Abwägende Stimmen wie diese und vor allem das Votum des Robert-Koch-Instituts meinte Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe (SPD), als er gestern in einer kurzfristig einberufenen Corona-Pressekonferenz der KMK sagte: Er und seine Kollegen seien sich einig, den Rat der Experten weiter zum "Maßstab unseren Handelns" zu machen. Gleichzeitig ahnten Rabe und Co jedoch, auch das war gestern herauszuhören, dass ihre Chefs, die Ministerpräsidenten anderen Rationalitäten folgen würden. Dass sie beabsichtigten, die öffentlich geforderte Handlungsstärke zu beweisen – zur Not auch unabhängig von dem, was die Experten sagen.
Die Kultusminister haben
sich verkalkuliert
Und genau hier haben sich die Kultusminister verkalkuliert. Anstatt die Lage realpolitisch einzuschätzen und proaktiv generelle Schließungen zu beschließen, haben sie sich das Heft des Handelns aus der Hand nehmen lassen – und wirken nun zögerlich und unkoordiniert. So zögerlich und unkoordiniert, dass viele schon wieder das Lamento über den unfähigen Bildungsföderalismus anstimmten.
Dass die Kultusminister gestern eine auch jetzt noch inhaltlich gut begründete Haltung einnahmen, dass ihr gestern beschlossener Maßnahmenplan gut durchdacht war, fällt dabei unter den Tisch. Warum? Weil die Kultusminister schon da nicht die Zeichen der Zeit erkannt hatten. Weil sie nicht akzeptieren wollten, dass es jetzt auch um Symbolpolitik geht. Und dass ihre Ministerpräsidenten, einer nach dem anderen, dieser und nur dieser Logik folgen würden.
Wie anders wäre es gewesen, wenn die Kultusminister rechtzeitig vor ihren Chefs vereinbart hätten, den Unterricht bundesweit zum selben Zeitpunkt auszusetzen – mit einer Vorwarnzeit von einigen Tagen statt schon zum kommenden Montag, damit die nötigen Not-Betreuungsmaßnahmen getroffen werden können. Stattdessen geht jetzt alles Knall auf Fall, was die Lage für die betroffenen Familien noch schwieriger macht, und jedes Land trifft seine eigene Entscheidung, was den Druck auf die verbliebenen, ebenfalls zu schließen, immer weiter verstärkt.
Trotzdem, und das ist die vielleicht größte Ironie an der Sache, stehen die Chancen gut, dass die Kultusminister, die sich politisch verkalkuliert haben, inhaltlich Recht behalten werden mit ihrer vorsichtigen Haltung. Und zwar in gleich mehrfacher Hinsicht.
Erstens: Die generelle Schließung von Kitas und Schulen ist die "Golden Bullet", mehr geht nicht. Wenn sie verschossen ist, bleibt keine Eskalationsmöglichkeit mehr im Bildungswesen. Und das, obwohl einige Virologen (nicht alle!) sagen, dass die Komplett-Schulschließungen möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt viel notwendiger gewesen wären. An dieser Einschätzung ändert auch nicht der Hinweis, dass viele andere Staaten in Europa doch auch so verfahren seien.
Zweitens: Die Abwägung zwischen dem Nutzen einer generellen Schließung zum jetzigen Zeitpunkt und den Einschränkungen im Staats- und Wirtschaftsbetrieb, wenn Millionen Arbeitnehmer zwecks Kinderbetreuung zu Hause bleiben müssen, fällt nicht zwangsläufig so aus, dass damit das Virus zum jetzigen Zeitpunkt effektiver eingedämmt wird.
Und drittens: So, wie jetzt die öffentliche Meinung nach drastischen Maßnahmen verlangt, ist absehbar, dass die öffentliche Meinung in einigen Wochen genauso heftig nach Normalisierung rufen wird. Nach dem Motto: Wir können doch nicht auf Dauer alles zusperren. Und unsere Kinder müssen wieder zur Schule gehen! Womöglich ist genau das aber der Zeitpunkt, zu dem die Infektionszahlen überall im Land ein Maß erreicht haben, bei dem die generellen Schließungen – die "Golden Bullet" – am sinnvollsten wären. Es ist nicht auszuschließen, dass dieselben Ministerpräsidenten, die jetzt die Schließung anordnen, dann ihre Kultusminister anweisen, die Einrichtungen wieder zu öffnen – um die ersehnte Normalität und wiederum "Handlungsfähigkeit" zu zeigen.
Wer jetzt vorschnell über die wieder mal zögerlichen Kultusminister den Kopf schüttelt, sollte solche Erwägungen mitbedenken. Man kann sie für falsch halten. Aber anerkennen sollte man sie schon. Womit die Kultusminister jedoch leben müssen: dass sie den Punkt verpasst haben, selbst Handlungsfähigkeit zu beweisen.
Alle Bundesländer haben die generelle Schließung von Kitas und Schulen beschlossen. Die aktuellen Entscheidungen und Entwicklungen finden Sie hier.
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JTK (Freitag, 13 März 2020 17:18)
Zum Glück hat sich am Ende dann doch die Vernunft durchgesetzt, und Schulen und Kindergärten werden JETZT geschlossen.
Längeres Zögern hatte perspektivisch erheblich mehr Infizierte nach sich gezogen (und damit mehr Tote), anschaulich dazu https://medium.com/@tomaspueyo/coronavirus-act-today-or-people-will-die-f4d3d9cd99ca)
Jakob Wassink (Samstag, 14 März 2020 15:01)
Vielen Dank für die Darstellung, insb. der Position der Kultusminister. Ich habe das Gefühl, dass solche zurückhaltenden, differenzierenden Positionen in der von der kriegerischen Rethorik z.B. der Bundeskanzlerin und des Ministerpräsidenten von NRW geprägten öffentlichen Wahrnehmung nicht mehr vorkommen. Diese Maßnahme wird die Ausbreitung des Virus nicht nennenswert verlangsamen, bringen aber viele insb alleinerziehende, berufstätige Eltern in erhebliche Schwierigkeiten.
Working Mum (Sonntag, 15 März 2020 14:43)
Die Schulschließungen sind i.W. Symbolpolitik, deren Folgen jetzt die berufstätigen Eltern zu tragen haben. Mein Mann und ich arbeiten beide bei Bundeseinrichtungen, dürfen aber nicht einmal im Homeoffice arbeiten, obwohl zumindest mein Arbeitsplatz dafür geeignet wäre. Da frage ich mich, wo denn da die in Sonntagsreden beschworene Solidarität bleibt?