Die Politik will in der Corona-Krise Handlungsstärke beweisen, dabei warnen inzwischen sogar Virologen vor zu vielen Beschränkungen. Doch die nötige gesellschaftliche Debatte wird weggedrückt.
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ALEXANDER KEKULÉ GEHT ES gerade ein bisschen wie dem Zauberlehrling. Er kämpft mit den Geistern, die er rief. Heute Morgen twitterte der Virologe: "Eine bundesweite #Ausgangssperre wäre epidemiologisch unbegründet, wirtschaftlich desaströs und eine soziale Katastrophe." Es gebe weniger einschneidende, aber genauso wirksame Mittel.
Kekulé ist am Universitätsklinikum Halle (Saale) Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie. Bis vor einer Woche gehörte er zu jenen Fachleuten, die von der Politik endlich entschiedenes Handeln und immer härtere Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus forderten. Doch seitdem hat sich zwischen Bund, Ländern und vielen EU-Staaten eine Eskalationsspirale in Gang gesetzt, die dem Motto folgt: Wer legt noch einen drauf?
Und tatsächlich haben heute Mittag die Ministerpräsidenten von Bayern und dem Saarland einseitig "landesweite Ausgangsbeschränkungen" verkündet, wie es auf der Spiegel-Website heißt. Ausgangsbeschränkungen klingt noch nicht ganz so schlimm wie Ausgangssperre, ist aber nicht weit weg davon. Es ist absehbar, dass die nächsten Bundesländer folgen werden. Warum? Weil, siehe oben, die Spirale sich dreht und, was auf eine gewisse Weise noch verstörender ist als der Aktionismus der Politik, immer mehr Bürger dies auch fordern. Aus Angst, aus Verunsicherung, vielleicht aus der Hoffnung, in vermeintlich starken Aktionen starker Männer ein wenig Halt zu finden angesichts der Krise.
Hört noch jemand auf Stimmen
wie die von Kekulé oder Esken?
Die SPD-Chefin Saskia Esken kommentierte den Trend vor einer Stunde ebenfalls besorgt: "Ist das jetzt der Wettbewerb um die entschlossenste Ordnungspolitik?", schrieb sie. "Ich bin überzeugt: Als freiheitliche Gesellschaft brauchen wir keine Ausgangssperre. Die meisten Menschen verhalten sich vernünftig, verantwortungsvoll und solidarisch. Das sollten wir nicht gefährden!" Doch hört noch jemand auf Stimmen wie die von Kekulé und Esken?
Ausschlaggebend für die Entscheidungen der Politik müssten vier Fragen sein:
1. Welche Maßnahmen wirken als Eindämmung tatsächlich – und wer sagt das? Politiker? Virologen? Epidemiologen?
2. Welche Maßnahmen wirken womöglich (etwas), führen durch ihre kompromisslose Härte, das soziale Leben immer stärker lahmzulegen, aber in ein paar Wochen zu massiven Gegenreaktionen – zu einem öffentlichen Aufbegehren? Dem die Politiker dann wiederum vorauseilend folgen und aus Angst vor dem gesellschaftlichen Druck auch andere weitaus wichtigere Beschränkungen gleich mit aufheben?
3. Welchen langfristigen Schaden nehmen die Grundrechte in unserem Land, wenn es in dieser Krise dazu kommt, dass auch in Bezug auf sie plötzlich gilt: Der Zweck heiligt die Mittel?
4. Müssten wir bei allen Szenarien weiterer langfristiger Einschränkungen und möglicher Ausgangssperren neben dem möglicherweise begrenzten Nutzen nicht viel stärker auch die wirtschaftlichen und sozialen Folgen abwägen, wie Kekulé es zu Recht nahelegt? Konfrontieren sich Politiker im Krisenmodus mit der Tatsache, dass diese Folgen desaströs, katastrophal werden könnten – und möglicherweise genauso gefährlich für das Wohl vieler Menschen wie das Virus?
Die gesellschaftliche Debatte wegzudrücken,
ist gefährlich und nicht nötig
Wir bräuchten zurzeit dringend eine gesellschaftliche Debatte über diese und weitere Fragen, doch die findet (fast) nicht statt. Sie wegzudrücken mit dem Argument, jetzt müsse alles ganz, ganz schnell gehen, Gefahr in Verzug und so weiter, ist gefährlich, antidemokratisch und noch dazu unnötig. Es geht hier ja nicht um monatelange Diskurse. Aber um ein Innehalten, ein sich Vergewissern. Ein Abwarten, ob die ergriffenen Maßnahmen etwas bringen. Ob sich das an den Zahlen ablesen lässt. Zu den Zahlen komme ich später noch.
Auch die allgegenwärtigen Versprechungen, der Staat werde allen Branchen und Unternehmen, die in existentielle Notlagen geraten, mit Milliarden und Abermilliarden unter die Arme greifen, sind irreführend und verleiten zum Abnicken – dabei bräuchte es dazu erstmal einen Staat, der nach einem absehbaren Einbruch der Wirtschaftsleistung, wie es ihn seit Gründung der Bundesrepublik nicht gab, noch ausreichend finanzstark ist.
Alles Gründe zum rationalen Debattieren. Doch droht zu der politischen Eskalationsspirale zunehmend auch eine Schweigespirale zu kommen. Gut, dass es zuletzt mehr Stimmen gab wie die oben zitierten, die trotzdem fragen, warnen, zu denken geben.
Zur Verantwortung von Wissenschaftlern und Wissenschaftsjournalisten gehört in diesen Zeiten deshalb ganz besonders, soweit wie möglich mit Fakten zur Versachlichung beizutragen. Denn auch das ist die Voraussetzung für eine rationale Entscheidungsfindung.
Die Wissenschaft muss die
Infektionsstatistiken besser erklären
Das vielleicht beste Beispiel: der Umgang mit den Infektionszahlen. Wir wissen inzwischen, dass die Länder weltweit sehr unterschiedlich viele Corona-Infektionstests durchführen. Laut Spiegel gab es zum Beispiel in Deutschland allein in der Kalenderwoche 11 mehr als 100.000 Tests, in Großbritannien insgesamt bislang 56.000. Was bedeutet, dass die deutschen Zahlen in keiner Weise mit den britischen vergleichbar sind. Sind sie vergleichbar mit den italienischen und den dortigen Testhäufigkeiten? Mit den französischen? Fest steht: Offiziell liegt Deutschland bei den Infektionszahlen mit 16.290 (Stand 14 Uhr) mittlerweile weltweit auf auf Platz 5, Frankreich liegt bei knapp 11.000, Großbritannien bei 3300. Aber: Tote gab es in Deutschland bislang 44, in Frankreich 371, in Großbritannien 145.
Was sagt uns das? Dass die Leute in Deutschland widerstandsfähiger sind? Nein: dass die Dunkelziffern in Frankreich oder in Großbritannien deutlich höher sein dürften. Dass Deutschland in Wahrheit weniger weit auf der Kurve ist, weil die Infektionen sich hier später massiv ausgebreitet haben. Dass die Zahlen in Deutschland zurzeit so viel schneller klettern als in vielen anderen Ländern, dürfte also mindestens zwei Ursachen haben: dass die Pandemie bei uns erst jetzt tatsächlich stark voranschreitet. Und – genauso wichtig – dass Deutschland trotz aller Unzulänglichkeiten immer zahlreicher testet.
Zurück zur Aufgabe von Wissenschaftlern und Wissenschaftsjournalisten. Damit in der jetzigen Situation politisch angemessen reagiert wird, müssten sie vermitteln: Lasst diesen irreführenden Vergleich mit den internationalen Infektionszahlen. Und verlasst euch auch nicht auf das Wachstum der nationalen Infektionszahlen. Schaut stattdessen auf zwei Werte: Wie stark steigt die Zahl der in den Krankenhäusern und Intensivstationen Behandelten in Deutschland? Wie stark steigt die Zahl der Toten?
Doch dazu müsste man die Statistik der in Krankenhäusern und Intensivstationen Behandelten natürlich auch kennen, und tun wir das? Falls nicht, rechtfertigt das jedenfalls nicht, die Infektionszahlen als Ersatzindikator zu nehmen. Die werden durch die vielen Tests statistisch auch dann dynamisch weiter ansteigen, falls die ergriffenen Eindämmungsmaßnahmen greifen sollten. Und falls tatsächlich weitere Maßnahmen nötig sind, wird sich dies ebenfalls an den Infektionszahlen nicht verlässlich ablesen lassen.
Die Aufgabe der Wissenschaft ist auch, eine angemessene Grundlage zum politischen Handeln zur Verfügung zu stellen. Oder zumindest zu sagen, worin diese nicht besteht.
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Statistar (Freitag, 20 März 2020 18:21)
Jede Statistik muss erläutert werden, und wer sich informieren will, findet die Erklärungen. Sie werden zuhauf angeboten, aber jede(r) sucht sich diejenige, die ins Weltbild passt. Und jede(r) interpretiert sie entsprechend passend. Inzwischen sollte klar sein, dass die Statistiken stets nur eine Momentaufnahme abbilden, die in zwei Stunden überholt sien kann.
Maik Eichelbaum (Freitag, 20 März 2020 20:05)
Als Nichtvirologe oder -epidemiologe müssen wir uns wie bei allen wissenschaftlichen Themen, die nicht zu unserem Spezialgebiet gehören, auf die Aussagen der Fachexperten verlassen. (Und auch die ändern sich derzeit schnell, weil für uns alle diese Situation kaum fassbar ist.) Es ist jedoch nicht seriös, sondern tendenziös, wenn nur einzelne persönliche Meinungen zitiert werden. Zumal ist eine vielleicht aus dem Zusammenhang gerissene Twittermeldung zumindest für mich keine wissenschaftlich ernstzunehmende Stellungnahme. Und bei allem Respekt, auch eine Frau Esken darf ihre Meinung haben, aber ich nehme doch eher wissenschaftlich-sachkundige Stellungnahmen ernst. Die Deutsche Gesellschaft für Epidemiologie schreibt in ihrer aktuellsten Stellungnahme vom 19. März sehr klar: "Aktuell liegt ein kurzes Zeitfenster vor, in dem die Entscheidung zwischen Eindämmung und Verlangsamung der Infektionsausbreitung noch ohne Überlastung des Gesundheitssystems erfolgen kann. In beiden Fällen ist eine konsequente Umsetzung für einen längeren Zeitraum notwendig." und weiter "Wir unterstützen die Maßnahmen, die bereits von der Bundesregierung umgesetzt wurden, und wir mahnen an, kritisch die Umsetzung weiterer Maßnahmen zu prüfen." Ich kann es auch nicht mehr hören, dass sich die Wissenschaft besser erklären müsse. Viel mehr als derzeit die Virologen und Epidemiologen am RKI, an der Charité usw., auch Herrn Kekulé mit seinen Talkshowauftritten zähle ich dazu, öffentlich auf- und erklären, kann doch kaum gemacht werden. Was ist denn dann noch die Funktion der Wissenschaftsjournalisten? Bitte nicht vergessen, dass die Hauptaufgaben der Wissenschaftler immer noch Wissenschaft und Forschung sind.
Ich finde zudem solche pauschalen Aussagen wie "Doch die nötige gesellschaftliche Debatte wird weggedrückt." schwierig, denn das sehe ich nicht. Es wirkt mit Verlaub ein wenig verschwörungstheoretisch, zumindest ohne weiteren Nachweis, worauf sich diese Aussage bezieht. Ihre Erklärungen zur Interpretation der Infektionszahlen sind mir jedenfalls auch als Nichtmediziner nicht neu, sondern dies kann man so auch in anderen Medien nachlesen oder nachhören.
Es ist aber zugegebenermaßen schwierig, über die ethischen Implikationen eines Verteidigungsangriffs in dem Moment ausführlich debattieren zu wollen, wenn der Feind gerade mit Mann und Maus ins Land einmarschiert. (Natürlich muss dies diskutiert werden und es wird ja auch diskutiert.) Aber das ist jetzt die Stunde des schnellen Handelns und ich bin froh, dass wir Politiker haben, die handlungsfähig sind. Und auch, dass dies offensichtlich viele Menschen in Deutschland ähnlich sehen. Den Vorwurf, meine Hoffnungen auf "vermeintlich starke Aktionen starker Männer" zu setzen, stecke ich gerne weg. Zumal unsere Kanzlerin, wenn schon, dann eine starke Frau ist.
Marco Winzker (Samstag, 21 März 2020 18:14)
Ich finde es ist ein positiver Trend, dass momentan sehr viel auf die Wissenschaft gehört wird. Das war ja in der Vergangenheit nicht immer so. Und dann gibt es natürlich Diskurs zwischen verschiedenen Experten einer Fachdisziplin und zwischen verschiedenen Fachdisziplinen.
Mein Wunsch an die Politk ist es, jetzt mutig zu bleiben. Weiter zuhören, abwägen, Entscheidungen basierend auf den Empfehlungen der Wissenschaft treffen. Nicht sich gegenseitig in Aktivismus übertreffen oder vermeintliche Erwartungen der Wähler überbewerten.